Monat: Oktober 2022

Shithole-Sender

Ein junger Journalist wird von seinem Arbeitgeber, dem RBB, des Rassismus bezichtigt. Sein Vergehen? Er hat eines der brutalsten Länder der Welt als „Shithole-Country“ bezeichnet. Das reicht, um bei den Programmverantwortlichen in Ungnade zu fallen

Am Nachmittag des 18. Oktober setzte der Journalist Jan Karon einen Tweet ab, der ihm erst wütende Angriffe von linker Seite und dann eine Schmähung durch seinen Arbeitgeber eintragen sollte.

Der Tweet lautete folgendermaßen: „Somalia ist ein Shithole-Country mit Steinzeitkultur. Wenn ein Migrant aus Somalia zwei Menschen absticht und zwei weitere verletzt, ist das ein Problem. Wenn dies 800 Meter von deinen Eltern am Ort passiert, an dem du aufgewachsen bist, ist das schockierend.“

Wenige Stunden bevor Karon das schrieb, war ein Mann in Ludwigshafen mit einem Küchenmesser auf Passanten losgegangen und hatte wahllos auf die Umstehenden eingestochen. Karon ist in Ludwigshafen groß geworden, im Stadtteil Oggersheim. Als er auf den Fotos vom Tatort einen Drogeriemarkt sah, in dem Polizisten erste Beweise sicherten, erkannte er sofort den Rossmann, bei dem er früher einkaufen war. Das erklärt möglicherweise Betroffenheit und Wortwahl.

Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Verfolger an die Fersen des jungen Mannes hefteten. „Hier macht sich ein als ,freier Reporter‘ verkleideter Rassist breit“, schrieb die Internet-Hetz- und Nervensäge Nils Gerster (2684 Follower), ein unterbeschäftigter Politikwissenschaftler, der sich auf den verspäteten Kampf gegen Nazis verlegt hat. Karon sei vielleicht kein Rassist, sein Tweet aber eindeutig rassistisch, erklärte der Blogger und IT-Anwalt Thomas Stadler (18443 Follower), eine andere (Klein-)Größe des linken Twitter-Kosmos.

Kurz vor Mitternacht, zu einem Zeitpunkt, an dem andere schon zu müde oder zu betrunken sind, um sich noch öffentlich zu äußern, wandte sich schließlich die Autorin Jasmina Kuhnke (138091 Follower) direkt an den Sender, für den Karon arbeitet. „Hallo ARD-Presse und RBB24“, schrieb Kuhnke. „Wisst ihr, was ein (freier?) Mitarbeiter hier auf Twitter von sich gibt? Greift hier nicht sogar Strafgesetzbuch (StGB) § 130 Volksverhetzung? Eine Stellungnahme eurerseits wäre hier angebracht!“

Wenn es ein Land gibt, auf das die Bezeichnung Shithole zutrifft, dann Somalia. Nach allen Kriterien, an denen sich zivilisatorische Standards bemessen, ist das Land die Vorhölle auf Erden. 98 Prozent der Frauen sind genitalverstümmelt, praktisch die gesamte männliche Bevölkerung ist auf Droge. Schwule werden sofort an die nächste Tür genagelt, und bei der Christenverfolgung belegt das Land einen der allerersten Plätze. Es mag Leute geben, die Karons Ausdrucksweise trotzdem für unangebracht halten. Aber ist sie volksverhetzend?

Doch, das ist sie, wenn man dem RBB glauben darf, der ARD-Anstalt, für die Karon über eine Berliner Produktionsgesellschaft hochgelobte Reportagen erstellt. Es ist nach Ansicht des Senders sogar noch schlimmer: Wer sich so äußert wie der junge Reporter (Karon ist gerade 30 Jahre alt geworden), der macht sich der Verbreitung von Menschenfeindlichkeit schuldig.

