Monat: Februar 2020

Können Worte töten?

Was in der Debatte um Amokläufe die Videospiele sind, das sind nach der Tat von Hanau die Texte bestimmter Autoren. Wer den Terror von rechts bekämpfen wolle, müsse auch gegen die Stichwortgeber vorgehen, heißt es jetzt. Ist es so einfach?

Im Frühjahr 1972, nachdem die erste Generation der RAF längst den Weg in den Untergrund gefunden hatte, betrat ein neuer Tätertypus die politische Bühne: der Sympathisant. Sympathie ist eigentlich etwas Positives. Wer mit anderen mitfühlt, gilt normalerweise als guter Christenmensch. Nun fielen unter den Begriff alle, bei denen eine ideologische Nähe zum Terrorismus vermutet werden konnte. Dazu reichte es schon, dass man das Vorgehen des Staates kritisierte.

Der Sympathisant war vor allem in der Szene der Intellektuellen zu finden, unter Schriftstellern, Journalisten und Hochschulprofessoren. Wenn der Terroristenjäger Horst Herold davon sprach, dass man den Sympathisantensumpf trockenlegen müsse, waren Leute wie Heinrich Böll oder Günter Wallraff gemeint.

Der Sympathisant ist zurück – und mit ihm die Gesinnungsjagd. Die Bölls von heute heißen Tichy, Broder oder Sarrazin. Sie sind es, die der Gewalt den Weg bereiten, die sich dann in Taten wie in Hanau entlädt – jedenfalls wenn man den aufgeklärten Zeitgenossen glauben darf. Wer den Terror von rechts bekämpfen wolle, müsse nicht nur Waffengesetze verschärfen und den Fahndungsdruck erhöhen, heißt es, er müsse auch gegen die Anstifter an den Schreibtischen vorgehen. „Wir müssen die Stichwortgeber benennen“, forderte der Fernsehmoderator Jan Böhmermann vergangene Woche.

Es ist Mode geworden, Deutschland im Jahr 2020 mit der Weimarer Republik der zwanziger Jahre zu vergleichen, jenem fiebrigen Jahrzehnt, das in der Raserei des Nationalsozialismus endete. Ich habe das immer für Unsinn gehalten. Weder durchlebt Deutschland eine Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, noch gibt es einen Versailler Vertrag, der die Nation beschwert. Wenn man nach Referenzpunkten in der Geschichte suchen will, liegt der Vergleich mit den siebziger Jahren sehr viel näher. Das ist das Jahrzehnt, das sich als historische Parallele anbietet.

Alles ist wieder da: das Gefühl, dass freiheitliche Ordnung und Rechtsstaat in Gefahr sind; die Erschütterung der politischen Elite, die nicht weiß, wie sie reagieren soll; die Unversöhnlichkeit, mit der sich Linke und Rechte gegenüberstehen. Auch der Terror ist zurück und mit ihm die Frage, welche Verantwortung Leute tragen, die von aufmerksamen Zeitgenossen als Stichwortgeber identifiziert wurden. Sogar die alte Sprache feiert ein Comeback. Erstmals seit Längerem ist in den Leitartikeln wieder vom „Sumpf“ die Rede, den es auszutrocknen gelte.

Glaubt man den Sympathisantenjägern von heute, ist die Sache denkbar einfach: Erst redet eine AfD-Politikerin im Bundestag über „Kopftuchmädchen“ und „Messermänner“. Dann schreibt es ein Journalist auf, nicht in diesen Worten, aber dem Sinn nach. Anschließend nimmt jemand in Hanau oder anderswo sein Gewehr aus dem Schrank, weil er sich ermuntert fühlt, in die Tat umzusetzen, was andere nur denken. Was in der Debatte um Amokläufe an Schulen die Videospiele sind, sind jetzt die Texte rechter Blogger und Autoren. Seht her, heißt, es, so etwas kommt von so was. Oder wie der „Spiegel“ vor 40 Jahren schrieb: „Mord beginnt beim bösen Wort.“

Aber ist es so einfach? Natürlich haben Worte Folgen, manchmal sogar dramatische. Sprache ist gelenktes Denken, wie man in Abwandlung eines Wortes von Jean-Paul Sartre sagen könnte. Deshalb sollte man sich jeder aufpeitschenden und hetzerischen Sprache enthalten, wenn man nicht will, dass die Welt um einen herum aufgepeitschter und hetzerischer wird. Diese Zurückhaltung ist erst recht Journalisten zu empfehlen. Wer in den Schützengraben steigt, verliert schnell den Überblick – egal, auf welche Seite er sich stellt.

Ich weiß allerdings aus Erfahrung, wie flüchtig Menschen Texte lesen und auf welche absurden Deutungen sie manchmal kommen. Müsste ich bei jedem Satz abwägen, ob die Gefahr besteht, dass ihn jemand falsch versteht, könnte ich meinen Beruf an den Nagel hängen. Wer einen Autor für die Handlungen seines Publikums in Haftung nimmt, inklusive des Teils, der verrückt ist, bürdet ihm eine Verantwortung auf, die beängstigend ist. Aber vielleicht soll sie das ja auch sein?

