Monat: Juni 2020

Die Anti-Hate-Speech-Industrie

Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich eine florierende Branche entwickelt, die Millionen an Staatsgeldern für den Kampf gegen Hasskommentare einnimmt. Dumm, wenn man da selbst als Hate-Speech-Produzent auffällt

Das gute Deutschland hat eine neue Heldin. Sie heißt Hengameh Yaghoobifarah und ist freie Mitarbeiterin der Berliner Tageszeitung „taz“. Am Wochenende sah es so aus, als ob ihre Karriere einen Knick erlitten hätte. Da war von ihr eine Kolumne erschienen, in der sie darüber nachsann, ob es nicht das Beste sei, Polizisten auf die Müllkippe zu „ihresgleichen“ zu schicken.

Das war selbst für „taz“-Verhältnisse ein ungewöhnlicher Vorschlag. Es ist noch nicht lange her, dass die Zeitung in einem Artikel erklärte, dass eine Gesellschaft am Ende sei, wenn Menschen zu Abfall erklärt würden. Entsprechend groß war die Aufregung in und außerhalb der Redaktion.

Aber dann kündigte Innenminister Horst Seehofer eine Klage wegen Beleidigung an. Seitdem ist die Welt wieder in Ordnung. Jetzt gilt die Causa Yaghoobifarah als Beweis, wie schnell auch in Deutschland die Pressefreiheit gefährdet sein kann. Der Deutsche Presserat schaltete sich ein. Auf change.org ging eine Solidaritätsadresse online, die binnen Stunden von 1000 Leuten unterschrieben wurde, darunter der Fernsehmoderator Jan Böhmermann, die Seenotretterin Carola Rackete und überhaupt so ziemlich jeder, der in der linken Celebrity-Welt eine Rolle spielt.

Ich halte es für eine große Eselei, als Politiker eine Journalistin wegen einer Kolumne verklagen zu wollen, ich muss es leider so sagen. Die Klage hätte noch nicht mal Aussicht auf Erfolg gehabt. Die Meinungsfreiheit ist in Deutschland weit gesteckt: Man darf bei uns auch sagen, dass Soldaten Mörder seien oder alle Politiker korrupt, ohne dass es rechtliche Konsequenzen hätte. Man dürfte sogar behaupten, dass Journalisten Fünf-Mark-Nutten sind. Die Beleidigung stammt von Joschka Fischer, was ihm komischerweise nie jemand wirklich übel genommen hat. Bei Grünen drückt man in deutschen Redaktionen beide Augen zu.

Ich habe seit Längerem den Eindruck, dass Seehofer den Überblick verloren hat. Berlin tut ihm nicht gut. Wie man hört, verlässt er sein Ministerium nur, wenn es nicht anders geht. Er isst und schläft dort. Neben seinem Schreibtisch steht ein Feldbett, damit er auch nachts nicht aus dem Haus muss. Man sieht ihm an, dass er nicht mehr der Alte ist. Seine Augen haben so einen merkwürdig gehetzten Ausdruck, wie bei jemandem, der Stimmen hört. Gibt es keine Fürsorgepflicht der Kanzlerin? Ich finde, sie sollte Seehofer sagen, dass er unter Leute muss, raus ins Leben. Zurück nach Bayern, das wäre das Richtige.

Aber dass seine Anzeige ein Anschlag auf die Pressefreiheit sei, wie man lesen konnte? Das halte ich dann doch für etwas übertrieben. In der Türkei oder Ägypten, klar, da würde ich mir als Kolumnist*in auch Sorgen machen, wenn mich der Innenminister verklagt. Aber in Deutschland? Alles, was einem hier droht, ist ein Schwung Talkshoweinladungen. Tatsächlich war die Strafankündigung des Ministers ein Gottesgeschenk für alle Yaghoobifarah-Fans. Man konnte den Seufzer der Erleichterung bis zu mir nach Pullach hören.

Es steht einiges auf dem Spiel. Der etwas unbedachte Polizei-Müll-Text bedroht nicht nur die Reputation der „taz“ als Bollwerk gegen Menschenfeindlichkeit, er gefährdet auch ein relativ erfolgreiches Geschäftsmodell. Alle reden von der hippen Start-up-Szene, aber was den Beschäftigungseffekt angeht, kann die junge Anti-Hate-Speech-Industrie durchaus mithalten.

Unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit hat sich eine florierende Branche entwickelt, die erstaunlich findig darin ist, Texte auf verfängliche Stellen zu flöhen, um diese dann in einer vielfältigen Broschüren- Produktion zu katalogisieren. Es gibt Hate-Speech-Seminare, woran man Hate-Speech erkennt, und Workshops, wie man sich gegen Hate-Speech zur Wehr setzen kann. Auf „Hate-Slams“ werden am Abend die schlimmsten Hasskommentare vorgetragen.

