Monat: November 2024

Kein Gedanke, keine Sprache

Donald Tump hat ihr einmal den Handschlag verweigert: Das ist schon der Höhepunkt von Angela Merkels Memoiren, packender wird’s dann nicht mehr. Ein Buch wie ihre Kanzlerschaft: etwas eitel, etwas selbstgerecht und unglaublich öd

Warum setzt sich jemand hin und schreibt ein Buch? Er bestreitet damit seinen Lebensunterhalt, das ist der Profi. Vielleicht glaubt er auch, der Welt unbedingt etwas mitteilen zu müssen, das wäre der Enthusiast. Angela Merkel hat eine dritte Kategorie eröffnet: das Buch als Selbstrechtfertigungs- und Selbstentschuldigungstraktat. 752 Seiten warum sie im Grunde immer richtig lag.

Am Donnerstag vergangener Woche ist in der „Zeit“ der Vorabdruck erschienen. Das Beste war noch die Überschrift: „Ich dachte: Wahnsinn! Was ist denn hier los?“ Leider folgte dann nichts Entsprechendes, nur die furchtbare Ödnis der Merkelschen Prosa, die einen schon während ihrer Kanzlerschaft in den Halbschlaf versetzte.

Seit Dienstag liegt das Buch im Handel. Wie sich zeigt, hatte die „Zeit“ bereits die besten Passagen präsentiert. Mühsam zieht sich der Text dahin, wie von unsichtbaren Fäden gulliverhaft am Boden gehalten; ohne Gedanke, ohne Idee, außer der, noch mal zu sagen, wie umsichtig, vorausschauend und klug man war; abgefasst in dieser flachen, seelenlosen Sprache der Bürokratie, für die Menschen Funktionsträger sind und Erlebnisse Vorgänge.

Angela Merkel hat alle Großen der Welt getroffen – drei amerikanische Präsidenten, zwei Päpste, das gesamte Who’s Who der europäischen Politik. Aber von diesen Begegnungen scheint nichts Interessantes hängen geblieben zu sein. Von der ersten Begegnung mit Donald Trump ist ihr lediglich in Erinnerung, dass sie und der US-Präsident auf „zwei unterschiedlichen Ebenen“ redeten.

Gibt es einen schillernderen Politiker als Trump? Es gäbe so viel zu berichten, sollte man meinen. Man wüsste zum Beispiel gern, ob er sich im persönlichen Kontakt so verhält wie auf der Bühne. Oder wie das Verhältnis zu Melania ist und er mit seinen Leuten umgeht. Ist er schroff und bossy oder im Gegenteil eher zurückhaltend und für Ratschläge aufgeschlossen?

Aber alles, was Angela Merkel im Rückblick einfällt, ist, dass Trump „emotional“ redete und sie „sachlich“. Ach so, ja, und er hat ihr einmal den Handschlag verweigert, während er die Hand des japanischen Premiers 19 Sekunden lang drückte. Das ist der Höhepunkt, packender wird’s dann nicht mehr.

Warum hat die Autorin nichts mitzuteilen? Aus Rücksichtnahme? Aber auf wen oder was sollte sie Rücksicht nehmen müssen? Die meisten, denen sie als Kanzlerin begegnete, sind aus dem Amt geschieden. Jetzt könnte sie sagen, was sie als Regierungschefin nicht sagen konnte.

Ich glaube, die Erklärung ist so banal wie niederschmetternd. Es ist ihr einfach nichts Berichtenswertes in Erinnerung geblieben. Merkel war 16 Jahre Kanzlerin der größten Industrienation in Europa, sie galt als mächtigste Frau ihrer Zeit, am Ende sogar als Anführerin der freien Welt, das war der Titel, den man ihr verlieh. Aber alles, was sie an persönlichen Einschätzungen mitzuteilen hat, ist, dass Trump zu Tiraden neigte, Papst Franziskus sie mit einem freundlichen Lächeln empfing und Putin kein besonders netter Mensch ist. So arbeitet sie brav die Stationen ihrer Amtszeit ab, so wie sie schon als Kanzlerin ihren Terminkalender abgearbeitet hat.

Bücher, Memoiren zumal, erlauben auch einen Blick auf den Autor. Von wem, um Gottes Willen, wurden wir eigentlich regiert, fragt man sich am Ende der Lektüre dieser quälenden 750 Seiten?

An der seltsam unpersönlichen Sprache haben schon die Zeitgenossen Kritik geübt. Bloß nicht erwischt werden bei etwas Originellem oder besonders Gescheitem, das könnte ja Ärger geben – das war ihr Modus Operandi. Aber hinter dieser Fassade, so hieß es, stecke eine blitzgescheite Frau, deren Auffassungsgabe unermesslich sei. Merkel denke die Dinge vom Ende her – ich kann gar nicht sagen, wie oft ich diesen Satz gelesen habe.

Und manchmal konnte sie ja auch durchaus witzig sein. Aber es war eben der Witz der Kaltmamsell, deren Komik aus dem Kontrast zum Brimborium erwächst. Das funktioniert heute noch. „Männer“, hat Merkel ausgerufen, als sie auf das Ende der Ampel angesprochen wurde. Der „Frauen-sind-von-der-Venus-Männer-sind-vom-Mars“-Gag geht immer.

Ihre Bilanz ist ein einziges Desaster. Der Atomausstieg: ein Fehler, der das Land an den Rand des Energiekollapses gebracht hat. Die Flüchtlingspolitik: undurchdacht und rasend teuer. Die Wirtschaftspolitik: kraftlos und opportunistisch.

Das finsterste Kapitel ist die Ukraine-Politik. Sie schreibt es nicht so explizit, aber zwischen den Zeilen wird klar, dass Merkel nie daran dachte, der Ukraine gegen Russland beizustehen. Nationale Souveränität, Unverletzlichkeit der Grenzen? Schöne Grundsätze, für die man aber doch keine Auseinandersetzung mit den Russen riskiert! Im Nachhinein hat sie sich auf die Entschuldigung verlegt, ihre Zögerlichkeit hätte der Ukraine die Zeit erkauft, die sie brauchte, um sich zu rüsten. Aber das ist Bullshit. 14 Staaten aus dem ehemaligen Sowjetreich sind seit 1990 der Nato beigetreten. Die einzigen Länder, die Russland sich einzuverleiben anschickte, sind die, die nicht Nato-Mitglieder geworden sind.