„Wir verstehen und teilen die Kritik an den Äußerungen und sind mit der Produktionsfirma im Gespräch über mögliche Konsequenzen. Wir als RBB verurteilen jegliche Form von Rassismus.“ So lautete, zwölf Stunden nachdem Kuhnke eine Stellungnahme gefordert hatte, eine Erklärung aus der Pressestelle. Was bis eben die Meinung von ein paar Internet-Krakeelern war, hatte damit den Rang eines quasioffiziellen Verdikts erreicht.

Ich habe mit Karon telefoniert. Innerhalb eines Tages von einer Nachwuchshoffnung, die auch schon für so fortschrittliche Medien wie „Zeit Online“ oder „Vice“ gearbeitet hat, zu einer Art Paria, der von einer Anstalt des öffentlichen Rechts als Rassist hingehängt wird – das kommt nicht alle Tage vor. Da will man doch wissen, mit wem man es zu tun hat.

Man kann sich die Filme, in denen Karon als Moderator eine prominente Rolle einnimmt, online ansehen, sie sind unter der Überschrift „Schattenwelten Berlin“ in der Mediathek verfügbar. In einem Feature geht es um zweifelhafte Wohnungsdeals in der Hauptstadt, in einem anderen über die Rave-Kultur im Untergrund der Stadt. Für November ist die Lieferung einer neuen Staffel verabredet.

©Sören Kunz

Man sollte annehmen, dass sich die Sendeleitung vor den Mitarbeiter stellt, mit dessen Arbeiten man sich schmückt. Oder zumindest mal bei ihm nachfragt, was er sich bei seiner Äußerung gedacht hat, bevor man auf Beschuldigungen reagiert. Auch Fernsehanstalten haben eine Fürsorgepflicht. Aber das scheint beim RBB niemand zu interessieren. „Wir stehen zu unseren Leuten“ ist ein Satz, den man toll findet, solange er von Chefredakteuren auf der Leinwand geäußert wird. Im wirklichen Leben fliegen beim kleinsten Gegenwind die einfachsten Anstandsregeln aus dem Fenster.

Auch alle Hilferufe gingen ins Leere. Eine SMS an die Leiterin Reportage, in der Karon darum bat, dass sich der Sender vor ihn stellen möge, blieb erst einmal ohne Antwort. „Liebe Ute, ich weiß nicht, ob du gerade mitbekommst, was passiert“, schrieb er und schilderte die Anfeindungen, denen er sich ausgesetzt sah, bis hin zu Gewaltandrohungen. „Ich würde mir vor diesem Hintergrund höflich Solidarität wünschen.“

Erst nachdem der RBB den Stab über den Kollegen gebrochen hatte, kam es zu einem Telefonat. Man habe Schaden vom Haus abwenden müssen, erklärte die Ressortleiterin. Die Äußerungen zu Somalia seien kontrovers gewesen, es gehe darum, dass man keine rechten Narrative bediene. Es gab Zeiten, da war „kontrovers“ ein Wort, das auch im Rundfunkhaus in der Masurenallee in Berlin noch einen guten Klang hatte.

Viel war in den vergangenen Wochen vom Finanzgebaren an der Spitze des RBB die Rede. Von Massagesitzen für die Intendantin, zu teurem Parkett und falsch abgerechneten Abendessen. Dass dies ein Skandal sei, darauf können sich alle sofort einigen. Aber für viel bedenklicher als ein paar unkorrekte Spesenabrechnungen halte ich die Feigheit, die sich bis in die höchsten Etagen zieht. Wie es aussieht, gibt es nicht nur Shithole-Countries, sondern auch Shithole-Sender.

Was ist die Lektion, die junge Journalisten lernen, wenn eine Sendeleitung nach der ersten Aufforderung einknickt? Dass es sich auszahlt, mutig seine Meinung zu vertreten, Risiken einzugehen, sich mit Pressure-Groups anzulegen? Eher nicht. Wobei einknicken, genau besehen, das falsche Wort ist. Das setzt ja voraus, dass es zuvor so etwas wie Widerstand gegeben habe. Leute wie die RBB-Leiterin Reportage kommen gar nicht auf die Idee, sich dem Mob entgegenzustellen, weil sie längst flach auf dem Boden liegen.

