Die Minderheit als Leitkultur

Tourette-Kranke fallen in der Öffentlichkeit durch einen unkontrollierbaren Beleidigungszwang auf. Ein schlimmes Leiden. Glaubt man Experten, tun allerdings immer mehr Menschen so, als ob sie Tourette hätten. Was treibt sie an?

 

Ich habe ein Interview mit einem Tourette-Forscher gelesen. Tourette ist diese eigenartige Krankheit, bei der die Betroffenen den unkontrollierbaren Zwang verspüren, Beleidigungen von sich zu geben oder anzügliche Gesten zu machen. Sie stehen im Supermarkt und rufen unvermittelt „Arschloch“ oder „Wichser“. Manche zucken auch mit dem Kopf oder mit den Armen, was ebenfalls sehr unangenehm sein kann.

In der Öffentlichkeit führten Tourette-Kranke lange eine Randexistenz, das hat sich geändert. Auf der Bühne, im Fernsehen und in den sozialen Medien begegnet man immer öfter Menschen, die an dieser Störung leiden. Oder das jedenfalls von sich behaupten. Der Tourette-Experte Professor Alexander Münchau von der Universität Lübeck berichtete in dem Interview, dass die öffentliche Präsenz auch deshalb zugenommen habe, weil es immer mehr Fälle von „Pseudo-Tourette“ gebe. Eine wachsende Zahl von Menschen würde so tun, als ob sie unter dem Syndrom litten.

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass man Tourette vortäuschen könnte. Was bezwecken die Leute damit? Wenn man Mitleid erregen will, finden sich einfachere Wege, sollte man meinen. Man kann zum Beispiel so tun, als ob man an einem seltenen Gendefekt litte oder an einer Krebserkrankung. Falscher Krebs hat zumindest den Vorteil, dass man nicht dauernd in peinliche Situationen gerät. Ich stelle es mir auch furchtbar anstrengend vor, den ganzen Tag zwanghaft Beschimpfungen ausstoßen zu müssen. Das ist wie Tinnitus, nur dass ihn alle hören. Aber wenn man Professor Münchau glauben kann, finden es manche Menschen so attraktiv, dass sie sogar Videos davon drehen und auf YouTube stellen.

Ich glaube, der eigentliche Kick besteht darin, einer Minderheit anzugehören, in diesem Fall einer sehr exklusiven. Je ausgefallener die Krankheit, desto größer die Anteilnahme. Irgendein Leiden hat heute jeder. Aber eine Störung, bei der man von außergewöhnlichen Tics heimgesucht wird? Da ist einem die Aufmerksamkeit sicher.

Wir leben in minderheitsbewussten Zeiten. Oder sollte man besser sagen: minderheitsbesessenen?

Über Jahrhunderte strebten die Menschen danach, als möglichst normal zu gelten. Vorbei und vergessen. Kaum etwas gilt mittlerweile als so stigmatisierend wie die Zugehörigkeit zur Mehrheit. Wer Durchschnitt ist, also weiß, etwas älter und ohne Vorfahren, die aus fremden Ländern nach Deutschland gezogen sind, sitzt schnell auf der Anklagebank. Es heißt dann, man sei „privilegiert“. Als „privilegiert“ gilt im Prinzip jeder, der nicht mindestens ein Minderheitsmerkmal geltend machen kann. Zur Not geht das weibliche Geschlecht als Ausweis durch, auch wenn Frauen in der Bevölkerung rechnerisch immer noch die Mehrheit stellen. Darüber wird zum Glück hinweggesehen.

Schwer zu sagen, wann der Aufstieg der Minderheit von der Randgruppe zur kulturellen Leitinstanz begonnen hat. Ich erinnere mich noch gut, wie wir in meiner Schulzeit Anfang der achtziger Jahre rosa Winkel an den Parka steckten, um Solidarität mit der gerade erwachenden Schwulenbewegung zu zeigen. Schon als 17-Jährige hatten wir ein waches Gefühl, dass es nicht besonders heroisch ist, wenn man aus einem weißen Mittelschichtshaushalt aus Hamburg-Wellingsbüttel stammt. Da konnte ein Flirt mit dem Leben am Rande der Gesellschaft nicht schaden, auch wenn wir selbst nie auf die Idee gekommen wären, diesem Leben über die Koketterie hinaus näherzutreten.

