Durch Deutschland geht ein Riss: Hier das progressive Deutschland, in dem man zur Not sogar auf Papa und Mama verzichtet. Dort das „Arschloch-Deutschland“, in dem man nicht einsehen will, was an traditionellen Werten falsch ist. Wer wohl gewinnt?
Wie sah das Dritte Reich 1940 aus? Unter anderem so: weiblich, sportlich, ordentlich gekleidet im Blau der Polizei. Und selbstverständlich hat man sich vor allem Sorgen gemacht, ob die Menschen noch so reden können, wie sie denken. Denn das weiß ja jedes Kind: Das größte Thema der Nazis war der Kampf gegen das Gendern.
Okay, ich habe mir zugegebenermaßen eine der dämlichsten Reaktionen zum Auftritt der Olympiasiegerin Claudia Pechstein auf dem Konvent der CDU herausgesucht. Diese stammt von Aurel Mertz, einem der komödiantischen Nachwuchstalente des ZDF: „Mir gerade angeschaut, wie eine Polizeibeamtin unter tosendem Applaus der CDU-Führung ein Deutschland-1940-Mindset schlecht abliest. Die CDU labert sich so hart Richtung AfD unter Merz.“ Geschichte ist erkennbar nicht die Stärke des jungen Mannes, aber für eine Karriere beim Jugendprogramm Funk reicht es trotzdem.
Was hat Claudia Pechstein gesagt? Dass sie sich wünschte, die CDU würde sich weiter für die traditionelle Familie einsetzen. Dass Kinder sich wünschen, dass sie Mama und Papa haben, und dass es Wichtigeres gebe, als den Genderstern korrekt auszusprechen oder das Zigeunerschnitzel zu verbieten.
Wohlgemerkt: Claudia Pechstein war bei der CDU zu Gast, nicht bei den Grünen. Sie hat also vor Leuten gesprochen, die gefragt nach ihrer Vorstellung vom Glück nicht sagen: „Ja, Patchwork, das ist genau das, wovon ich träume.“ Aber das ist natürlich keine Entschuldigung!
Außerdem hat Frau Pechstein, die heute bei der Bundespolizei ihren Dienst tut, Uniform getragen. Schlimmer Verstoß gegen die Neutralitätspflicht von Beamten! Komischerweise gilt die Neutralitätspflicht nie beim Hissen von Regenbogenflaggen oder anderen Bekundungen einer progressiven Gesinnung. Im SPD-Land Rheinland-Pfalz machen sie sogar in Uniform Wahlkampf für die Ministerpräsidentin.
Wäre ich Spötter, würde ich hinzufügen: Immer noch besser, im Blau der Polizei aufzutreten, als zu leicht bekleidet. Erinnert sich noch jemand, wie Heiner Geißler auf dem Parteitag 1979 Revuetänzerinnen auf die Bühne schickte? Das kann bei Friedrich Merz nicht passieren.
Manchmal denke ich, es läuft ein großes Experiment, wie man die Leute so aufbringt, dass sie die Partei mit dem größten Empörungsfaktor wählen, um es mal allen zu zeigen. Nach Lage der Dinge ist das die AfD. Wenn man dem hellen Deutschland einen Schlag versetzen will, sagt man bei Umfragen einfach, dass man sich gut vorstellen könne, für die hellblaue Truppe zu stimmen.
Ich bin politisch gefestigt. Eher würde ich mir den Arm abhacken lassen, als mein Kreuz bei der AfD zu machen. Wer einen Mann wie den Joseph-Goebbels-Spätimitator Björn Höcke wählt, ist aus meiner Sicht politisch nicht ganz zurechnungsfähig. Aber gar nicht so wenigen Leuten ist es egal, ob einer jeden Abend im Keller noch einmal die Panzerschlacht von Kursk gewinnt – Haupt-sache, er steht für Provokation. Wenn man den Wählern außerdem den ganzen Tag sagt, dass das, was sie bisher für normal hielten, in Wahrheit rechtes Gedankengut sei, dann sagen sie sich irgendwann: Dann bin ich eben ein Rechter, dann kann ich die auch wählen. Da gilt der Nietzsche-Satz: „Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein.“
Haben die Leute, die Claudia Pechstein für eine Rassistin halten, eine Vorstellung, wie es im normalen Deutschland aussieht, also in dem Teil, der nicht auf gewachster Altbaudiele in durchgrünter Innenstadtlage mit Lastenfahrrad vor der Tür lebt? Ich war über Pfingsten auf Mallorca. Am Strand kommt man nicht umhin, sich Gedanken über Normalität zu machen, das fängt beim Körperschmuck an und hört bei Ernährungsgewohnheiten nicht auf.