Es wäre so einfach. Man müsste nur sagen: Mit uns nicht. Es ist in dem Fall – wie so oft – ja noch nicht einmal so, dass der Presserat kopfstünde oder ganz Twitter-Deutschland eine Erklärung verlangen würde. Es sind in der Regel immer dieselben Leute, die im Netz Bambule machen, wenn jemand die von ihnen vorgegebenen Sprachregeln verletzt. Ich könnte mühelos ein Diagramm mit 30 bis 40 Namen der Schreihälse erstellen, die immer dabei sind. Aber viel mehr sind es meist eben auch nicht.

Die Bedrohung für die Meinungsfreiheit geht nicht von Aktivisten wie Jasmina Kuhnke aus, die offensichtlich mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wissen, als bis tief in die Nacht vermeintliche Feinde auszugraben und anzuzählen. Die wahren Totengräber der Meinungsfreiheit sind die Leute an den Schalthebeln, die aus Bequemlichkeit oder Opportunismus nachgeben.

In vielen Chefredaktionen und Programmetagen denken sie, dass es den Aufruhr dämpft, wenn sie den Krawallmachern entgegenkommen. Interessanterweise tritt meist das Gegenteil ein. Je mehr man Verständnis zeigt, desto eher fühlen sie sich auf der anderen Seite ermuntert nachzulegen. Diese Leute geben erst Ruhe, wenn das Opfer am Boden liegt und nicht mehr zuckt – oder wenn sie zu ihrer Überraschung ignoriert werden. Dann fällt ihnen außer einem großen Lamento nicht mehr viel ein.

Auch das ist dann schnell vorbei. Es sind ja, wie gesagt, nur 30 bis 40 Leute.

Alles gewusst, alles vorausgesehen

Wenn es einen Preis für Selbstgerechtigkeit gäbe, Angela Merkel würde ihn mühelos gewinnen. Sie verpasst keine Gelegenheit, um zu sagen, wie sehr sie mit sich im Reinen sei. Und nun kommen auch noch die Memoiren!

Vor vier Monaten saß Angela Merkel im Berliner Ensemble und sagte, sie werde nach ihrem Abschied aus dem Kanzleramt nur noch Wohlfühltermine wahrnehmen. Das war eine kleine Gemeinheit gegenüber dem neben ihr sitzenden Reporter Alexander Osang, weil man sich unwillkürlich fragte, ob der Gesprächsabend mit ihm auch schon als Wohlfühltermin angelegt war. Aber man durfte ihre Aussage so verstehen, dass sie sich in Zukunft rarmachen würde.

Leider hat sie sich nicht daran gehalten. Es vergeht keine Woche, ohne dass die Kanzlerin a.D. nicht irgendwo auftaucht und Ratschläge erteilt. Ende September war sie bei der Eröffnungsfeier der Kohl-Stiftung in Berlin, wo sie über sich, Kohl und Putin sprach. Dann hielt sie die Festrede zum 1100-jährigen Stadtjubiläum in Goslar, natürlich mit einem Blick nach Russland. Dann eine Woche später schon die nächste Festrede, diesmal anlässlich des 77. Geburtstags der „Süddeutschen Zeitung“, ebenfalls unter Berücksichtigung des deutsch-russischen Verhältnisses.

Zwischendurch war sie in New York, um den Preis des UN-Flüchtlingswerks für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise entgegenzunehmen, gefolgt von einem Auftritt in Lissabon, wo sie erklärte, weshalb sie ihre Entscheidung, bei der Energieversorgung ganz auf Russland zu setzen, in keiner Weise bereue.

Sie will recht behalten. Unbedingt.

Wandel durch Handel? Hat sie nie dran geglaubt. Putin als Kriegsherr? Hat sie sich nie Illusionen gemacht. Der Überfall auf die Ukraine? Hat sie lange kommen sehen.