Ich habe Angela Merkel ein paar Mal zum Abendessen gesehen. Ein Freund von mir unterhielt einen kleinen Kreis, der zwei Mal im Jahr bei einem Italiener, der in Wirklichkeit ein Georgier war, im Grunewald zusammenkam. Schon Helmut Kohl hatte hier gesessen, als es seine Gesundheit noch erlaubte, und seine Spaghetti geschlürft.

Obwohl die Runde vornehmlich aus Leuten bestand, die gewohnt waren, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, war auch Angela Merkel einmal im Jahr zu Gast. Am Anfang waren die Gründe noch nachvollziehbar, da war ihre Macht noch ungesichert. Aber dass sie auch noch kam, als sie bereits unangefochten das Land regierte, hat mich erstaunt.

Ich erinnere mich an ein Wortgefecht, da hatte sie gerade die Abschaltung der heimischen Kernenergie erklärt. Allen am Tisch war klar, dass sie nicht für einen Moment anders über die Kernkraft dachte, nur weil am anderen der Welt ein Atommeiler von einem Tsunami überflutet worden war.

Auf die Frage, warum sie dennoch den Ausstieg verfügt hatte, sagte sie, sie hätte die Umfragen gesehen, auch in den Reihen der CDU hätten die Leute jetzt Angst. Das war das Argument: Die Leute fühlen sich nicht mehr gut mit der Kernenergie, also befreie ich sie davon. Als ich ihr entgegenhielt, das klänge nicht wie die Kanzlerin der CDU, sondern eher wie Claudia Roth, sah sie mich kurz von der Seite an, mit diesem wässrigen Blick, den man auch einem Ungeziefer zuteilwerden lässt, das sich ungebetenerweise bei Tische zeigt.

„Aber die Leute haben Angst“: Das ist die Quintessenz der Merkelschen Politik. Wenn die Industrie Gas aus Russland wollte, gab es Gas aus Russland. Wenn die Wähler Panzer überflüssig fanden, wurde so lange bei der Bundeswehr gespart, bis kein Panzer mehr fuhr.

Als ich noch beim „Spiegel“ war, haben wir einmal daran gedacht, nach einer Wahl auf das Titelbild den Satz zu schreiben: „Wie konnte das passieren?“ Und dann eine Spiegelfolie auf das Cover zu kleben, in der sich der Leser selbst sehen konnte.

Bis zum Schluss hatte Merkel tolle Zustimmungswerte. Wenn sie noch einmal angetreten wäre, hätte sie mühelos alle Konkurrenten aus dem Feld geschlagen. Nach Lektüre von „Freiheit“, wie ihre Memoiren heißen, drängt sich der Verdacht auf, dass ihre Mediokrität leider auch unsere ist. Sie hat uns nichts abverlangt, dafür wurde sie gewählt.

Der Verlag hat dem Vernehmen nach eine Unsumme für die Abdruckrechte ausgegeben, im „Tagesspiegel“ las ich von 12 Millionen Euro. Zu lesen war auch, dass sie das Buch zusammen mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann verfasst hat. Ich glaube das unbesehen. So eine Suada hätte ihr kein Ghostwriter durchgehen lassen.

Aber auch ungelesene Bücher haben ihre Daseinsberechtigung. Zum Glück gibt es die Institution des Weihnachtsbuchs, weil man mit Büchern bekanntlich nie etwas falsch macht. 42 Euro wirken auf den ersten Blick zugegeben etwas happig. Aber hey, man will doch nicht ausgerechnet beim Geschenk für Omma sparen, oder? Außerdem eignet sich „Freiheit“ sehr schön als Buchstütze. Dick genug ist es.

© Silke Werzinger

Der sensible Robert

Ausgerechnet Robert Habeck, der Kandidat der Herzen, verklagt jeden, der sich über ihn lustig macht. Aber so ist das, wenn nur die eigene Betroffenheit zählt, dann rückt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit

Von allen Auftritten zum vorzeitigen Ende der Regierung war der von Robert Habeck der schönste. Um einen Kommentar zum Aus gebeten, legte er den Kopf zur Seite, lauschte in sich hinein und sagte dann, „dass sich das nicht richtig anfühlt.“ Kein Wort des Vorwurfs, kein Nachkarten. Stattdessen: Betroffenheit.

Nicht alle bei den Grünen haben das durchgehalten. Auf dem Parteitag am Wochenende brach es aus der Fraktionschefin Britta Haßelmann heraus, was für eine üble Truppe die FDP doch sei. Man sah die Enttäuschung und Wut darüber, dass nun schon am 23. Februar gewählt wird und nicht erst am 28. September. So viele schöne Projekte, die man nicht mehr zu Ende bringen kann, so viel Geld, das man noch gerne unter die Leute gebracht hätte! Eigentlich gilt bei Scheidungen das Zerrüttungsprinzip, aber in diesem Fall kehren selbst Linke zum Schuldprinzip zurück.

Habeck ist in Lübeck geboren. Auch Björn Engholm kommt von dort. Nicht allen wird der Name Engholm noch etwas sagen, was schade ist, schließlich darf Engholm als Pionier des politischen Emotionalienhandels gelten, gewissermaßen ein Früh-Habeck der Sozialdemokratie. Es war Engholm, der sich als erster auf die „sensiblen Potenziale“ des Landes berief, die es zu heben gelte. Den Fontane entlehnten Satz, man solle mit dem Kopfe fühlen, verstand er nicht als Selbstbezichtigung, sondern als Kompliment.

Keine Ahnung, weshalb gerade die Nordlichter zu vermehrtem Gefühlsausstoß neigen. Auch Daniel Günther von der CDU empfiehlt sich ja als die sanfte Variante seiner Partei. Ist es der lange Blick übers Watt, die Ereignislosigkeit der Landschaft, die Geducktheit der Reetkate? Den Wikingertyp sucht man unter den Talenten im Land zwischen den Meeren jedenfalls vergeblich, der scheint vor Langem ausgestorben.