Da ist es natürlich misslich, wenn einer der eigenen Leute damit auffällt, wie er sich genau der Wortwahl bedient, die man an anderer Stelle als verwerflich anprangert. Der Anti-Hate-Speech-Aktivist als Hate-Speech- Produzent? Das ist so wie der Priester, der eine Stelle zur Überprüfung von Texten gegen Unzucht leitet und dann im Bordell beim Absingen besonders schmutziger Reime erwischt wird.

Einige Unterstützer haben es mit dem Hinweis versucht, Menschen mit Migrationshintergrund reagierten aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrungen bei bestimmten Themen nun einmal besonders emotional. Abgesehen davon, dass dieses Argument einen ziemlich rassistischen Beigeschmack hat („Ihr dürft das nicht so ernst nehmen, was Migranten schreiben, die schlagen nun mal leichter über die Stränge“): Es hat nicht wirklich verfangen. Beim Thema Müll versteht der Deutsche keinen Spaß.

Kein freier Journalist kann vom „taz“-Gehalt leben. Es müssen andere Einnahmequellen her. Die verlässlichste ist immer noch der Staat. Man mag auf das kapitalistische System schimpfen, aber wenn es darum geht, seine Segnungen in Anspruch zu nehmen, schwinden alle Vorbehalte. Oder wie es ein Aktivist auf einem Linkspartei-Kongress neulich in bemerkenswerter Offenheit sagte: Es geht darum, Staatsknete abzugreifen, deshalb sei man ja im Parlament.

Wer sich in der Szene einen Namen gemacht hat, darf darauf vertrauen, dass es immer einen Podiumsplatz gibt. Dann sitzt man bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Halle, um über nichtbinäre Geschlechtsidentität Auskunft zu geben, oder bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einem Vortrag zu queer-sozialistischen Perspektiven nach Corona. Oder die „Neuen Deutschen Medienmacher*innen“ buchen einen für einen Kurs zu Hassrede im Netz. So hangelt man sich von Auftritt zu Auftritt. Man wird dabei nicht reich, aber es langt für die 53 Quadratmeter in Kreuzberg-Friedrichshain.

Dass es immer die gleichen Leute auf den immer gleichen Veranstaltungen vor dem immer gleichen Publikum sind, stört niemanden. Im Gegenteil, das ist so gewünscht. Der langjährige Leiter der Böll-Stiftung, Ralf Fücks, hat mir einmal gestanden, dass er gerne mal jemanden eingeladen hätte, der anders ist. Aber jeder Vorschlag einer dissidentischen Stimme wurde schon eine Etage tiefer totgemacht. Das Stiftungs-Publikum ist wie der Abonnement-Stamm der Staatsoper: Der will auch keine Neutöner im Programm.

Finanziell ist die Anti-Hate-Speech-Branche ebenfalls ein Hidden Champion. Die Böll-Stiftung verfügt über einen Jahresetat von 63 Millionen Euro an Steuergeldern (Stand 2018). Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bekommt 64 Millionen von der Finanzkasse des Bundes überwiesen, die Ebert-Stiftung sogar über 170 Millionen. Damit kann man schon einige Leute in Lohn und Brot bringen.

Dazu kommen direkte Zuwendungen der Bundesregierung an die diversen Vereine. Die „Welt“ hat sich neulich die Mühe gemacht, bei den „Neuen Deutschen Medienmacher* innen“ anzufragen, wie es mit der öffentlichen Förderung aussehe. Der Verein war eher schmallippig, ein Gespräch sagte die Vereinsvorsitzende ab. Also wandte sich die Zeitung direkt an die staatlichen Stellen.

Die Zahlen geben einen Einblick, was zu holen ist, wenn man es einmal auf die richtigen Listen geschafft hat. Vom Bundeskanzleramt kommen dieses Jahr 1 012 152 Euro aufs Konto der Berliner Lobbyorganisation. Das Familienministerium ist für ein Projekt namens „Die Würde des Menschen ist unhassbar“ mit 191 896 Euro dabei. Die Bundeszentrale beteiligt sich mit 70 199 Euro, für sieben dreiminütige Videos zum Grundgesetz. Auch Horst Seehofer ist unter den Förderern, mit 89 882 Euro für ein Medientraining. Titel: „Wir sind Gesprächsthema!“

Es spricht, wenn man so will, für die Szene, dass sie sich ohne Wenn und Aber hinter die bedrängte „taz“- Kolumnistin gestellt hat. Solidarität ist ein schöner Zug, erst recht die unbedingte. Solidarität bedeutet allerdings, dass aus einem Einzelfall ein grundsätzliches Problem wird. Das gilt auch für den Vergleich von Polizisten mit Müll.