Dass der Schütze von Hanau unter einer Störung litt, die eine Behandlung hätte angezeigt sein lassen, ist inzwischen hinreichend etabliert. In gewisser Weise ist jeder Attentäter psychisch lädiert, wäre es anders, würde er nicht zum Attentäter. Trotzdem ist die Frage der Zurechnungsfähigkeit für die Klärung der Schuldfrage wesentlich.

Wo die Grenze zwischen Krankheit und Extremismus verläuft, vermag die forensische Psychiatrie ziemlich genau zu sagen. Es deutet viel darauf hin, dass der Täter von Hanau kein fanatisierter Ideologe war, den seine Überzeugungen immer tiefer in seine Wahnwelt führten, sondern dass der Wahn der Ideologie vorgelagert war, sich die psychische Störung also nachträglich politisierte.

Der Psychotiker füllt seinen Wahn durch radikale Inhalte auf, wie das die Psychiaterin Nahlah Saimeh beschrieben hat. Manche Zwangsvorstellungen eignen sich dafür besser als andere. Dass die Bundesregierung insgeheim daran arbeite, das deutsche Staatsvolk auszutauschen, ist als Zwangsidee anschlussfähiger als der Glaube an den Tod der Biene und ein dadurch ausgelöstes Massensterben der Menschheit. Grundsätzlich sind allerdings alle Ängste als Themen in den Wahn einbaubar. Es würde sie nicht wundern, wenn demnächst der Klimawandel in das psychotische Denken eingebaut würde und Menschen mit einer akuten Psychose bizarre Dinge tun würden, um den Klimawandel aufzuhalten, hat Saimeh vor Monaten zu Protokoll gegeben.

Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein radikalisierter Psychotiker zur Waffe greift, also eine der Opportunität. Wer der Meinung ist, dass die Ausländer unser Unglück seien, kann eine Shisha-Bar aufsuchen und jeden erschießen, der irgendwie anders als er selbst aussieht. Wer ein Fanal gegen den Klimawandel setzen will, hat es da schwerer. Gegen wen soll sich der Anschlag richten: Gegen Lufthansa-Piloten? Oder die Vorstände großer Tourismuskonzerne?

Ich glaube, wir wären ein großes Stück weiter, wenn man sich darauf verständigen könnte, dass man nicht laufend die Maßstäbe verändert, nur weil es einem opportun erscheint. Wer bei jedem Anschlag, bei dem der Täter „Allahu akbar“ schreit, darauf besteht, dass der Attentäter kein Islamist, sondern lediglich ein verwirrter Geist sei, ist in einer schlechten Ausgangsposition, um jetzt alle psychologischen Erklärungen vom Tisch zu wischen. Das gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Wenn das führende AfD-Personal meint, dass die Morde in Hanau nichts mit Ideologie zu tun haben, muss die Frage erlaubt sein, warum sie dann bei jedem Muslim die Religion ins Schaufenster stellen.

Ausgerechnet der damalige Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau erinnerte 1977 in einem „Spiegel“-Beitrag an den Unterschied zwischen dem Radikalismus der Tat und dem Radikalismus im Denken: „Das Strafrecht kennt den Begriff des Sympathisanten nicht. Es unterscheidet ‚Täter‘, ‚Gehilfen‘, ‚Begünstiger‘. Da wird nicht mit Vermutungen operiert. Da müssen Tatsachen bewiesen werden, Tatsachen, aus denen hervorgeht, welchen Beitrag einer zur Tat geleistet hat.“ Auch das sind Sätze, an die zu erinnern sich wieder lohnt.

Der Sozialist als Wutbürger

Bodo Ramelow gilt als Vorzeigedemokrat, der erst ans Land und dann an die Partei denkt. Dabei gibt es kaum einen Politiker, der so mit sich selbst beschäftigt ist wie der Mann aus Thüringen. Schon die leiseste Kritik führt ihn an seine Belastungsgrenze

Er sei das Bürgerlichste, was in Thüringen herumlaufe, hat der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt. Das hat mir zu denken gegeben.

Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, in der es als Stigma galt, als bürgerlich zu gelten. Heute wollen alle bürgerlich sein – die AfD, die Sozialdemokraten, die Grünen ohnehin. Jetzt also auch die Leute von der Linkspartei. Was früher ein Zeichen von Langeweile und Spießigkeit war, steht nun für Verlässlichkeit und Solidität. Bürgerlich zu sein ist die Zusicherung, dass man als Politiker keinen Quatsch macht, wenn man an die Regierung kommt. Seht her, ihr könnt mir vertrauen, lautet das Versprechen.

Wenn man sich Ramelow ansieht, muss man sagen: Bürgerlicher geht’s nicht. Er verlässt nie ohne Anzug und Krawatte das Haus. Sein Hund, ein Jack-Russell-Terrier namens „Attila“, ist fast so berühmt wie er selbst. Allerdings sieht auch Björn Höcke sehr bürgerlich aus. Auch Herr Höcke legt Wert auf eine gepflegte Erscheinung und trägt immer Anzug, wenn er vor die Tür tritt.

Der äußere Schein kann trügen, weshalb in den vergangenen Wochen verschiedentlich darauf hingewiesen wurde, dass Bürgerlichkeit vor allem eine Frage der inneren Haltung ist, die mit Selbstbeherrschung, politischer Reife und einer freundlichen Gelassenheit angesichts der Zumutungen der Welt einhergeht.