Habeck verzichtet auf Fontane, aber sensibel geht es auch bei ihm zu. „Ich bin hier bei Freunden in der Küche“, begann das Video, in dem er seine Bewerbung für das Amt des Kanzlers vortrug. Der Küchentisch sei der Ort, an dem man zusammenkomme und die Nachrichten des Tages höre, wie zum Beispiel die von der Wiederwahl Trumps. Treuer Augenaufschlag: „Ich auch.”

Im Wahlkampf muss man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber dass der Wirtschaftsminister der drittgrößten Industrienation der Welt Nachrichten von der Tragweite einer US-Wahl am Küchentisch von Freunden erfährt, lässt einen dann doch an der Informationsbeschaffung der Regierung zweifeln. Anderseits erklärt das möglicherweise die Entrücktheit mancher Ideen.

Das Angebot des grünen Kanzlerkandidaten ist weniger ein inhaltliches, sondern vielmehr ein stilistisches. Wenn einer die Feminisierung der Politik zur Vollendung gebracht hat, dann der Mann aus dem hohen Norden. Gegen die Mischung aus verwuschelter Nachdenklichkeit und einfühlsamen Therapeutenton kommt nicht mal Annalena Baerbock an. Wenn Habeck den Kopf leicht zur Seite legt (Vorsicht: Signaturemove!), schmilzt das eisigste Frauenherz. Ich glaube, sogar Anna Schneider, die tapfere Freiheitskämpferin von der „Welt“, wird dann für einen Moment schwach.

Man ahnt, dass der sanfte Robert nicht nur sanft ist. Wäre es anders, wäre er am Sonntag nicht zum Spitzenkandidaten seiner Partei nominiert worden. Wobei, auch das hat er jetzt den Bedürfnissen seiner Wähler angepasst: Wir Journalisten sollen lieber vom „Kandidaten für die Menschen“ reden. Oder war es vom „Kandidaten der Herzen“? Egal, jedenfalls irgendwas mit viel Nähe und viel Gefühl.

Habeck ist der perfekte Kandidat für Leute, die von Selbstwirksamkeit sprechen, wenn sich das Kind auf den Boden wirft, weil man ihm den Schnuller wegnimmt. Vor 30 Jahren hieß Selbstwirksamkeit noch Selbstverwirklichung, gemeint ist dasselbe.

Das eigene Empfinden zum Maßstab der Weltbeurteilung zu machen, radikale Subjektivität als Mittel der Wirklichkeitsbetrachtung, das ist die eigentliche Errungenschaft der Linken. Umgekehrt ist alles, was rational und damit kalt und herzlos wirkt, verdächtig. Deshalb hatten Leute, die mit der schnöden ökonomischen Wirklichkeit argumentieren, immer schon einen schweren Stand.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich war 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal auf dem Heißen Stuhl Platz nahm, um in die Grundregeln der Gruppentherapie eingeführt zu werden. An die Sitzungen im evangelischen Pfarrhaus schlossen sich während des Zivildiensts dann wöchentliche Supervisionsstunden an, in denen ich unter der kundigen Leitung eines Gestalttherapeuten meine Projektionen zu verstehen lernte.

Ich weiß seitdem, wie der Hase läuft. Mir muss man mit „Du- und Ich-Botschaften“ nicht mehr kommen. Ich formuliere bei Bedarf gerne jeden Vorwurf so perfekt als Ich-Botschaft, dass dem Gegenüber die Ohren glühen, wenn ich fertig bin.

„Was macht das mit Dir“ beziehungsweise „Wie geht es Dir damit“, sind die beiden Zentralsätze der neuen emotionalen Aufgeschlossenheit. Neben das „Problem“, das in unzähligen Varianten als „Beziehungsproblem“, „Umweltproblem“ oder „Sozialproblem“ die politische Sprache bereichert, tritt die „Angst“ als Gefühlswort allerersten Ranges. Es muss nur jemand in einer Diskussion sagen, dass er sich unwohl fühle, und schon erübrigt sich jede weitere Debatte.

Wenn Gefühle zu Fakten werden, werden umgekehrt auch Fakten zu einer Frage der Empfindung. Bis heute hält sich bei den Grünen die Gewissheit, dass die Atomkatastrophe in Fukushima Tausenden das Leben gekostet habe. In Wahrheit ist bei dem Reaktorbrand kein einziger Mensch ums Leben gekommen.

Ein Arbeiter erlag später einer Krebserkrankung aufgrund der Strahlung, der er bei Aufräumarbeiten ausgesetzt war. Alle anderen hat ein schnöder Tsunami ins Wasser gespült. Trotzdem kann man die Uhr danach stellen, dass zum Jahrestag wieder ein grüner Landesverband die Mahnung postet, ja nicht die 10000 Fukushima-Toten zu vergessen.

Unbedarfte werden einwenden, dass es sich schlecht mit der proklamierten Empfindsamkeit verträgt, wenn man Bürgern die Polizei auf den Hals hetzt, nur weil sie einen „Schwachkopf“ genannt haben. Kein Politiker hat mehr Beleidigungen zur Anzeige gebracht als der sensible Robert. 805 Mal wurde die Staatsanwaltschaft seit der Regierungsübernahme im September 2021 bemüht – damit führt er die Liste der Bundesminister mit weitem Abstand an.

Unter den Angezeigten ist auch Stefan Niehoff aus Unterfranken, 64 Jahre alt, Vater einer Tochter mit Downsyndrom. Ich habe mir das Video angesehen, in dem der Mann berichtet, wie er in aller Herrgottsfrühe von zwei Beamten aus dem Bett geklingelt wurde. Der Mann wirkte darin relativ vernünftig.

Habeck versucht jetzt den Eindruck zu erwecken, es sei bei dem Hausbesuch gar nicht um seine Anzeige gegangen. Auf Nachfrage im Fernsehen murmelte etwas von rassistischen und antisemitischen Hintergründen, womit er den bis dato unbescholtenen Rentner im Vorbeigehen auch noch zum Rechtsradikalen stempelte.