Lachen Sie noch, oder weinen Sie schon?

Was treibt die jungen Bilderstürmer an, die gegen Denkmäler, Filme und Straßennamen vorgehen? Sie würden sagen: der Rassismus. Eine Theorie hingegen sieht psychische Gründe. Je emotional instabiler ein Mensch, desto größer seine Neigung, sich aufzuregen

Das Problem am Witz ist, dass sich garantiert jemand findet, der sich auf den Schlips getreten fühlt. Oder sollte man besser sagen: auf den Rock? Empörung funktioniert immer, auch mit Verspätung. Selbst wenn der Witz Jahre zurückliegt, kann man sich noch retrograd aufregen.

Im September 1975 nahm die BBC eine Sitcom ins Programm, die in einem Hotel an der Südküste Englands spielte und für jeweils 30 Minuten den Verwicklungen rund um das Hotelbesitzerpaar Basil und Sybil Fawlty, seinen Angestellten sowie den oft exzentrischen Gästen folgte.

„Fawlty Towers“ war sofort ein Hit. Die von dem Monty-Python-Mitbegründer John Cleese und der Drehbuchautorin Connie Booth entwickelte Serie sammelte im Laufe der Jahre so ziemlich jeden Preis ein, den man im Fernsehen gewinnen kann. Sie steht auf der vom Britischen Filminstitut zusammengestellten Liste der 100 besten britischen TV-Programme. 2019 wurde die Serie von einer Jury von Comedy-Experten zur „größten britischen TV Sitcom aller Zeiten“ erklärt.

Ich habe auf die Schnelle nicht herausfinden können, wer in der Jury saß, wahrscheinlich lauter alte weiße Menschen wie John Cleese. So schnell wird es jedenfalls für „Fawlty Towers“ keine Preise mehr geben. Die Macher können froh sein, wenn ihnen die bereits verliehenen Auszeichnungen nicht wieder entzogen werden. Vor eini gen Tagen gab der zur BBC gehörende Streamingdienst UKTV bekannt, dass man eine der Folgen wegen „rassistischer Beleidigungen“ gesperrt habe. Man müsse die Folge einer „Revision“ unterziehen, um sie den heutigen Erwartungen der Zuschauer anzupassen, erklärte ein Sprecher.

In der von UKTV einkassierten Folge haben die Fawltys Gäste aus Deutschland, die laufend mit Anspielungen auf den Krieg gequält werden. Das an sich ist noch kein Grund, die Episode vorübergehend aus dem Verkehr zu nehmen. Die Deutschen sind vermutlich die einzige Nation auf der Welt, die für immer das Recht verloren hat, beleidigt zu sein. Dummerweise gibt es noch eine Nebenfigur, die durch abwertende Bemerkungen über das westindische Cricketteam auffällt. Dass der Mann eine Karikatur des britischen Rassisten ist, taugt nicht als Entschuldigung. Schon die Darstellung von Rassismus fällt heute unter Sendeverbot.

Es gibt im Englischen einen Begriff für die moderne Form des Bildersturms, dessen Zeugen wir werden: Man spricht von Cancel Culture. Alles, was nicht den moralischen Anforderungen genügt, muss den Augen und Ohren entzogen werden. Das können Filme sein. Oder Denkmäler. Oder Straßennamen. Wer glaubt, der Bildersturm gehe an Deutschland vorbei, hält die Grüne Jugend auch für eine Nachfolgeorganisation der Pfadfinder.

In München hat eine Historikerkommission eine Liste mit Namen vorgelegt, die sie als problematisch einordnet, darunter der Franz-Josef-Strauß-Ring. Strauß war einmal in Afrika und hat dort Antilopen gejagt. Außerdem soll er bei der Gelegenheit gesagt haben: „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten.“

Wenn Sie mich fragen, zeugt der Satz eher von einer antirassistischen Gesinnung. Manche Menschen ziehen sich ein schwarzes T-Shirt über, um gegen den Rassismus zu demonstrieren, Strauß hat eine ganze Partei geführt, die schwarz wie die Nacht war. Aber wahrscheinlich läuft das in seinem Fall unter rhetorischem „Blackfacing“. Und das gilt, wie wir wissen, als besonders verwerflich.

Was geht da vor sich? John Cleese hat eine Theorie. Je emotional instabiler ein Mensch sei, desto größer seine Neigung, sich aufzuregen. „Wenn Leute ihre eigenen Emotionen nicht im Griff haben, müssen sie anfangen, das Verhalten anderer zu kontrollieren“, sagte er in einem Interview. Ich glaube, da ist was dran.