Natürlich weiß sie auch genau, wie man es besser machen müsste. Den Verantwortlichen in der Regierung rät sie, mehr Führung zu zeigen. Für die Außenministerin hält sie den Ratschlag bereit, schon jetzt daran zu denken, wie man Russland wieder in die europäische Sicherheitsarchitektur einbinden könne. Das eigentlich Bemerkenswerte ist, würde ich sagen, dass die Leute nicht vor Lachen vom Stuhl kippen, wenn die 16-Jahre-Kanzlerin zu ihnen spricht. Aber so kann wahrscheinlich nur jemand denken, der nicht bei der „Süddeutschen“ beschäftigt ist.

Ich habe über alle Bundeskanzler geschrieben. Adenauer hielt keinen seiner Nachfolger für so geeignet wie sich selbst. Auch Kohls Dickfelligkeit war legendär. Wer nicht für ihn war, der war gegen ihn, dazwischen gab’s für ihn nichts. Aber in puncto Selbstgerechtigkeit bewegt sich Angela Merkel noch einmal in einer ganz eigenen Liga.

Man sieht es ihr auch an. Sie hat diesen Hals von Menschen bekommen, die meinen, alles im Leben richtig gemacht zu haben. Der Kopf sitzt so fest, dass nicht mehr viel Spielraum bleibt, außer für ein Nicken der Selbstzustimmung.

Der „Spiegel“ hat vergangene Woche das Ergebnis einer verdienstvollen Recherche zur Haltung ihrer Regierung zu Nord Stream 2 vorgelegt. Ein Redakteursteam hatte sich über Monate um Einsicht in das bislang geheim gehaltene Gutachten bemüht, in dem das damals noch von Peter Altmaier geführte Wirtschaftsministerium die Risiken einer weiteren Gaspipeline nach Russland bewerten sollte. Es gab Warnungen, vor allem aus Osteuropa und den USA, dass Deutschland durch die Inbetriebnahme in noch größere Abhängigkeit vom Kreml geraten würde.

Sonnigste Einschätzung hingegen aus Berlin: Die neue Pipeline werde die europäische Versorgungssicherheit nicht schwächen, sondern im Gegenteil erhöhen. Gazprom habe grundsätzlich keinen Einfluss auf die durchgeleitete Liefermenge, es stelle nur den Transport sicher. Mehr Röhren, mehr Gas, mehr Verlässlichkeit – so lautete das Fazit vier Monate vor Kriegsausbruch und acht Monate bevor Putin den Gashahn schloss.

Alles vorausgesehen? Alles richtig gemacht?

Von den vielen Ministern, die Angela Merkel dienten, war Peter Altmaier immer der Treueste der Treuen. Nie hätte er es gewagt, gegen die Chefin aufzumucken oder eine Entscheidung in die Wege zu leiten, die sie hätte unglücklich machen können. Man darf also seine Einschätzung durchaus der Kanzlerin zurechnen. Die Sache ist eindeutig: Keine Regierung hat uns so abhängig gemacht von der Energiezufuhr durch einen uns feindlich gesonnenen Staat wie die von Angela Merkel. In ihrer Amtszeit ist die Abhängigkeit von russischem Gas von 43 Prozent auf 55 Prozent gestiegen. Aber wie gesagt: auf weiter Flur kein Grund zur Reue.

©Silke Werzinger

Das Dumme ist: Es wird nicht besser. Im Kanzleramt sitzt ein Mann, der so sein will wie seine Vorgängerin. Wenn es für ihn ein Vorbild gibt, an dem sich Olaf Scholz orientiert, dann die Frau mit dem Selbstbewusstsein einer göttlichen Kaiserin. Als er in den Wahlkampf zog, war sein Versprechen: Ich bin so wie Angela Merkel, nur ohne Raute. Man hat ihn dafür verspottet. Aber die Leute, die Merkel wiedergewählt hätten, wenn man sie gelassen hätte, waren zahlreich genug, um ihn ins Kanzleramt zu bugsieren.