Der Durchsuchungsbeschluss ist allerdings eindeutig: In dem Schreiben wird allein auf ein Bild Bezug genommen, das einer Haarpflege-Anzeige nachempfunden ist und den Werbesatz „Schwarzkopf Professional“ zu „Schwachkopf Professional“ verballhornt. Wer weiß, wenn der Mann aus Bayern sich ökologisch korrekt das Shampoo von Dr. Hauschka zum Vorbild genommen hätte, gäbe es vielleicht mildernde Umstände. Aber so: kein Pardon.

Am Dienstag las ich von einer Frau, die mit der Ordnungsmacht in Konflikt geriet, weil sie Habecks berühmte Ausführungen zum Insolvenzrecht zitiert hatte. Dummerweise war ihr dabei ein Fehler unterlaufen. Statt Habecks Zitat („Und dann sind die nicht insolvent, automatisch, aber sie hören vielleicht auf zu verkaufen“) ganz korrekt wiederzugeben, verbreitete sie eine Zitattafel mit dem Satz: „Ein Laden, der aufhört zu verkaufen, ist doch nicht insolvent, er verdient nur kein Geld mehr.“

Zack, Strafantrag wegen übler Nachrede, Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchung.

Das sind nicht die Meldungen, die man sich als Kandidat für die Menschen wünscht, sollte man meinen. Aber das ist ja das Besondere an der neuen Sensibilität: Wo nur die eigene Betroffenheit zählt, tritt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit.

© Michael Szyszka

Der Zwergenkanzler

Er wäre so gerne ein Großer. Manchmal steht Olaf Scholz vor dem Spiegel und übt heimlich Helmut-Schmidt-Gesten. Aber er ist nicht mal ein Schmidtchen, wie die vergangenen Tage gezeigt haben

Der unglücklichste Kanzler war Ludwig Erhard. Als er das Amt übernahm, hielt er sich für den richtigen Mann am richtigen Platz. Der Aufstieg Deutschlands vom niedergebombten Ruinenstaat zum bewunderten Wirtschaftsriesen verband sich mit seinem Namen. „Vater des Wirtschaftswunders“ nannten sie ihn.

Aber kaum im Kanzleramt eingezogen, wendete sich das Schicksal. Erhard war zu freundlich und zu konziliant für das Amt. Die Menschen machten Witze über ihn und den Bonner Kanzlerbungalow, das „Palais Schaumbad“ mit dem Mini-Schwimmbecken in der Mitte. Wofür, fragten die Zeitgenossen, braucht ein Nichtschwimmer einen Pool? Dazu kam der Spott des Erst- und Altkanzlers Konrad Adenauer, der keine Gelegenheit ausließ, seinen Nachfolger mit fiesen Kommentaren zu piesacken.

An zweiter Stelle der gescheiterten Kanzler steht Kurt Georg Kiesinger. Ein feinsinniger Mann, der nachts, wenn ihn die Schlafstörung heimsuchte, gerne im Badezimmer Gedichte las. Aber auch er war ein Mann des Übergangs. Kiesinger gilt heute als eher mediokre Gestalt. Am ehesten ist noch die Ohrfeige in Erinnerung, die ihm die Journalistin Beate Klarsfeld aus Empörung über seine NSDAP-Mitgliedschaft verpasste.

Wo steht Olaf Scholz, wo sieht er sich selbst? Dass es für die erste Reihe nicht reicht, dämmert ihm möglicherweise selbst, auch wenn er sich grundsätzlich für den Klügsten und Weitsichtigsten im Raum hält. Adenauer, Brandt, Kohl – das sind Namen aus einer anderen Liga. Wer es mit ihm sehr gut meint, wird ihm einen Platz im Mittelfeld zuweisen, neben Angela Merkel und Gerhard Schröder.

Die Historiker dürften weitaus ungnädiger urteilen. Wenn Scholz nicht noch auf den allerletzten Meter ein Husarenstück gelingt, wird er als glücklosester Kanzler aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Ein Zwergenkanzler, der vor der Wirklichkeit die Augen verschloss und die Dinge treiben ließ – und dann Führung beweisen wollte, als es zu spät war.

Mich verbindet mit der SPD eine lange, sentimentale Geschichte. Ich hielt sie immer für eine im Kern anständige Partei, glücklos mitunter, sicher, in ihren Ansprüchen nicht selten vermessen, ja hochtrabend, aber am Ende, wenn es darauf ankam, doch verlässlich.

Auch davon muss ich mich trennen. Der Kanzler erweist sich als rachsüchtiger Kleingeist, der ein Temperament erst entdeckt, wenn es um ihn selbst geht. Alles hat er an sich abperlen lassen: die Nöte des deutschen Mittelstands; die desaströsen Lageberichte des deutschen Heeres; die zunehmend verzweifelten Hilferufe der Ukraine, deren Jugend im Kampf für die Freiheit Europas verblutet.

Aber als ihm sein Finanzminister die Gefolgschaft aufkündigte, kannte er plötzlich kein Halten mehr. Ein „schlechter Mensch“ sei dieser Lindner, unseriös, egoistisch, skrupellos, ein Politiker, mit dem man nicht einen Tag länger zusammenarbeiten könne. So steigerte er sich in eine Suada der Erregung.

Leider sind die anderen Leute, die in der SPD den Ton angeben, nicht besser. Lars Klingbeil: ein Parteisoldat, der den Parteiegoismus unter seinem jungenhaften Charme verbirgt. Die unvermeidliche Saskia Esken, die noch dann die Lauterkeit der Sozialdemokratie beschwören würde, wenn sie morgen Nord Stream 2 wiedereröffneten. Und natürlich Rolf Mützenich, der Fraktionschef im Hintergrund, ohne den Scholz schon lange nicht mehr Kanzler wäre.