Schwache Charaktere neigen zur Identifikation mit dem Stärkeren, deshalb üben Ideologien auf sie einen so großen Reiz aus. Sie sind auch die Ersten, die ihre Loyalität durch besondere Aufmerksamkeit gegenüber Glaubensverstößen unter Beweis stellen. Es sind selten die gefestigten, in sich ruhenden Persönlichkeiten, die überall moralische Verfehlungen wittern-es sind in der Regel die Unglücklichen, vom Schicksal Niedergedrückten und Gebeutelten.

Der Witz wird von fragilen Naturen naturgemäß besonders kritisch gesehen. Erstens wohnt ihm immer ein anarchistisches Element inne, deshalb bringt er einen ja auch zum Lachen. Jeder Witz ist zudem latent subversiv. Nichts fürchten Menschen, die für eine große Sache streiten, mehr als das Gelächter. Moral lebt vom Pathos. Der Witz erinnert daran, dass es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein kleiner Schritt ist.

Mein Verdacht ist, dass der Kampf gegen den Rassismus die Empörungsbereitschaft auch deshalb befördert, weil viele Teilnehmer den Vorwurf fürchten, sie wollten sich in Wahrheit nur auf die Schnelle ein gutes Gewissen verschaffen. Es gibt für diese Form des Protests, der bequem zwischen Yogastunde und Urlaubsplanung passt, ebenfalls schon ein Wort: Slacktivism. Es ist eine Kombination aus „Aktivismus“ und „Slacker“, dem englischen Begriff für „Bummelant“.

#BlackLivesMatter ist zu einem Bekenntnis geworden, das man sich ans Revers heftet wie einen „FCK AFD“-Button oder eine Regenbogenflagge. Man schickt einfach ein paar schwarze Quadrate durchs Internet und hält das für ein wichtiges Zeichen gegen Rassismus. Das wird von den wahren Aktivisten naturgemäß kritisch gesehen, die von den Protestanten mehr innere Beteiligung erwarten. Wer also befürchten muss, als Slacktivist aufzufliegen, verdoppelt die Anstrengungen, das wäre meine Erklärung für die Denkmalstürme, die wir beobachten. Manchmal erwächst der besondere Glaubenseifer auch aus dem Mangel an Engagement.

Ich bin vergangene Woche auf den Dokumentarfilm „Can We Take a Joke“ gestoßen, einen Streifzug durch die amerikanische Comedy-Szene im Zeitalter der Empörung. Es ist ein sehenswerter Film, weil er zeigt, wie schnell die Meinungsfreiheit mit der neuen Kultur der Empfindlichkeit kollidiert. An einer Stelle hat der große George Carlin einen kurzen Auftritt. Er habe immer gedacht, die Zensur drohe von rechts, sagt Carlin. Die größte Überraschung seines Lebens sei es gewesen, festzustellen, dass die Zensur von links komme.

Auch aufseiten der Linken erzählt man sich Witze, so ist es nicht. Ein Witz, den eine „taz“-Autorin diese Woche in ihrer Kolumne gerissen hat, geht so: Wenn man die Polizei auflöst, wie es jetzt von vielen Linken gefordert wird, was macht man dann mit den ganzen arbeitslosen Polizisten? Antwort: Man steckt sie auf die Müllkippe, zum Abfall, da gehören sie schließlich hin.

Ich konnte zugegebenermaßen nicht über den Witz lachen. Ich finde es nicht komisch, Menschen zu Müll zu erklären, da ist für mich eine Grenze überschritten. Die Chefredaktion der „taz“, die sonst in Humorfragen sehr pingelig sein kann, berief sich auf Tucholsky und seinen Satz von der absoluten Satirefreiheit. Ich bin gespannt, ob man nächstes Mal auch so großzügig verfährt, wenn ein Fahrensmann der anderen Seite übers Ziel hinausschießt. Ich vertraue jetzt einfach mal darauf, dass sie sich in der Redaktion der „taz“ dann auch an Tucholsky erinnern.

Die inkriminierte „Fawlty Towers“-Folge soll jetzt übrigens wieder verfügbar sein, ergänzt um den Warnhinweis, dass die Serie „beleidigende Inhalte und Sprache“ enthalte. Ich habe mir vorsichtshalber alle Folgen bei Amazon bestellt, zusammen mit der Komplettbox von „Ein Herz und eine Seele“, dem ARD-Klassiker aus den siebziger Jahren mit dem Sozenhasser und Dauernörgler Alfred Tetzlaff.

Ich nehme an, dass die meisten, die heute gegen Rassismus auf die Straße gehen, nicht wissen, wer „Ekel Alfred“ war. Die Selbstabschottung gegenüber allem, was man ablehnt, hat auch ihre Vorteile. Aber wer weiß. Bevor das suchende Auge der antirassistischen Humorkritik auf die deutschen TV-Bestände fällt, bin ich lieber auf der sicheren Seite.