Eine Minderheit, die heute besonders entschieden auftritt, sind junge, aktivistisch veranlagte Migrant*innen. Der Durchschnittsdeutsche firmiert in diesem Milieu als „Kartoffel“, was man als Kartoffeldeutscher aber nicht persönlich nehmen sollte. Wie bei allen sozialen Gruppen gibt es Unterschiede, auch die Minderheit hat ihre Aristokratie. Die Stellung innerhalb der Gruppenhierarchie bemisst sich nach dem Grad der Exotik. Wer aus Polen stammt, steht eher am unteren Ende der Minderheitenleiter. Polen ist migrationstechnisch das, was der Discounter im Handel ist: ehrlich, aber unsexy. Deutlich besser sieht es aus, wenn man auf einen türkischen oder arabischen Elternteil verweisen kann. Die Stars der Bewegung hingegen sind die POC.

Ich fürchte, nicht wenige Leser werden das für ein exotisches Gemüse halten, wie sie es in der asiatischen Küche verwenden. Da sich diese Kolumne der Aufklärung verpflichtet fühlt, deshalb der Hinweis: POC steht für „People of color“. Ich weiß, was der eine oder andere jetzt einwenden will: Der Verweis auf die „Farbe“ von Menschen klingt fragwürdig, nur sehr alte Menschen sprechen heute noch von „Farbigen“. Aber so ist es jetzt entschieden. Wer ganz korrekt ist, sagt übrigens POCI – People of color and indigenous origin, also Personen von Farbe und ursprünglicher Herkunft.

Um als Minderheitenfeind zu gelten, ist es völlig unerheblich, für wie aufgeschlossen man sich selbst hält. Im Gegenteil: Wer seine rassistischen Einstellungen leugnet, zeigt dadurch nur, wie tief diese verankert sind. Als wegweisend kann hier ein Buch der Journalistin Alice Hasters gelten, das in der Szene gerade gefeiert wird und den Titel „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen“ trägt. Die Lösung, die die Autorin darin anbietet, ist so einfach wie naheliegend: Erst wenn alle weißen Deutschen anerkennen, dass sie Teil eines rassistischen Systems sind, wird der Weg frei zu einer Welt ohne Rassismus.

Theoretisch strebt jede Minderheit danach, Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft zu finden. Der Grundgedanke der Emanzipation ist ja, dass man seine Sonderexistenz aufgibt und im wahrsten Sinne Mainstream wird. Leider verliert man damit auch die Vorteile, die der Minderheitenstatus mit sich bringt.

Ein Kollege von mir ist knallschwul. Er hat nie ein Hehl aus seiner sexuellen Orientierung gemacht. Trotzdem würde er nie sagen, er sei deshalb nicht Ressortleiter geworden, weil er schwul ist. Das ist für mich Emanzipation: Wer sich als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft empfindet, wird den Grund für Rückschläge oder Karriereenttäuschungen in der Gemeinheit seiner Vorgesetzten sehen, vielleicht auch in persönlichen Defiziten, aber jedenfalls nicht in der Vorurteilsstruktur des Systems, das ihn nicht hochkommen ließ, weil er anders ist.

Es ist sicher kein Zufall, dass sich das Bild der Schwulen in der linken Szene verändert hat. Viele Schwule sind wie mein Kollege: weiß, relativ gut verdienend, körperbewusst und, was die Masseneinwanderung junger Männer aus extrem schwulenfeindlichen Gesellschaften angeht, ziemlich skeptisch. Auf die Solidarität der linken Mitstreiter von einst kann mein Kollege nicht mehr setzen, tatsächlich gelten Leute wie er als Verräter.

Es gibt für Schwule wie ihn ein neues Schimpfwort, wie ich gelernt habe. Man spricht im progressiven Milieu vom „Homonationalismus“. Klingt noch schlimmer als Nationalismus. Wie gut, dass ich nur weiß und privilegiert bin.

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