Gelassenheit ist nicht Ramelows stärkste Seite. Schon die einfachsten Fragen führen ihn an seine Grenzen. Ich spreche hier aus Erfahrung. Ramelow ist der einzige Politiker, den ich getroffen habe, der ein Interview abbrach, weil ihm die Zielrichtung nicht passte.

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, aber während eines Gesprächs in seinem Büro beklagte er sich bei mir, dass er jahrelang vom Verfassungsschutz beobachtet worden sei, worauf ich erwiderte, dass ich vollstes Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden hätte und deshalb selbstverständlich davon ausginge, dass der Verfassungsschutz seine Gründe gehabt habe. Das reichte, um mich des Zimmers zu verweisen. Ein Kollege hat dann das Interview ohne mich zu Ende geführt.

Ramelow hat auch schon Interviews mit dem MDR oder dem Video-Blogger Tilo Jung zwischendurch abgebrochen. Vergangene Woche saß er bei Sandra Maischberger. Als sie ihn als „sozialistischen Ministerpräsidenten“ ansprach, war es fast wieder so weit, dass er aufgestanden und gegangen wäre. Gleich im ersten Satz des Parteiprogramms der Linkspartei steht, dass sie eine „sozialistische Partei“ sei. Ich kann mir den Widerspruch nur so erklären, dass Ramelow wie viele autoritär veranlagte Menschen an einem Übermaß an Ichbezug leidet. Wer alles auf sich bezieht, verliert irgendwann den Kontakt zur Realität.

Wie sehr ihn der Verlust seines Amtes getroffen hat, offenbarte er in der Sendung bei „Maischberger“, als er über die „schweren Zeiten“ sprach, die er durchlitten habe. Er habe das Massaker am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt erlebt und den Hungerstreik der Kalikumpel in Bischofferode, sagte er, „aber so was, was ich seit Mittwoch erlebe, was meine Familie erlebt, das haben wir noch nicht erlebt“.

Ich glaube gern, dass eine Wahlniederlage für einen Politiker eine traumatische Erfahrung sein kann. Demokratie ist manchmal einfach Mist. Aber so tragisch wie ein Amoklauf? Hoffen wir, dass die Überlebenden des Schulmassakers am Gutenberg-Gymnasium um 22.45 Uhr nicht mehr vor dem Fernseher sitzen. Ich denke, sie würden Herrn Ramelow sonst gern darüber aufklären, dass es sicher schlimm ist, wenn sich die eigenen Karrierepläne zerschlagen, aber das es deutlich schlimmer ist, wenn man Mitschüler im Kugelhagel verliert.

Überall kann man jetzt lesen, dass die Linkspartei eine Partei wie alle andern sei (ausgenommen die AfD selbstverständlich, mit der will niemand verglichen werden). Die Digital-Intellektuelle Marina Weisband brachte diese Einschätzung vorbildhaft auf den Punkt, als sie zum Vergleich von AfD und Linkspartei schrieb, dass man Faschismus und kostenlose Kitaplätze nicht gleichsetzen könne.

Ich vermute, dass vielen Menschen bei SED mehr einfällt als kostenlose Kitaplätze, korrigieren Sie mich, wenn ich falschliegen sollte. Außerdem kann eine Partei trotz sozialer Wohltaten ein Verein sein, den man besser nicht wählt. Was den Ausbau des Sozialstaats angeht, kann man auch den Nationalsozialisten keinen Vorwurf machen. Eine Reihe von sozialen Errungenschaften, auf die wir bis heute stolz sind, verdanken wir dem „Führer“, angefangen beim Kindergeld oder dem Mieterschutz.

Jede Partei hat ihren Narrensaum, bei der Linken ist der Saum allerdings besonders reich verziert. Zwei Namen: Die Vizechefin der Fraktion der Linken im Bundestag, Heike Hänsel, ist ein so glühender Fan des venezolanischen Diktators Maduro, dass der „Spiegel“ sie neulich als „Vertreterin einer verrückten Sekte“ einstufte. Über die stellvertretende Parteivorsitzende Janine Wissler kann man auf ihrer Wikipedia-Seite lesen: „Janine Wissler lehnt den Kapitalismus als ‚unmenschliches, grausames System‘ ab. Das Einführen einer ‚klassenlosen Gesellschaft’ könne nicht durch ‚Parlamente und Regierungen‘ geschehen.“

Mag sein, dass Leute wie Hänsel oder Wissler in der Linkspartei nicht viel zu sagen haben. Ich will trotzdem nicht von Politikern regiert werden, die auf Pilgerfahrt nach Caracas gehen oder darüber nachsinnen, wie man das parlamentarische System aushebeln könne. Nennen Sie mich altmodisch: Ich habe es einfach lieber, wenn an der Regierung Parteien beteiligt sind, die kein Fall für den Verfassungsschutz sind.

Eine gewisse Doppelbödigkeit gehört zum politischen Geschäft. Aber wer die Toten von Buchenwald exhumiert, um sich gegenüber dem politischen Gegner in Szene zu setzen, muss sich strengere Maßstäbe an moralische Konsistenz gefallen lassen. Ausgerechnet bei der Vergangenheitsbewältigung nimmt es die Linkspartei selbst nicht so genau. Die DDR ein Unrechtsstaat? Das könne man so nicht sagen, findet Ramelow. Schießbefehl an der Grenze? Nicht wirklich bewiesen, sagt er. Wer weiß, vielleicht lernen wir demnächst, dass die Mauer eigentlich gar keine Mauer war.