Hauptsache: betroffen

Bei „Maischberger“ sollen zu Rassismus nur schwarze Menschen reden. Auf den Anti-Rassismus-Demos kursieren „Leitlinien“ für Weiße, ja keine eigenen Parolen zu rufen. Wohin führt das neue Gruppendenken?

Die Redaktion einer Talkshow berät über die Gästeauswahl für die nächste Sendung. Es soll um Donald Trump und seine Verantwortung für die Unruhen in den USA gehen, das Konjunkturpaket der Regierung, die Suche nach einem Corona-Impfstoff. In die engere Wahl geraten: eine Börsenkorrespondentin der ARD, ein Dokumentarfilmer, ein Kolumnist des „FOCUS“. Geladen sind außerdem der deutsche Außenminister und eine Virologin, die eine Firma für Impfstoffe gegründet hat.

Was macht einen guten Talkshowgast aus? Er sollte etwas von der Sache verstehen, über die er spricht – oder jedenfalls so tun können, als verstünde er etwas. Es wäre nicht schlecht, wenn ihn ein paar Leute außerhalb des eigenen Bekanntenkreises erkennen würden. Prominenz hilft der Quote. Vor allem aber sollte der Gast keine Angst vor der Kamera haben und auch sonst nicht auf den Mund gefallen sein, schließlich ist man im Unterhaltungsgeschäft.

Wer um 22 Uhr 45 Menschen dazu bewegen will, den Fernseher anzulassen, ohne vor der Glotze einzuschlafen, muss sich etwas einfallen lassen. Talkshowgäste, die mit langen Vorträgen ihresgleichen beeindrucken wollen, machen sich gut in Parteiveranstaltungen oder dem Seminarraum, im Fernsehen sind sie eher fehl am Platz.

Seit vergangener Woche weiß man, dass neben Schlagfertigkeit und Fernsehtauglichkeit im Zweifel eine weitere Qualifikation hinzukommen muss: die richtige Hautfarbe. Als die Redaktion der Sendung „Maischberger“ ihre Gästeliste veröffentlichte, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Auf change.org gab es eine Petition, alle weißen Gäste auszuladen und durch schwarze Gäste zu ersetzen. Der Einfachheit halber fügte der Initiator der Petition, der Blogger Nasir Ahmad, gleich seine Bewerbungsunterlagen bei: „Ich bin deutscher Muslim, Publizist und Aktivist, setze mich für die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten ein, spreche über Rassismus und Islamismus.“

Wer weiß sei, könne nicht über Rassismus Auskunft geben, lautete, kurz gefasst, das Argument. Mehr noch: Weißen Menschen stehe es nicht zu, sich zu dem Thema zu äußern, weshalb die Neuen deutschen Medienmacher*innen, ein von der Bundesregierung unterstützter Lobbyverein für die migrantische Sache, an die fünf Gäste der „Maischberger“- Sendung den Appell richtete, „aus Respekt vor George Floyd und anderen Betroffenen nicht in einer solchen Runde über Polizeigewalt gegen Schwarze und Rassismus“ zu diskutieren. Ich antwortete leichtsinnigerweise, dass ich mir ohnehin vorgenommen hätte, über das Plündern von Gucci- Läden als Widerstandsakt zu reden. Manchmal kann ich nicht an mich halten, das ist eine meiner großen Schwächen.

Sieht die Welt für jemanden, der schwarz ist, anders aus als für jemand Weißes? Das ist zu vermuten. Niemand, d er weiß ist, wird wissen, wie es ist, in Deutschland aufgrund seiner Hautfarbe immer zur Minderheit zu gehören. So wie jemand, der heterosexuell ist, nie nachvollziehen kann, wie es ist, wenn man als Homosexueller Angst haben muss, wegen seiner sexuellen Orientierung verspottet oder sogar angegriffen zu werden. Ich wäre der Letzte, solche Unterschiede zu leugnen. Das trennt mich von vielen Linken, die nicht an eine grundlegende Differenz aufgrund, zum Beispiel, von Biologie, Geschlecht oder Herkunft glauben.

Aus gutem Grund wird allerdings zwischen dem Betroffenenbericht und dem Kommentatorenbeitrag unterschieden. Wer Rassismus am eigenen Leib erfahren hat, weiß, wie sich Rassismus anfühlt. Schon bei der Frage, inwieweit rassistische Einstellungen in der Gesellschaft verbreitet sind, hilft die eigene Erfahrung nicht weiter. Ist das, was man erlebt hat, ein Einzelfall oder ist es die Regel? Um das herauszufinden, braucht es Befragungen und soziologische Studien. Dabei wiederum ist die Hautfarbe nebensächlich. Zur Erfassung der Welt ist es relativ unerheblich, wie einer aussieht – wäre es anders, gäbe es keine objektive Welt, über die wir uns verständigen könnten.