Noch besser, als im Nachhinein recht zu behalten, ist es, alles vorher gewusst zu haben. Auftritt Olaf Scholz beim Maschinenbau-Gipfel am Dienstag vergangener Woche. Putin setzt Gas als Waffe ein? Zitat Scholz: „Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde.“

Gerhard Schröder konnte immerhin von sich sagen, dass er in Putins Reptilienaugen das Gute gesehen habe. Merkel und Scholz haben sich nach eigener Aussage nie Illusionen hingegeben. Wie soll man ihr Verhalten nennen? Sie wussten, wozu Putin in der Lage ist, und haben ihm trotzdem die Gaswaffe in die Hand gedrückt und sogar noch durchgeladen? Blauäugigkeit fällt als Erklärung damit aus. Wäre ich Rechtsbeistand der beiden, würde ich sagen: Vorsicht, eine Klage wegen Landesverrats ist schnell auf den Weg gebracht. Besser sich auf Fahrlässigkeit herausreden. Klingt nicht so gut, erspart einem aber im Gegensatz zu Vorsatz eine Menge Scherereien.

Würde das Eingeständnis, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat, die Situation, in der wir uns befinden, besser machen? Würde es nicht. Aber es könnte dazu beitragen, dass man den gleichen Fehler nicht wiederholt. Vergangenheitsbewältigung ist immer auch Gegenwartsvorsorge. Wer erkennt, wo er mit seiner Einschätzung danebengelegen hat, ist das nächste Mal möglicherweise gewarnt.

Die meisten denken bei China an den riesigen Absatzmarkt. Aber wenn wir nicht aufpassen, tauschen wir gerade bei der Energieproduktion eine Abhängigkeit gegen die andere ein. Keine anderen Energiequellen verschlingen, über ihren Lebenszyklus gerechnet, so viele seltene Metalle und Erden wie Photovoltaik und Windkraft. Und raten Sie mal, wo ein Großteil der Metalle herkommt, die man benötigt, um Solarpaneele und Windräder herzustellen? Es ist leider nicht Europa, sondern das Land der Mitte.

Angela Merkel arbeitet jetzt an ihren Memoiren, zusammen mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann. „Das Buch wird einen exklusiven, persönlichen Einblick geben in das politische Leben und Wirken der Bundeskanzlerin a.D.“, heißt es in der Verlagsankündigung von Kiepenheuer & Witsch, wo die Biografie im Herbst 2024 erscheinen soll. Die Autorin lässt sich mit dem Satz zitieren: „Ich freue mich, zentrale Entscheidungen und Situationen meiner politischen Arbeit zu reflektieren und sie, auch mit Rückgriff auf meine persönliche Geschichte, einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.“

Man muss kein Hellseher sein, um zu sagen, was in den Memoiren stehen wird. Unsere ehemalige Bundeskanzlerin ist mit sich im Reinen. Ihre Politik war im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos. Wer es anders sieht, hat nichts begriffen und nichts verstanden. Ein ideales Geschenk für Masochisten. Aber auch davon gibt es in Deutschland genug, sodass zumindest einer schönen Platzierung auf der Bestsellerliste nichts im Wege steht.

Im deutschen Wolkenkuckucksheim

Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie ihre Wirtschaft retten können. Nur in Deutschland gilt: Hauptsache, klimaneutral! Wenn schon Untergang, dann auf jeden Fall sauber

Am 14. März 2020 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium eine Warnung. „Achtung Fake News!“, hieß es darin. „Es wird behauptet und rasch verbreitet, die Bundesregierung würde bald weitere massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt nicht! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Als gutwilliger Bürger fragte man sich, wie man dem Appell Folge leisten sollte. Wie stoppt man die Verbreitung von Fake News? Indem man das Gegenteil in Umlauf bringt? Auch das hilft ja leider nicht gegen Falschnachrichten, weil man erst einmal sagen muss, wogegen man ist, um es dann richtigzustellen.