Ich habe für solche Verrenkungen sogar Verständnis. Wer viele Ehemalige in den eigenen Reihen hat, tut gut daran, sie nicht zu verärgern. Das war bei der CDU bis in die siebziger Jahre nicht anders, weshalb man auch dort verlässlich die schützende Hand über die alten Kameraden hielt. Nur sollte man sich dann vielleicht nicht zu sehr ins Zeug legen, wenn es um die Verfehlungen bei anderen geht.

Im Netz machte über das Wochenende ein kurzer Videoclip Karriere, in dem zu sehen ist, wie Ramelows Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff wenige Tage vor der Ministerpräsidentenwahl erklärte, weshalb es kein Beinbruch sei, wenn eine rot-grüne Minderheitsregierung ihre Gesetze mithilfe von Stimmen aus der AfD durchbringe. Zwei Wochen später gilt jede Unterstützung durch die AfD als unentschuldbarer Tabubruch.

Ich glaube, dass Ramelow in China ein sehr glücklicher Mensch wäre. In China gibt es weder freche Journalisten noch eine Öffentlichkeit, die einen mit alten Äußerungen oder Ankündigungen in Verlegenheit bringen könnte.

Die Demokratie der anderen

Bei der Korrektur der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen geht es um viel mehr als das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zur AfD. Tatsächlich erleben wir nicht weniger als eine Neudefinition der politischen Mitte

Anfang der sechziger Jahre entwickelten amerikanische Politikwissenschaftler eine Idee, die als „Realignment Theory“ Bekanntheit erlangte. Sie besagte, dass es Wahlen gibt, die in der Geschichte einer Nation herausragen, weil mit ihnen eine dramatische Neuordnung der politischen Landschaft einhergeht. Programme, Wählerbindung, mögliche Allianzen – alles muss anschließend neu bewertet werden.

Der Begriff „Realignment“ ist schwer zu übersetzen, es gibt kein richtiges deutsches Äquivalent. Vielleicht „Neuausrichtung“ – aber das ist zu schwach, weil es den gewaltsamen Aspekt des Vorgangs verkennt. Bis heute gilt das Realignment als eine Art Heiliger Gral der Politik. Wem es gelingt, die Polit-Geografie in seinem Sinne zu formen, kann seine Gegner auf Jahre in die Defensive bringen.

Auch wir werden gerade Zeuge eines Realignments. Zu glauben, bei der Korrektur der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen gehe es um das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zur AfD, hieße, die Dinge zu unterschätzen. Tatsächlich erleben wir nicht weniger als eine Neudefinition der politischen Mitte und damit eine grundlegende Transformation der Statik, auf der das politische System seit 70 Jahren ruht.

Die Definition, wer zur Mitte gehört und wer nicht, ist weit mehr als ein semantischer Akt. Es ist eine Verständigung darüber, wer ins Zentrum der Macht vorstoßen kann und darf. Bislang gab es in der Bundesrepublik die Übereinkunft, dass die Mitte zwischen den politischen Lagern liege, also zwischen ganz links und ganz rechts. Das entspricht auch dem Gefühl der Wähler.

Wer sich zu weit nach außen entfernte, dem traute man vielleicht die Beteiligung an einer Landesregierung zu, aber der Weg ins Kanzleramt blieb versperrt. Voraussetzung für den Eintritt in die Bundesregierung war eine Entradikalisierung, erst des Programms und dann des Personals. Das galt für die SPD, die erst den Kanzler zu stellen vermochte, nachdem sie sich in Bad Godesberg vom Sozialismus losgesagt hatte. Und das galt auch für die Grünen bei ihrem Marsch durch die Institutionen.

Wie die neue Mitte aussieht, ist bislang nur in Umrissen erkennbar. Aber schon jetzt lässt sich sagen, dass ihre Demarkationslinien durch unerschlossenes Territorium verlaufen. Die Vorsitzende der Linkspartei in Thüringen hat eine erste Grenze abgesteckt, als sie davon sprach, dass CDU und FDP die Chance hätten, die „Reihen der Demokraten wieder zu schließen“, indem sie sich hinter Bodo Ramelow versammelten.

Die Reihe der Demokraten beginnt nach diesem Verständnis beim Marxistischen Forum beziehungsweise den Maduro-Fans, die das Loblied des venezolanischen Diktators singen, und endet bei den fortschrittlich gesinnten Kräften im bürgerlichen Lager, die nach dem Debakel von Erfurt bereit sind, jeden Schwur zu leisten, damit man ihnen vergibt. Alles, was jenseits liegt, angefangen bei Unions-Politikern, die der Linkspartei genauso misstrauen wie der AfD, ist Teil des dunklen Deutschlands.

Wie alle abrupten Verschiebungen, vollzieht sich auch das Realignment nicht ohne Fissuren. Man sieht es zuerst im Sprachgebrauch. Sprache gibt Bahnen vor. Wenn die Leute plötzlich neue Brücken oder Abzweigungen einbauen, gerät man manchmal an Ziele, die man gar nicht erreichen wollte. Man nennt das Demagogie, könnte man in Verwendung eines Gedankens von Frank Schirrmacher sagen.