Ich glaube nicht, dass allen klar ist, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn man die Auskunftsfähigkeit zu einem Thema an den emotionalen Zugang bindet. Verfolgt man den Gedanken weiter, landet man bei einem merkwürdig relativen Wahrheitsbegriff, wie er sich auch rechts der Mitte eingebürgert hat. Wenn Donald Trump erklärt, dass es neben der offiziellen Wahrheit eine zweite Wahrheit mit alternativen Fakten gebe, ist er nicht so weit entfernt von Leuten, die behaupten, dass die Aussagekraft eines Urteils davon abhängt, welche Hautfarbe der Urteilende hat.

Wer im Fernsehen nie Schwarze sehe, die sich zu artikulieren wissen, könnte zu dem Eindruck gelangen, sie seien dazu nicht in der Lage, lautet ein anderes Argument. Das ist ein bedenkenswerter Einwand. Man lernt durch Vorbild und Gewöhnung. Die Schauspielerin Annabelle Mandeng hat in einem Interview mit der „Bild“ berichtet, wie sie immer wieder Absagen von den Sendern erhalte, weil die Zuschauer angeblich nun einmal lieber deutsch aussehende Schauspielerinnen sähen (was immer „deutsch aussehend“ auch heißen mag). Ich würde sagen: Lasst es darauf ankommen. Die Zuschauer werden schon damit fertig, in ihrer Lieblingsserie einer dunkelhäutigen Chefärztin oder Unternehmerin zu begegnen.

Es ist allerdings eine Sache, sich bei der Besetzungsliste von alten Mustern freizumachen, oder ob man behauptet, der Hamlet könne nur von einem weißen oder nur von einem schwarzen Mann gespielt werden. Sollte sich dieses Gruppendenken durchsetzen, stehen die Redaktionsleitungen vor ungeahnten Herausforderungen, da mehr Gruppen um Sichtbarkeit ringen, als es Plätze in einer Talkshow gibt, um bei dem Beispiel zu bleiben. Weil das auch die Betroffenen wissen, hat ein merkwürdiger Überbietungswettbewerb eingesetzt, bei dem die Aspiranten zu beweisen suchen, wer am meisten diskriminiert ist. Plötzlich ist selbst die engagierte Feministin eine weiße Zicke, die ihre Privilegien verteidigt.

Auf einem der jährlich stattfindenden „taz“-Kongresse wurde ich Zeuge der Begegnung mit einer Vertreterin der sogenannten Critical-Whiteness- Bewegung, die besonders rabiat für die Anliegen der PoC, der People of Colour, streitet. Ich war als weißer Mann als Konkurrent außen vor, die Aggression richtete sich gegen die andere Frau auf dem Podium, die „taz“-Reporterin Bettina Gaus.

Wie sie sich anmaßen könne, hier zu reden, wurde Gaus von der Critical-Whiteness-Frau angefahren, als sie gerade zum Sprechen angesetzt hatte: Als weiße Frau wisse sie doch gar nichts über wahre Diskriminierung, wie sie schwarze Frauen erleiden müssten. Worauf Bettina Gaus antwortete, sie wisse darüber schon einiges, sie habe nämlich eine schwarze Tochter. Danach herrschte kurz Stille.

Im Netz zirkulierten vergangene Woche „Leitlinien für Weiße Menschen zu Protesten, die von Schwarzen Menschen geführt werden“. An erster Stelle fand sich die Anweisung: „Fange nicht selbst an, Parolen zu schreien. Deine Aufgabe ist es, diesen zu folgen und deine Stimme hinzuzufügen, wenn dazu aufgefordert wird.“ Will man wirklich dazu kommen, dass nur die Feministin zum Feminismus reden darf und nur die PoC zum Schicksal der PoC? Das wäre gerade für die linke Bewegung, die auf ihre Empathiefähigkeit immer stolz war, ein schwerer Schlag.

Friedrich Engels war bekanntlich ein steinreicher Fabrikantensohn, was ihn nicht davon abhielt, zu einer Analyse der Situation der arbeitenden Klassen vorzustoßen, die bis heute rezipiert wird. Nach den neuen Kriterien der Repräsentation hätte Engels sich niederknien müssen in stiller Verneigung vor dem Schicksal der ausgebeuteten Klassen, statt mit seinem Freund Marx das „Kommunistische Manifest“ zu schreiben. Man kann sagen, dann wäre der Welt einiges erspart geblieben. Aber wenn in Zukunft nur derjenige zu einem Thema sprechen darf, der durch Herkunft oder Biologie dazu legitimiert ist, wird es mit der Analyse eher dünn. Betroffenheit ist noch kein Ersatz für Urteilsfähigkeit.