Wer mit falschen Heiligen vertraut ist, kennt den Typus. Wenn Mützenich vor die Presse tritt, dann mit dem gequälten Gesichtsausdruck des am Unrecht der Welt Verzweifelnden. Jede Entscheidung trägt er im sorgenvollen Tonfall eines Mannes vor, der sich wahrlich nichts leicht gemacht hat, auch wenn’s nur um den schnöden Machterhalt geht.

Bei Sonnenschein und mäßigem Wind lässt sich leicht regieren. Dazu braucht es nicht viel Könnerschaft. Der wahre Charakter zeigt sich im Sturm. So gesehen war der Überfall auf die Ukraine ein Glücksfall. Und zunächst sah es so aus, als wolle Scholz die Gelegenheit beim Schopf greifen und endlich Führungskraft zeigen. Die „Zeitenwende“, die er ausrief, sollte auch eine Wende in eigener Sache sein. Aber leider folgte dem nichts.

Die Bilanz nach drei Jahren fällt entsprechend düster aus. Die Sozialpolitik? Auf Pump finanziert, und in Teilen deshalb schon wieder notabgewickelt. Die Außenpolitik? Ein Trümmerfeld. In nur drei Jahren gelang es, nicht nur das Verhältnis zu Frankreich zu ruinieren, sondern das zu Polen gleich mit. Die Wirtschaftspolitik? Ein einziges Trauerspiel.

Im ARD-Presseclub erinnerte der „Wirtschaftswoche”-Chefredakteur Horst von Buttlar daran, dass derselbe Kanzler, der die Wirtschaft im Sommer dafür verspottete, dass sie ihm ihre Klagen vortrug, dem Land noch vor einem Jahr ein grünes Wirtschaftswunder in Aussicht gestellt hatte, mit Wachstumsraten von drei Prozent. Nun sind wir schon froh, wenn wir nicht Jahr um Jahr ärmer werden.

Scholz wäre so gerne ein Großer. Sein heimliches Vorbild ist Helmut Schmidt, der Mann mit der Lotsenmütze, Inbegriff des hanseatischen Krisenmanagers. Manchmal steht er vor dem Spiegel und übt heimlich Schmidt-Gesten.

Auch der Bruch der Koalition wurde als Wiederholung inszeniert. Bis in die Wortwahl glich die Begründung der Rede, mit der der berühmte Lotse 1982 das Ende seiner Regierung verkündete. Auch damals war vom hinterhältigen Anschlag der FDP die Rede. Der Unterschied ist: In Olaf Scholz sieht niemand einen Helmut Schmidt. Er ist nicht mal ein Schmidtchen.

So gleicht das Stück, dass die SPD aufführt, nicht der Tragödie, die sie so gerne auf dem Spielplan sehen würden, sondern bis in die Nebenrollen nur einer unfreiwilligen Komödie. Wer immer auf die Idee gekommen ist, dem FDP-Mann Wissing zusätzlich zum Verkehrsministerium auch noch das Justizministerium anzutragen, hat einen Sinn für abgründigen Humor. Jetzt darf der arme Mann bis Februar so tun, als sei er ein zweiter Karl Schiller, ein Superminister, auf dessen Wort ganz Deutschland hört. Das Lachen darüber hört man bis nach München.

Zwergenkanzler verzwergen auch das Land, dem sie vorstehen. Am Wochenende hieß es, es mangele an ausreichend Papier, deswegen könnten die Deutschen nicht schon im Januar oder Februar wählen. Das ist der Grund, den die Bundeswahlleiterin Ruth Brand nannte, um vor zu frühen Neuwahlen zu warnen.

Erst war es die Instabilität, die man Deutschland in so schwerer Zeit nicht zumuten könne, weshalb es besser sei, bis März eine Minderheitsregierung im Amt zu belassen. Dann war es die Erinnerung an die Nazis, derentwegen sich eine schnelle Vertrauensfrage des Kanzlers verbiete.

Kein Scherz, so sagte es der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese im Bundestag: Schon die Nationalsozialisten hätten die Republik in die Regierungsunfähigkeit zu manövrieren versucht, indem sie Zweifel an den Institutionen des Staates schürten. Dann, Ultima Ratio, die Papierknappheit.

Anderseits: Das passt zu einem Land, in dem führende Regierungsvertreter die Bürger vor dem Betreten von Brücken warnen, weil man deren Tragfähigkeit nicht länger gewährleisten könne, und jede Bahnfahrt zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang wird. Man fragt sich gelegentlich, wie es uns jemals gelingen konnte, die besten Flugzeuge und Autos der Welt zu bauen. Aber diese Errungenschaft stammt ja auch aus einer Zeit, als man sich noch nicht vor einem Wahltermin fürchtete.

Viel ist von dem Bild die Rede, das Deutschland im Ausland abgibt. Bei jedem Prozentpunkt mehr für die AfD wird warnend der Zeigefinger gehoben, welche abschreckende Wirkung der Erfolg der Rechten auf die Fachkräfte habe, die wir dringend bräuchten.

Ich gelange immer mehr zur Überzeugung, dass der größte Abschreckungseffekt von der Dysfunktionalität Deutschlands ausgeht. Wie attraktiv ist ein Land, in dem sich die Bahn im Postkutschentempo bewegt, das Internet auf dem Niveau von Burkina Faso liegt und man sich schon von einem außerplanmäßigen Wahlgang überfordert zeigt? Dann geht man doch lieber dahin, wo wenigstens die Steuern und Abgaben entsprechend niedrig sind.

Auch das spricht ganz klar gegen Deutschland: Nix hinbekommen – aber dafür die Bürger so zur Kasse bitten wie kein anderes Land in Europa.

© Sören Kunz

Still in Dubai

Der Iran ermordet einen deutschen Geschäftsmann, die Außenministerin kündigt „schwerwiegende Konsequenzen“ an. Und dann? Dann schließt sie ein paar Generalkonsulate. Mehr muss man über die deutsche Außenpolitik nicht wissen

Annalena Baerbock sieht blendend aus, um mal mit dem Positiven zu beginnen. Wenn sie die Gangway herab schreitet, sitzt jedes Haar. Neulich war sie im Nahen Osten unterwegs. Auf dem Pressefoto: die Ministerin mit schwarzer Sonnenbrille, schwarzem Hosenanzug und schwarzen Pomps umringt von vier Bodyguards. Atemberaubend. Ich dachte im ersten Moment, es würde sich um ein Szenenbild aus „Mission Impossible 5“ handeln. Aber nein, es war unsere Außenministerin im Einsatz für den Weltfrieden.