Eine demokratische, verfassungsrechtlich einwandfreie Wahl wird zum „Zivilisationsbruch“ und gerät damit sprachlich in die Nähe des Holocaust. Ein Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nimmt den Ball auf und spricht in einem Fernsehkommentar von „Endstation Buchenwald“. Ein abgewählter Ministerpräsident verschickt Bildchen, auf denen er den FDP-Vorsitzenden im Landtag mit Hindenburg vergleicht und den AfD-Vorsitzenden mit Hitler.

Dann folgen die personellen Erschütterungen. Wer nicht schnell genug Gefolgschaft gelobt oder sich für Gesinnungsfehler entschuldigt, findet sich im Abseits wieder. Im Zweifelsfall reicht ein zu früh abgesetzter Gratulationsgruß, um seinen Posten zu verlieren. Und das ist immer nur der Anfang. „Ihm werden viele folgen müssen“, schrieb der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert nach der Entlassung des Ostbeauftragten der Bundesregierung im Stil eines Mini-Danton, während sich der Mob vor den FDP-Parteibüros austobte.

Am Ende steht der Bruch formaler oder rechtlicher Prinzipien. Die Kanzlerin agiert so, als ob sie weiterhin Parteivorsitzende wäre, was die Demission der eigentlichen Parteivorsitzenden zur Folge hat. In Thüringen überlegt man, vor der nächsten geheimen Ministerpräsidentenwahl eine Dokumentationspflicht einzuführen, damit man sicher sein kann, dass Bodo Ramelow nicht mit Stimmen der AfD ins Amt zurückgehievt wurde.

Die CDU zur dominanten Kraft im linken Lager zu machen ist eine Strategie, die Angela Merkel seit Langem beharrlich verfolgt. Die große Koalition war bei ihren Vorgängern immer als Ausnahme gedacht, bevor man zur natürlichen Ordnung zurückkehren konnte, worunter die Koalition mit den Freidemokraten verstanden wurde. Merkel hat es nie so ausgesprochen, aber für sie war das Bündnis mit der SPD eine politische Heimatfindung.

Dass man Rot-Grün jetzt in der Union ganz neu denkt, also als Pakt mit den Grünen und, wenn es die Lage erfordern sollte, dann auch mit der Linkspartei, ist so gesehen nur konsequent. Man darf sich nicht täuschen: Der Unvereinbarkeitsbeschluss, der jede Zusammenarbeit mit der Linken verbietet, ist bestenfalls das Papier wert, auf dem er steht.

Die Wähler empfinden noch anders. Dieses Realignment ist ja nicht Ausdruck des Volkswillens, sondern eines von oben verordneten Kulturkampfs. Auch deshalb wird mit großem rhetorischem Aufwand versucht, dem Vorgang eine nachträgliche Legitimation zu verschaffen.

Kaum etwas hat die Linke immer schon so gehasst wie die Totalitarismusthese, wonach Nationalsozialismus und Kommunismus neben großen Unterschieden eben auch frappierende Ähnlichkeiten aufweisen. Es sei die Hufeisentheorie, die ins Unglück geführt habe, heißt es jetzt, also die Vorstellung, dass sich die Extreme berühren würden.

Genau besehen ist schon der Begriff „Mitte“ verdächtig, weil er ja insinuiert, dass es zwei Ränder gibt, also einen linken und einen rechten Rand. Dass es genau dieses Denken sei, das den Aufstieg der AfD erst möglich gemacht habe und das, wenn man nicht aufpasse, in Buchenwald ende, ist das Mantra der Stunde.

Unter den Bedingungen der Demokratie ist es wahnsinnig schwer, 30 bis 40 Prozent der Wähler von der Einflussnahme auf parlamentarische Prozesse auszuschließen. Und auf 30 bis 40 Prozent kommt man, wenn man zur AfD die Teile von CDU und FDP hinzuzählt, die nun unter Faschismusverdacht geraten sind. Man muss sich also etwas einfallen lassen.

In Nordrhein-Westfalen hat die SPD jetzt ein Gesetz vorbereitet, das verhindern soll, dass Gesetze den Landtag passieren, an denen sich die parlamentarische Rechte beteiligt hat. Wie sich dieses Anti-AfD-Dokumentationspflicht-Gesetz mit der Gewissensfreiheit des Abgeordneten verträgt, ist ein Rätsel. Aber wer weiß, vielleicht hat jemand ja noch eine gute Idee.

Rot-grüner Mainstream: Die zwei Gründe, weshalb Journalisten viel linker als das Land sind

Journalisten sehen sich gern als mutige Streiter wider den Mainstream. Leider legen die Zahlen nahe, dass es mit dem Widerspruchsgeist nicht so weit her ist. Die meisten Medienmenschen bewegen sich in einem Umfeld, in dem fast alle so denken wie sie selbst.

Ein typischer Tag beim Deutschlandfunk verläuft so: Eine Mode-Bloggerin erklärt anlässlich der Berlin Fashion Week, warum sie gegen Mode sei – weil Mode den Klimawandel befördere.