Die CDU überlegt, wie sie den Anschluss an dieses Durchschnittsdeutschland behalten kann. Auch deshalb war die fünfmalige Olympiasiegerin eingeladen. Im Adenauer-Haus hat man noch eine Ahnung davon, dass jemand wie Pechstein tausendmal mehr das normale Deutschland verkörpert als jeder grüne Bundestagsabgeordnete. Die SPD hat den Versuch aufgegeben, den Kontakt zu halten, deshalb liegen die Sozialdemokraten auch nur noch bei 18 Prozent. Bei den Grünen ist man seit jeher stolz darauf, nichts mit der Spießerwelt zu tun zu haben. So sagt man es nicht, aber so denkt man.
Spießerverachtung hat in Deutschland Tradition. Für jede gesellschaftliche Gruppe finden sich Fürsprecher, selbst der Faulenzer kann noch mit einer Verteidigung rechnen. Nur auf den Kleinbürger sehen sie sowohl von unten als auch von oben herab.
Es ließe sich viel Gutes über den Spießer sagen, seine Arbeitsethik, die Umsicht und Gewissenhaftigkeit, mit der er für ein sozial stabiles Umfeld sorgt. Nur Spießer gehen regelmäßig zum Blutspenden, sammeln Altkleider und sind bei der freiwilligen Feuerwehr. Was wäre der deutsche Sozialstaat ohne die spießige Steuerehrlichkeit? Oder Greenpeace ohne sein Herz für Delfine und Wale?
Es nützt nichts: Seine Beharrlichkeit wird ihm als Pedanterie ausgelegt, seine Sparsamkeit als Geiz. Zur Abwertung des Milieus kommt die seiner Gedankenwelt. Sein Alltag wird durchgängig als banal und sinnentleert beschrieben, das Gefühlsleben als schal und abgestanden, seine politischen Überzeugungen als gefährlich.
Friedrich Merz hat sich in seiner Rede bei dem CDU-Konvent mehrfach auf Helmut Kohl bezogen. Er wird wissen, warum er das tat. Denn auch das ist wahr: Normalität kommt von Mehrheit.
Kein Politiker wurde so verspottet wie Kohl. Er war die Birne, der Tor, das Trampel – ein Mann ohne jedes wirkliche Format, beachtlich nur wegen seiner Körpergröße. Über alles wurde sich lustig gemacht: die Liebe für einfache Hausmannskost, die dialektale Färbung der Sprache, in der noch Worte wie Heimat, Volk und Vaterland vorkamen, die Betonung des familiären Lebens, die in aufreizendem Gegensatz zur persönlichen Lebensgestaltung stand.
Was all die neunmalklugen Journalisten allerdings übersahen, war, dass sich ganz viele Leute im Spott über den Mann aus der Pfalz mitverspottet fühlten. Und so begab es sich, dass Kohl einfach weiter neben seinem Aquarium und der Münzsammlung im Bonner Kanzleramt saß und sich durch die Welt telefonierte, bis niemand im Land sich mehr an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte.
Tatsächlich war Kohl ein sehr gebildeter Mann. In der Bundestagsbibliothek stand er auf der Ausleihliste ganz oben, es gab kaum eine Buchmesse, die er ausließ. Seine Berater haben ihn angefleht, doch auch diese Seite zu zeigen, um das Feuilleton milde zu stimmen.
Aber erst sah Kohl keinen Vorteil, sich den fortschrittlichen Kreisen zu empfehlen, dann wollte er nicht mehr. Also wurde auf Parteitagen weiter die Hammondorgel angeschmissen und zur Demonstration eine Extraportion Saumagen verzehrt, obwohl der Kanzler in Wahrheit Pasta bevorzugte. Er wusste genau, dass das, was seine Verächter zur Raserei trieb, die Anhänger an ihn band.
Das wahre Vergehen von Claudia Pechstein ist, dass sie so schrecklich durchschnittlich ist. „Claudia Pechstein ist Deutschland pur“, merkte der Dramatiker Juri Sternburg in der „taz“ nach Durchsicht ihres Instagram-Kanals an und listete dann penibel die Verfehlungen auf: Videos von Helene-Fischer-Konzerten, Fotos von Radausflügen, Werbung für ein Nackenkissen. „Nichts unterscheidet sie vom Grillfest in sächsischen Schrebergärten, von der Strandbar auf Sylt oder einem Volkswagen 6-Zylinder VR6. Deutschland, einig Arschloch-Land.“
Besser kann man es nicht sagen. Wie dumm nur, dass es mehr Helene-Fischer-Fans als Sternburg-Fans gibt.
© Sören Kunz