Normalerweise schickt es sich nicht, das Aussehen von Politikern zu kommentieren. Aber in dem Fall ist man dazu ja geradezu verpflichtet. 136000 Euro gibt Annalena Baerbock im Jahr für die Visagistin aus. Verschwendung von Steuergeldern ist ein großes Thema. Insofern ist man als kritischer Beobachter doch froh, wenn man sagen kann, dass das Geld gut angelegt ist.

Was die Außenpolitik angeht, sieht es leider nicht so rosig aus. Am vorletzten Montag hat das iranische Regime den deutschen Unternehmer Jamshid Sharmahd hinrichten lassen. Sharmahd unterhielt eine Webseite für Exiliraner, auf der er für die Rückkehr zur Monarchie warb. Das reichte für einen Platz auf der Todesliste. Während einer Geschäftsreise nach Dubai ließen ihn die Mullahs entführen, um ihn vor einem Revolutionsgericht in Teheran wegen „Korruption auf Erden“ abzuurteilen.

Kidnapping plus Geiselhaft plus Folter plus Mord: Das ist eine ziemlich lange Liste an Vergehen, selbst für einen Schurkenstaat wie den Iran. Dass man mal eben einen ausländischen Staatsangehörigen entführt, um ihn nach einem Schauprozess hinzurichten, kommt nicht mal im notorisch bedenkenlosen Nordkorea vor. Auch da kennt man politische Geiselnahme als diplomatisches Mittel, aber man bringt die Geiseln anschließend nicht einfach um die Ecke.

Der Kanzler sprach von einem „Skandal“ und verurteilte „aufs Schärfste“. Die Außenministerin verurteilte scharf und kündigte „schwerwiegende Konsequenzen“ an.

Wie die schwerwiegenden Konsequenzen dann aussahen? Der iranische Botschafter wurde ins Auswärtige Amt einbestellt, wo ihm mitgeteilt wurde, wie empört man sei. Und die Generalkonsulate in Hamburg, Frankfurt und München müssen schließen. Das Personal der Botschaft darf selbstverständlich unbehelligt im Land bleiben – man will schließlich die „stille Diplomatie“, an der Deutschland so viel liegt, nicht gefährden.

So sind wir: Immer bemüht, den richtigen Ton zu treffen, damit sich ja niemand vor den Kopf geschlagen fühlt.

Nicht einmal die bekannten Diktatorenanschmuser Viktor Orbán und Gerhard Schröder würden vermutlich bestreiten, dass eine Welt ohne Mullahs eine bessere Welt wäre. Hinter nahezu jeder Terrorgruppe, die dem Westen den Krieg erklärt, steckt der Iran. Führt das dazu, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um dem iranischen Regime das Überleben so schwer wie möglich zu machen? Selbstverständlich nicht. Wir schaffen es ja noch nicht einmal, die iranischen Revolutionsgarden als terroristische Organisation einzustufen.

Einem Artikel in der „Welt“ habe ich entnommen, dass wir im Zweifel sogar dabei behilflich sind, iranische Moralvorstellungen nach Deutschland zu exportieren. Vor dem Islamischen Zentrum in Hamburg, einem Außenposten des Mullahregimes, demonstrierte ein Trupp Exiliraner. Einige der Demonstranten verbrannten dabei einige Koranseiten.

In Deutschland läuft so etwas unter Religionskritik. Die Zeiten, als die Obrigkeit die Entweihung religiöser Symbole als Provokation empfand, sind lange vorbei. So sah es auch die Polizei, die herbeigerufen wurde, um die Personalien der Demonstranten aufzunehmen.

Aber dann beschwerte sich das iranische Generalkonsulat in Hamburg und verlangte eine „Verurteilung dieses kriminellen und höchst provokativen Aktes“. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen „gemeinschaftlicher Beschimpfung von Glaubensbekenntnissen“. Man will ja schließlich die Mullahs nicht gegen sich aufbringen!

Obacht also liebe Leute, wenn ihr das nächste Mal ein Kreuz zertrümmert oder eine Christusstatue entweiht: Die Strafe folgt auf dem Fuße. Kleiner Scherz. Die Empfindlichkeit gilt selbstverständlich nur bei Symbolen fremder Mächte. Die eigene Religion darf man trashen, so viel man will. Da kann man sogar den Papst mit vollgepinkelter Soutane zeigen, ohne dass von Staats wegen ein Hahn danach kräht. Neueste Variante übrigens im Fall Sharmahd: Der Verurteilte sei gar nicht hingerichtet worden, sondern kurz zuvor einfach verstorben, erklärte jetzt ein Justizsprecher der Behörde in Teheran.

Die deutsche Außenpolitik krankte schon immer am Missverhältnis zwischen Anspruch und Möglichkeiten. Seit Wochen ist Annalena Baerbock im Nahen Osten unterwegs, um eine Eskalation zu verhindern, wie das in der Sprache der „stillen Diplomatie“ heißt. Die beiden anderen Begriffe, die in dem Zusammenhang unweigerlich fallen, sind „Gewaltspirale“ und „Flächenbrand“.

Die Shuttlediplomatie ist natürlich ein Witz. Die Einzigen, die im Nahen Osten etwas zu sagen haben, sind die Amerikaner. Wenn die USA morgen ein Waffenembargo beschließen, kommt eine Woche später kein Kampfjet mehr vom Boden. Wenn die Deutschen damit drohen, keine Waffen mehr zu liefern, fehlen ein paar Helme. Das macht die Appelle der Ministerin unfreiwillig komisch.

Die Region, wo wir etwas ausrichten könnten, wäre die Ukraine. Aber da ziehen wir es vor, uns vornehm zurückzuhalten.