Ein junger Sprachwissenschaftler berichtet über die neuesten Initiativen, mithilfe gendergerechter Sprache zu einem besseren Verhältnis der Geschlechter zu kommen. Lehrer heißen bei dem in Köln beheimateten Sender nicht länger „Lehrer“, sondern „Lehrende“, wie man bei der Gelegenheit erfährt.

Es folgt ein Beitrag über „rassistische Elemente“ im Werk des berühmten „Brücke“-Malers Otto Müller. Das Bild „Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ zeige Frauen als „exotische Verführerinnen“ und tradiere so Klischees über Sinti und Roma, weshalb sich das Museum entschlossen habe, das Bild nur noch in Verbindung mit einem Dokumentarfilm zu zeigen.

Sie denken, ich übertreibe? Dann haben Sie seit Längerem nicht mehr Deutschlandfunk gehört. Weil auch anderen Hörern aufgefallen ist, dass weite Teile des Programms so klingen, als führten Annalena Baerbock und Robert Habeck die Oberaufsicht, hat sich ein Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ neulich einem Selbstversuch unterzogen. Sein Fazit: Früher hätten Konservative die öffentlich-rechtlichen Anstalten als „Rotfunk“ geschmäht, heute müsste man von einem „Grünfunk“ reden.

Insofern war ich doch überrascht, auf der Seite des Senders einen langen Text zu finden, warum es gar nicht wahr sei, dass das Herz des deutschen Journalisten links schlage. Tatsächlich sei es ein Vorurteil zu glauben, die Mehrheit in den Medien tendiere zu Rot-Grün.

Insbesondere linke Journalisten hören es nicht gern, wenn man sie links nennt, die Erfahrung habe ich schon öfter gemacht. Ich glaube, das hängt mit dem Selbstbild zusammen. Journalisten sehen sich gern als mutige Streiter wider den Mainstream. Wenn man sagt, dass sie in einem Umfeld arbeiten, indem die meisten so denken wie sie, schmälert das ein wenig den Heroismus. Wer gilt schon gern als Mitläufer?

Leider legen die Zahlen nahe, dass es mit dem Widerspruchsgeist nicht so weit her ist. Es gibt nicht viele Studien zu den politischen Vorlieben von Medienmenschen. Eine der größten stammt von 2005 und kommt vom Hamburger Institut für Journalistik. Danach verteilte sich die politische Sympathie wie folgt: Grüne 35,5 Prozent, SPD 26 Prozent, CDU 8,7 Prozent, FDP 6,3 Prozent, sonstige 4 Prozent, keine Partei 19,6 Prozent.

Jüngere Studien kommen zu einem ähnlichen Befund. Mal ist die Zahl derjenigen größer, die sich politisch nicht zuordnen wollen. Mal liegen die Sozialdemokraten besser, mal liegen sie schlechter. Aber am Trend ändert sich nichts: Wenn deutsche Journalisten den Bundeskanzler stellen könnten, käme der nicht aus dem bürgerlichen Lager.

Selbst in Redaktionen, in denen man es nicht erwarten sollte, gibt es eine klare Mehrheit für Rot-Grün. Bei der „Welt“, dem konservativen Flaggschiff des Springer-Konzerns, weiß man es genau, seit die Redaktion vor ein paar Jahren anlässlich einer Bundestagswahl eine Testwahl unter den Kollegen durchführte. Das Ergebnis hing dann zwei Wochen am schwarzen Brett des Springer-Hochhauses in Berlin, bis der Vorstand es abnehmen ließ, weil man nicht jedem Besucher auf die Nase binden wollte, dass der heimliche Lebenstraum eines „Welt“-Redakteurs ein Platz bei der „Süddeutschen“ ist.

Linke Medienkritiker weisen gern darauf hin, dass die Chefredakteure oft sehr viel konservativer sind als die Mannschaft. Das mag stimmen, aber es hat im Redaktionsalltag weniger Auswirkungen, als man annehmen sollte (oder sich der Chefredakteur einbildet). Es gibt viele Möglichkeiten, die Anweisung von oben zu unterlaufen – ich spreche aus Erfahrung. Themenvorschläge werden ignoriert, oder der Chefredakteur bekommt zu hören, dass sich leider keine Belege für seine These finden ließen.

Warum sind so viele Journalisten links eingestellt? Ein Grund ist das, was die Soziologie Selektionsverzerrung nennt. Der typische Journalist hat Germanistik, Geschichte oder Politik studiert. Jura oder Ingenieurwissenschaften, also Studiengänge, in denen man linken Gedanken abwartend gegenübersteht, kommen eher selten vor. Weshalb tendieren Geisteswissenschaftler so stark nach links? Die Betroffenen würden vermutlich sagen, weil ihnen die Gerechtigkeit besonders am Herzen liegt. Meine Antwort wäre, dass es sich um eine Art Kompensationshandlung handelt.