Seine Heiligkeit Dr. Drosten

Gegen die Verehrung, die der Berliner Chefvirologe Christian Drosten genießt, kommt selbst die Greta- Thunberg-Begeisterung nicht an. Deshalb gelten für den Mann aus der Charité auch andere Maßstäbe als für andere Wissenschaftler.

Ich muss an m einer Vorurteilsstruktur arbeiten. Ich dachte immer, der Virologe sei mehr so der verhuschte Typ, der sich ins Labor hinter seine Reagenzgläser verzieht, weil er im Gespräch die Zähne nicht auseinanderbekommt. Wie man sich als Kolumnist täuschen kann. Wenn es in der Wissenschaft Diven gibt, dann in d er Virologie. Was für Egos, was für ein Mitteilungsdrang, was auch für Empfindlichkeiten!

Professor K., Virologe in Halle, sagt über die jüngste Veröffentlichung von Professor D., Virologe in Berlin: Also, wenn man ihn frage, er finde, die Studie des Kollegen hätte so nie erscheinen dürfen. So etwas Dünnes hätte er nicht publiziert. Worauf Professor D. zum Handy greift und über Twitter mitteilt, dass Professor K. in der Wissenschafts- Community erstens keine Rolle spiele. Und man zweitens K.s Studien schon deshalb nicht kritisieren könne, weil Herr Dr. K. seit Langem nichts mehr publiziert habe. Das nennt man wohl jemanden dissen.

Eigentlich wollte ich nichts zur Causa Drosten schreiben. Warum sich mutwillig einen Entrüstungssturm an den Hals holen? Ein falscher Satz zu dem Thema, und man sticht in ein Hornissennest. Gegen die Verehrung, die der Mann aus der Charité genießt, kommt selbst die Greta-Thunberg-Begeisterung nicht an. Von der „taz“ bis zur „FAZ“ halten sie eisern zu dem sympathischen Arzt mit dem jungenhaften Lächeln, der uns wie kein anderer die wundersame Welt der Viren erklärt.

Ich würde mich nicht wundern, wenn demnächst die Ersten schreiben, er solle Kanzler werden. Oder Bundespräsident. Gerade hat ihn der „Spiegel“ auf seinen Titel gehoben. Nur zwei Wissenschaftler haben es in den 73 Jahren seit Gründung des Magazins auf die Titelseite geschafft: Albert Einstein und Stephen Hawking. Das ist die Ebene, auf der wir uns bewegen.

Außerdem habe ich mir schon einmal eine Rüge eingehandelt, das sollte mir eine zusätzliche Warnung sein. Wir haben im März an dieser Stelle zu einer Kolumne von mir eine Zeichnung veröffentlicht, die Christian Drosten als Viren- Papst zeigte. Ich fand die Zeichnung gelungen. Drosten als Papst? Da gibt es unvorteilhaftere Vergleiche.

Dr. Drosten selbst fand die Abbildung hingegen gar nicht lustig. Es gebe Zeitungen, die malten Karikaturen von Virologen, klagte er. Wenn das nicht aufhöre, komme man an den Punkt, an dem die Wissenschaft den Rückzug aus der Öffentlichkeit antreten müsse. Puh, noch mal Glück gehabt. Hätte ich geahnt, dass ich am Ende schuld sein könnte, wenn nicht nur d er berühmte Virologe verstummt, sondern mit ihm gleich die ganze Wissenschaft, für die er steht, hätte ich mir eher die Finger abhacken lassen, als mein Placet für eine solche Zeichnung zu geben. Ich will nicht wie der „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt enden, der seit seiner Auseinandersetzung als journalistischer Abschaum gilt.

Andererseits kann man sich als Kolumnist seine Themen nicht immer aussuchen. Manchmal kommen die Themen zum Kolumnisten.

Auch Menschen, die in ihrem Leben noch nie eine „Bild“- Zeitung gekauft haben, dürften über den Disput unterrichtet sein, ob sich Drosten und sein Team verrechnet haben, als sie die Viren im Hals von Kindern zählten (wie die „Bild“ behauptet) – oder ob es sich bei den zutage getretenen Mängeln letztlich um ein paar unbedeutende statistische Verzerrungen handelt (wie es Team Drosten für sich reklamiert).

 

Die Frage, wie infektiös Kinder sind, ist nicht ganz unbedeutend. Von der Beantwortung hängt ab, ob Politiker es wagen können, zum Regelbetrieb in Schulen und Kitas zurückzukehren. Auch deshalb fand die Studie, die das Forschungsteam der Charité Ende April vorlegte, solche Beachtung. Drosten selbst twitterte dazu: „Keine signifikanten Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen.“ Damit war der Ton gesetzt, der dann in unzähligen Artikeln und Überschriften aufgegriffen wurde.