Ich habe dieser Tage ein bemerkenswertes Interview mit dem Osteuropaexperten Jan Claas Behrends gehört. Er könne ja nachvollziehen, dass die Bundesregierung der Ukraine keine Taurus in die Hand geben wolle, sagte er darin. Aber weshalb sie nicht einmal den Versuch mache, von den Russen eine Gegenleistung zu verlangen, sei ihm unbegreiflich. Man könnte ja zum Beispiel fordern, dass sie aufhören Krankenhäuser, Kindergärten und Kraftwerke zu beschießen. Der einzige, der ständig rote Linien aufstellt, die wir dann auch noch peinlich genau beachten, ist Putin. Auch so verliert man einen Krieg.

Wir hätten die Möglichkeit, den Krieg zu wenden. Noch ein Jahr, so sagen es die Militärs, und der Mann im Kreml bekomme ernsthafte Schwierigkeiten, weil ihm die Soldaten ausgingen. 1000 Tote am Tag, das hält auf Dauer nicht einmal Russland durch. Aber so weit möchte man es wiederum bei der SPD nicht kommen lassen. Tatsächlich ist die Unterstützung für die Ukraine so kalibriert, dass uns niemand vorwerfen kann, wir würden das Land schutzlos dem Feind überlassen. Aber wir liefern eben auch nie so viel, dass es sich wirklich verteidigen kann.

Die Einzigen, mit denen wir uns anlegen, sind Donald Trump und seine Leute. Da gibt auch der brave deutsche Diplomat seine Zurückhaltung auf und zeigt mal, was in ihm steckt. Dass wir nichts sind ohne den Raketenschutz aus Washington? Egal. Kamala Harris heißt unsere Heldin. So steuern wir auch außenpolitisch ohne Kompass und Segel dahin, getrieben allein von der Hoffnung, dass am Ende schon die Richtigen gewinnen.

Zum Schluss doch noch eine gute Nachricht. Wir finanzieren Solarmodule auf marokkanischen Moscheen. Kein Witz, acht Millionen Euro ist uns der Spaß wert. Wie es der Zufall wollte, ertönte neben mir gerade der Ruf des Muezzin, als ich davon las. Ich verbringe die Herbstferien regelmäßig mit der Familie in Marrakesch. Ich hatte also Gelegenheit, mich vom baulichen Zustand der marokkanischen Moscheen zu überzeugen.

Das Land leidet an Wassermangel, aber nicht an einem Mangel an Strom. Auch das Solarmodul ist dort wohl bekannt. Das Entwicklungshilfeministerium hat das Projekt nichtsdestotrotz in Auftrag gegeben, um auch den marokkanischen Imam in Sachen Energieeffizienz zu „sensibilisieren”, wie es in den Unterlagen heißt. Außerdem habe man das Thema Geschlechtergerechtigkeit adressiert: Sechs von neun Mitarbeitern, die man über die Vorteile erneuerbarer Energien unterrichtet habe, seien Frauen gewesen.

Man könnte verzweifeln, wenn es nicht so komisch wäre.

Mehr Trump wagen

Viele Politiker haben in Wahrheit Angst vor Menschen. Abstrakt finden sie Demokratie prima. Aber wenn es konkret wird, würden sie am liebsten davonlaufen. Kein Wunder, dass das Vertrauen in die Politik ständig sinkt

Einmal war ich mit Klaus Wowereit im Wahlkampf unterwegs. Der erste Stopp: ein Einkaufszentrum in Berlin-Lichtenberg. Die Zeitungen waren wieder voll mit Nachrichten, was alles in Berlin schieflief, aber Wowereit schnappte sich kurzerhand ein Bund Rosen vom Wahlkampfstand und rannte auf ein Rentnerpärchen am Eingang des „Ring Center“ zu.

„Na“, sagte er, „wie jeht’s denn so?“

Dann guckte er der Frau in die Einkaufstasche.

„Passen Sie auf, dass Ihr Mann nicht vom Fleisch fällt. Es sei denn, Sie wollen ihn nicht mehr.“ Allgemeines Gelächter.

Nächste Station dann ein Imbiss im ersten Stock. Vor Tellern mit riesigen Hawaii-Toasts zwei junge Frauen, die offenbar ihr zweites Frühstück einnahmen. Wowereit steuerte schnurgerade auf den Tisch zu und beugte sich hinunter.

„Na, die Portion ist ja auch nicht zu klein geraten.“

Kurze Schrecksekunde bei den beiden Imbisskundinnen. Dann erneut Gelächter.

Man kann nicht behaupten, dass sich Wowereit beim Wähler angebiedert hätte. Aber natürlich hatte er am Ende die Nase vorn. Wenn er gewollt hätte, wäre er auch ein viertes Mal gewählt worden – trotz Flughafen-debakel, mieser Pisa-Ergebnisse und brennender Autos. Er hat es dann vorgezogen, sich aus der Politik zu verabschieden, bevor andere meinten, es sei Zeit zu gehen.

Ich habe auch Christian Ude im Wahlkampf beobachtet. Bevor es zu den ernsten Themen kam: erst einmal zwei Gags zum Aufwärmen. So fing bei dem Münchner Oberbürgermeister der Abend an. Man kann das furchtbar unseriös finden, aber es ist eben sehr viel unterhaltsamer als diese papierenen Reden, in denen ein Programmpunkt nach dem anderen abgearbeitet wird.

Nach seiner langen Karriere als Bürgermeister war Ude als Stand-up-Comedian auf Tour. Auch das: hochzweifelhaft. Andererseits als Politiker einen Raum voller Leute zu unterhalten, die dafür sogar bezahlt haben, wer kann das schon? Das setzt ein gerütteltes Maß an Selbstironie-fähigkeit voraus. Einer der wenigen, die in Bayern über ein ähnliches komödiantisches Talent verfügen, ist der bayerische Justizminister Georg Eisenreich. Wenn mich nicht alles täuscht, steht dem Mann eine große Karriere bevor.

Warum ich das erzähle? Weil wir uns gelegentlich daran erinnern sollten, dass es vor noch gar nicht so langer Zeit Politiker gab, bei denen man nicht sofort in Deckung ging, wenn sie auftauchten. Wir denken, Politiker müssten so sein wie Olaf Scholz oder Friedrich Merz, also wie Leute, bei denen jeder weiß, dass es furchtbar anstrengend wird, sollte man versehentlich in Rufweite geraten.