Mein Freund Roger Köppel, heute Chefredakteur der „Weltwoche“, hat das einmal so beschrieben: Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Bill Gates zur Schule gegangen. Jetzt sitzen Sie vor dem Fernseher, während eine Dokumentation über Ihren ehemaligen Klassenkameraden läuft. Der Kopf Ihrer Frau dreht sich, sie spüren schon den unausgesprochenen Vorwurf: „Bill Gates hat 50 Milliarden, du hast es nur zum Redakteur einer mittelgroßen Zeitung gebracht, was ist schiefgelaufen?“ Da haben Sie nur eine Chance, wie Sie sich herauswinden können. Sie sagen: „Das stimmt schon, Bill Gates ist viel reicher als ich. Aber ich habe mich nicht korrumpieren lassen. Ich bin nicht zum Kapitalistenschwein geworden.“

Ist es schlimm, dass die Mehrheit der Journalisten mit linken Ideen sympathisiert? Konservative klagen oft über die Voreingenommenheit der Medien. Was die Ungleichbehandlung der politischen Lager angeht, haben sie zweifellos Recht. Als Grüner kann man anstellen, was man will, ohne dass man schlechte Presse fürchten muss. Selbst der größte Unsinn wird mit Nachsicht quittiert. Wenn sich die bayerische Spitzengrüne Katharina Schulze bei „Markus Lanz“ um Kopf und Kragen redet, heißt es anschließend: Okay, der Auftritt war nicht optimal, aber sie ist eine so nette Person, da muss man doch nicht gleich draufhauen.

Die tröstliche Nachricht ist: Die Voreingenommenheit spielt für die Wahlentscheidung eine weit geringere Rolle, als man vermuten sollte. Wäre es anders, hätte Helmut Kohl nie Bundeskanzler werden können. Was wurde der Mann nicht verspottet, als Gimpel, als Tor, als Birne: Trotzdem wählten ihn die Deutschen mit so schöner Regelmäßigkeit, dass sich am Ende kaum noch jemand an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte. Woran man erkennen kann, dass sich die Leute eine eigene Meinung erlauben, allen Kommentaren oder auch Kolumnen zum Trotz.

Es wird übrigens nicht besser werden, was die politische Einseitigkeit angeht, das lässt sich schon jetzt sagen. Als ich auf der Journalistenschule war, gab es wenigstens noch ein paar Leute, die nicht Germanistik studiert hatten. Die sind heute alle verschwunden, in die Kanzleien oder in die Wirtschaftswelt.

Wer heute Journalist wird, muss entweder finanziell unabhängig sein – oder er ist sehr intrinsisch motiviert, also von einem starken Missionsgeist erfüllt. Es ist im Prinzip schön, wenn Menschen von ihrer Sache sehr überzeugt sind. Es kann leider nur furchtbar nerven, wenn sie alle ständig daran teilhaben lassen.

Wann sind wir bloß alle so empfindlich geworden?

Wir sind eine Gesellschaft unter permanentem Entschuldigungszwang. Irgendjemand fühlt sich immer beleidigt. Niemand sagt: „Reiß dich zusammen! Weine woanders!“ Dabei würde genau das helfen

Ein Bekannter erzählte mir beim Abendessen eine Geschichte. Sein Vater traf bei einem Empfang in München auf Gerhard Schröder. Der Abschied aus dem Kanzleramt lag zu diesem Zeitpunkt vier Monate zurück, über die Anschlussverwendung bei Gasprom hatten die Medien breit berichtet. Alle tranken Bier, nur Schröder hielt ein Glas Rotwein in der Hand.

„Na, das hat wohl Gasprom bezahlt“, sagte der Vater, in der Absicht, Schröder zu provozieren. Der erwiderte leichthin: „Wenn Gasprom bezahlt hätte, wäre das Glas deutlich größer.“

Manchmal wünsche ich mir Schröder zurück. Nicht unbedingt seine Politik, obwohl auch die ihre Vorzüge hatte. In jedem Fall aber die Coolness im Umgang mit Vorhaltungen und Kritik an seinem Lebensstil. Uns wird heute gesagt, so wie Schröder dürfe man nicht mehr auftreten. Ich höre schon das Stöhnen derjenigen, die sagen, einer wie Schröder sei völlig aus der Zeit gefallen. Das mag sein, der Mann ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber die Nonchalance, mit der er es ablehnte, sich für sein Verhalten oder seine Ansichten zu entschuldigen, finde ich vorbildlich.

Wir sind eine Gesellschaft unter permanentem Entschuldigungszwang. Irgendjemand fühlt sich immer beleidigt, sodass man aller Welt versichern muss, wie sehr es einem leidtue, welches Unrecht ihm und seinesgleichen widerfahren sei. Niemand sagt: „Reiß dich zusammen! Deal with it! Weine woanders!“ So etwas zu sagen gilt als unschicklich und schrecklich unsensibel.

Der Hang zur Empfindlichkeit ist keine Sache der politischen Präferenz. Was die Kränkungsbereitschaft angeht, hat die Rechte zur Linken aufgeschlossen. Man kann die Empfindlichkeit aber geografisch einengen. Wenn es so etwas wie einen Hotspot des eruptiven Beleidigtseins gibt, dann ist es die Universität. Nirgendwo ist die Wahrscheinlichkeit, einem Menschen mit fragilem Gemüt zu begegnen, größer als auf einem Campus.

Kaum eine Woche, in der nicht irgendwo Studenten die Fassung verlieren, weil entweder jemand auftritt, der nach ihrer Meinung nicht auftreten sollte. Oder weil ein Thema behandelt wird, von dem sie finden, dass es besser unbehandelt bliebe. Vorletzte Woche war es Frankfurt, wo eine Diskussion über das Kopftuch so aus dem Ruder lief, dass die Polizei kommen musste. Davor machte die Hamburger Uni mit Getobe rund um die Vorlesungsreihe des Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke Schlagzeilen.