Die Veröffentlichung sei nur ein Preprint gewesen, heißt es nun, da es Zweifel an der Aussagekraft gibt, eine vorläufige Publikation, die zu einer kritischen Begutachtung geradezu einlade. Mit dem armen Hendrik Streeck aus Bonn ist man allerdings nicht so nachsichtig verfahren, als er Anfang April eine Vorversion der sogenannten Heinsberg-Studie vorlegte. Streeck wurde unterstellt, dass er voreilig an die Öffentlichkeit gegangen sei, um die politischen Entscheidungen zu beeinflussen.

Als besonders engagierter Kritiker trat dabei Dr. Drosten aus Berlin auf. Noch am Abend des Präsentationstages war er im „Heute Journal“ zu Gast, um, nach einem „Glückwunsch an die Kollegen“ aus Bonn, die Studie nach allen Regeln der Kunst zu zerlegen. Es sei nicht klar, ob Labortests gemacht worden seien, um falsche Ergebnisse auszuschließen. Auch gebe es statistische Mängel. „Wenn das denn technisch alles so stimmt und statistisch auch so stimmt und auch wirklich für Deutschland repräsentativ ist …“ Ein typischer Drosten-Satz: sanft, aber vernichtend.

Inzwischen liegen die Endergebnisse der Untersuchung vor. Sie bestätigen im Wesentlichen die Zwischenergebnisse, aber das hilft Streeck nichts mehr. Er gilt jetzt als der Autor der „umstrittenen Heinsberg-Studie“. Dem „Spiegel“ habe ich entnommen, dass der Bayerische Rundfunk seinen Podcast zu wissenschaftlichen Fragen eingestellt hat.

Das kann Dr. Drosten nicht passieren. Drosten ist der Robert Habeck der Medizin. Alles an ihm stößt auf Wohlgefallen. Das Erscheinungsbild („diese süßen schwarzen Locken!“). Das verschmitzte Lächeln, das ihm etwas Jugendliches gibt. Die Sprache natürlich, die nie scharf oder verletzend wird. Drosten weiß, wie er andere in den Senkel stellt. Reichelt? Nie gehört den Namen. Streeck? Wir warten auf das Manuskript mit den Ergebnissen. Aber die Aggressivität ist immer unterschwellig, deshalb übersieht man sie schnell.

Eine Kollegin sagte, Drosten erinnere sie an eine passivaggressive Schwiegermutter, unter deren Freundlichkeit dieser leicht beleidigte Ton liege, dass andere es anders sehen könnten. Also, ich mache meinen Teig mit viel Rosinen. Wenn S. oder K. meinen, sie könnten auf Rosinen verzichten, ist das ihre Sache. Jeder macht seinen Teig, so wie er will. Ich finde halt nur, in einen guten Teig gehören Rosinen.

Diese eigenartige Verdruckstheit findet sich auch im Umgang mit der politischen Macht. Drosten war mehrfach bei wichtigen Sitzungen zugegen, im Bundesinnenministerium, bei Treffen mit den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin. Wenn man ihn darauf anspricht, sagt er, er würde ja nur die Ergebnisse der Forschung vortragen, die Schlussfolgerung daraus müssten andere ziehen. Nehmen wir es als den Versuch eines Wissenschaftlers, seine Unschuld zu bewahren, obwohl er längst Teil des politischen Spiels ist. Dürrenmatt hätte seine Freude daran gehabt.

In der Sache „Bild“ versus Drosten spricht vieles für die „Bild“. Der vom Medienkritiker Stefan Niggemeier betriebene Branchendienst „Übermedien“, der nun wahrlich kein Freund der Springer-Presse ist, kam vergangene Woche zu dem Befund, dass das Boulevardblatt die Vorbehalte an der Kinderstudie weitgehend richtig wiedergeben habe: „Die Tatsache, dass sich nahezu alle wissenschaftlichen Kritiker:innen von der „Bild“- Bericht erstattung distanzieren, liegt jedenfalls nicht darin begründet, dass sie ihre Kritik zurückziehen, sondern darin, dass sie nicht Teil einer Boulevard-Kampagne sein wollen, die Wissenschaftlichkeit insgesamt zu diskreditieren droht.“

An der Bewunderung für Dr. Drosten wird das nichts ändern. Auch Robert Habeck hat schon mehrfach danebengelegen, ohne dass es seinem Ruf geschadet hätte. So wie Habeck am nächsten Sonntag wieder in der Talkshow Ihres Vertrauens sitzt, so wird Christian Drosten uns kommende Woche die neuesten Ergebnisse aus der Corona-Forschung präsentieren. Kann man solchen Augen widerstehen?