Ich habe einmal den Fehler gemacht, mich bei einem Sommerfest neben Olaf Scholz zu stellen. Erst folgte ein Vortrag über die Anfänge der SPD in Hamburg-Wandsbek, dann ein Vortrag über die SPD in Hamburg-Volksdorf. Nach 30 Minuten habe ich einen Hustenanfall vorgetäuscht, der mich dazu zwang, mich aus der Gruppe der Zuhörer zu entfernen.

Heute steht das Volkstümliche unter Verdacht. Wenn ein Politiker einen anderen schmähen will, dann wirft er ihm vor, ein Populist zu sein. Besser Populist als Langweiler, würde ich sagen. Aber mit dieser Meinung stehe ich erkennbar auf verlorenem Posten.

Alle Augen sind dieser Tage auf Kamala Harris gerichtet. „Kann sie die Welt retten?“, lautet die Frage bei „Stern“, „Zeit“ und „Süddeutscher Zeitung“ – wobei die Frage ja bereits die Antwort beinhaltet. Allenthalben wird gerätselt, wie es einem verurteilten Straftäter mit erratischem Verhalten und aus-geprägten Rachefantasien gelingen kann, in den Umfragen so weit aufzuschließen, dass ein Wahlsieg immer wahrscheinlicher wird.

Was ist das Geheimnis von Donald Trump? Dass er sich nicht verstellt, wäre meine Vermutung. In einer Zeit, in der alles mehr oder weniger nur noch Fassade zu sein scheint, geht davon eine enorme Verführungskraft aus.

Trump ist immer ganz bei sich. Er sagt, was ihm durch den Kopf geht, egal, was die anderen dazu denken. Wenn ihn die Berater in eine Richtung zu schubsen versuchen, neigt er sich aus Prinzip in die andere. Man merkt ihm auch sofort an, wenn er sich geschmeichelt fühlt oder sich ärgert.

Vor zwei Wochen war Trump bei McDonald’s. Seine Gegenspielerin hatte behauptet, sie habe als Studentin bei McDonald’s gearbeitet. Also tauchte er in einem Drive Thru auf, zog sich eine Schürze an und ließ sich in die Bedienung der Fritteuse unterweisen. Anschließend trat er vor die Kameras und sagte, er habe jetzt mehr Zeit bei McDonald’s verbracht als Kamala Harris in ihrem ganzen Leben.

Klar, es war ein Stunt, eine Inszenierung, wie sie in ihrer Schamlosigkeit nur Trump einfällt. Aber das Bemerkenswerte war: Es war an keiner Stelle peinlich. Trump ist immer Trump. Er findet sofort einen Draht zu den Leuten, mit denen er spricht. Er verhält sich auch nie von oben herab oder anbiedernd.

Man muss sich nur für einen Moment vorstellen, Kamala Harris hätte sich an den Burger-Grill gestellt. Es hätte mit einem Vortrag über die Gefahren von Fast Food begonnen. Oder, schlimmer noch: Einem Bekenntnis, dass sie früher auch gerne mal in einen Burger gebissen habe, weil ihr plötzlich eingefallen wäre, wie wichtig es sei, ihre Verbindungen zur Arbeiterklasse zu unterstreichen. Trump hat so etwas nicht nötig. Wenn es nach ihm ginge, könnte es jeden Tag Big Mac geben.

Wer volkstümlich ist, steht im Verdacht, den intellektuellen Anforderungen des Amtes nicht gewachsen zu sein. Das muss man als Politiker aushalten können.

Ich erinnere mich an eine der ersten Pressekonferenzen mit Kurt Beck, nachdem sie ihn zum SPD-Chef bestimmt hatten. Beck konnte auf eine beeindruckende Reihe von Erfolgen verweisen, kaum ein Ministerpräsident war so beliebt wie er. Aber das nützte ihm nichts.

Schon wie er aussah, mit dem Mecki-Schnitt und dem eigenartigen Bart, gab Anlass zu Spott. Dazu die verwaschene Ausdrucksweise seiner pfälzischen Heimat. Alles an diesem Mann strömte Provinz aus. So wurde er auch behandelt, als Provinzei, das sich in die Hauptstadt verwirrt hatte, ein Missverständnis auf zwei Beinen.

Zwei Jahre ging das so, dann zog Beck sich schwer verwundet zurück. Noch Jahre später konnte er Auskunft geben, wie ihn die Verachtung und Hochmütigkeit der Berliner Blase getroffen hatte.

Meiner Beobachtung nach haben mehr Politiker Angst vor Menschen, als man meinen sollte. Sicher, abstrakt finden sie das Volk prima. Demokratie heißt schließlich, den Mehrheitswillen zu organisieren. Aber wenn es konkret wird, bekommen viele Beklemmungen.

Man sieht es an der verdrucksten Art, mit der sie sich dem Wähler nähern, so als gehe von diesem eine unbestimmte Gefahr aus. Da stehen sie dann vor dem Obststand oder der Werkbank und stellen unbeholfene Fragen, weil ihnen die Berater gesagt haben, sie müssten sich zugänglicher zeigen. Entsprechend groß ist die Erleichterung, wenn alles vorbei ist und man wieder im Wahlkampf-Bus hockt.

Vielleicht ginge es der Politik besser, wenn es weniger Berater gäbe. Jeder Politiker hat heute einen Tross von Leuten um sich, die darüber wachen, dass nichts Unvorhergesehenes passiert. Wehe, jemand durchstößt den Kokon, dann herrscht Panik.

Ich glaube, es gibt ein riesiges Bedürfnis nach Politikern, die so reden, dass man das Gefühl hat, sie meinen, was sie sagen. Die meisten von ihnen haben furchtbar Angst, etwas falsch zu machen.

Ich weiß, ich lehne mich hier weit aus dem Fenster, aber wenn ich einen Rat hätte, dann wäre der: mehr Trump wagen.

© Michael Szyszka