Es wird auch immer bizarrer. Zum Jahreswechsel kündigte die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch den Besuch einer Veranstaltung zu „Klimawandel und Gender“ an der Freien Universität Berlin an. Sie interessiere brennend, was der Klimawandel mit dem Geschlechterverhältnis zu tun habe und ob Männer und Frauen unterschiedlich betroffen seien, schrieb sie. Das war erkennbar ironisch gemeint. Anderseits: Soll man nicht froh sein, wenn eine AfD-Abgeordnete ihr Milieu verlässt, um Neues zu erfahren? Wer weiß, vielleicht hört sie ja Dinge, die sie ins Nachdenken bringen. Man könnte es auf einen Versuch ankommen lassen.

Aber nein, kaum hatte Frau von Storch ihre Ankündigung verbreitet, forderte die Studentenvertretung von der Universitätsleitung ein „klares Zeichen gegen rechte Hetze“ und verlangte ein Hausverbot. Weil selbst in Berlin ein Unipräsident nicht einfach Leute aussperren kann, wie er lustig ist, wurde die Veranstaltung kurzerhand von den Organisatoren abgesagt. Selbstauflösung aus Angst vor der Seminarteilnahme einer bald 50-jährigen Politikerin: Das hat es in der deutschen Universitätsgeschichte noch nicht gegeben, würde ich vermuten.

Wir haben noch nicht amerikanische Zustände, wo sich die Studenten in spezielle Sicherheitszonen flüchten, wenn sie fürchten müssen, mit Gedanken oder Meinungen konfrontiert zu werden, die sie erschüttern könnten. Aber wir sind nicht mehr weit davon entfernt. Aus dem nichtigsten Anlass fallen junge Menschen von einer Ohnmacht in die andere. Wenn nicht gerade irgendwelche Gleichstellungsaktivisten aufschreien, dass man über ihre Gefühle getrampelt sei, findet sich sicher eine feministisch bewegte Person, die geltend macht, dass man sich sexistisch oder rassistisch geäußert habe.

Es nützt einem auch nichts, wenn man zuvor als Kämpfer für die gute Sache hervorgetreten ist. Der Dekan der juristischen Fakultät der Leipziger Universität, Tim Drygala, gilt als aufrechter Mann, seit er sich gegen einen Kollegen stellte, der mit islamfeindlichen Bemerkungen aufgefallen war. Als Drygala Anfang der Woche auf Twitter einen Witz riss, der als unsensibel empfunden wurde, gab es trotzdem kein Pardon.

Der Witz lautete: „In der Revisionsklausur müssten die Frauen eigentlich besser abschneiden. Sie sind geübt darin, anderer Leute Fehler zu finden.“ Das reichte, um den Professor vor den Fakultätsrat zu zerren. Drygala hat jetzt alle Twitter-Aktivitäten eingestellt. Wenn man auf sein Profil geht, erscheint der Hinweis, dass man einem Nutzer zu folgen versuche, den es nicht mehr gebe.

Was ist da los? Eine Erklärung wäre, dass wir es mit einer Generation von Studenten zu tun haben, die durch die Hände sogenannter Helikoptereltern gegangen sind, also Eltern, die überall Gefahren sehen und von morgens bis abends über das Wohlergehen ihrer Kleinen wachen. Dass sich die Überbehütung nachteilig auf die Psyche auswirkt, haben Erziehungswissenschaftler schon länger vermutet. Jetzt ist der Beweis erbracht, würde ich sagen.

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat darauf hingewiesen, dass der Versuch, Kinder vor Nussallergien zu bewahren, indem man Nüsse grundsätzlich von ihnen fernhält, das Gegenteil von dem bewirkt, was man erreichen wollte. Das Immunsystem lernt nicht, dass Nüsse harmlos sind, was wiederum die Zahl der Allergien in die Höhe treibt.

So geht es auch mit Ideen, sagt Haidt. Wer Kinder vor bösen Gedanken schützen will, verhindert, dass sie eine Abwehr aufbauen, die ihnen erlaubt, den Kontakt mit fremden Ideen unbeschadet zu überstehen. Wenn sie dann tatsächlich einmal einer als anstößig empfundenen Meinung ausgesetzt sind, erleiden sie einen Schock. Anstatt ruhig und gefasst Gegenargumente zu sammeln, sind sie nur noch fähig, um Hilfe zu rufen, bis die Polizei kommt.

Was kann man tun? Die naheliegendste Lösung ist, die Frustrationstoleranz zu erhöhen. Wenn sich Kinder auf den Boden werfen und mit den Händen auf den Teppich trommeln, weil man ihnen einen Wunsch versagt hat, soll man ihnen Trost spenden, aber nicht nachgeben. Erwachsenwerden bedeutet zu lernen, sein seelisches Gleichgewicht auch unter widrigen Umständen zu behalten.

Gerhard Schröder hatte übrigens keine einfache Kindheit, er musste sich nach oben durchboxen. Vielleicht ist er deshalb heute von solch heiterer Gelassenheit.