Zum Glück hatte sich das Problem schon zwei Tage später erledigt. Da beschlossen Bund und Länder genau die Einschränkungen, die das Gesundheitsministerium gerade ausgeschlossen hatte.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Lockdown. Als ich mich auf einer Parkbank im Englischen Garten niederlassen wollte, um ein Buch zu lesen, traten zwei Polizisten auf mich zu, weil das Niederlassen auf einer Bank zu Lesezwecken nun als Ordnungswidrigkeit galt. Vermutlich hält man im Bundesgesundheitsministerium den Aufenthalt im Freien ohnehin für überbewertet.

Ich musste an die Warnung aus dem ersten Corona-Jahr denken, als ich vergangene Woche folgenden Anti-Fake-News-Tweet aus dem Bundeswirtschaftsministerium sah:

„Wir haben eines der zuverlässigsten Stromnetze weltweit und eine hohe Versorgungssicherheit. Trotzdem kursieren unter #Blackout, #Stromausfall oder #Lastabwurf Behauptungen im Netz, die unbegründet Panik verbreiten.“ Es folgte eine ausführliche Begründung, weshalb Stromausfälle in Deutschland so gut wie ausgeschlossen seien.

Wir werden sehen, wie lange diese beruhigende Nachricht hält. In jedem Fall würde ich dazu raten, sich doch mit anderen Dienststellen abzustimmen, um unnötige Irritationen zu vermeiden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenalarm zum Beispiel rief erst vor zwei Wochen zum Anlegen eines zehntägigen Vorrats für den Fall von Stromausfällen auf („Bei der Zusammenstellung Ihres Notvorrats kommt es auch auf eine durchdachte Planung an“).

Es könnte sicher auch nicht schaden, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck einmal seine grüne Parteivorsitzende zur Seite nehmen würde, damit sie in ARD-Interviews nicht weiter den Lastabwurf empfiehlt und so „unbegründet Panik verbreitet“, wie es in der Mitteilung aus seinem Hause heißt.

Wir leben in einem merkwürdigen Zwischenreich. Einerseits kommt uns mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung gerade die Grundlage unserer Volkswirtschaft abhanden. Andererseits tut die Regierung so, als ob alles so weiterlaufen könnte, wie im Koalitionsvertrag vereinbart und niedergelegt.

Natürlich gilt weiter das Aus für die Kohle. Vor wenigen Tagen hat Robert Habeck mit RWE eine Vereinbarung geschlossen, wonach der Kohleausstieg nicht aufgeschoben, sondern im Gegenteil um acht Jahre vorgezogen wird – von 2038 auf 2030. Selbstverständlich wird auch am Atomausstieg festgehalten. Und ich bin sicher, wenn man die Verantwortlichen fragen würde, wie es mit dem Plan aussieht, zwei Dutzend neue Gaskraftwerke zu bauen, als Brückentechnologie auf dem Weg in die erneuerbare Zukunft, lautet die Auskunft: alles nach Plan.

Wie soll man das nennen? Deutscher Sonderweg? Kosmisches Gottvertrauen? Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie dafür sorgen können, dass ihre Wirtschaft nicht koppheister geht – nur in Berlin zimmern sie fröhlich weiter am Wolkenkuckucksheim. Es ist faszinierend, aber auch etwas beängstigend.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Energiekrise lautet, kurz gefasst: jetzt erst recht. Also nun erst recht den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren und den Abschied aus dem fossilen Zeitalter vorantreiben. Man kennt das aus Managementseminaren, wo der Motivationstrainer Leuten, denen es den Boden unter den Füßen weggezogen hat, rät, sie sollten die Krise als Chance begreifen. Als Zuschauer sagt man sich da: Arme Teufel, in deren Haut möchte man auch nicht stecken. Leider sind wir in dem Fall alle Teilnehmer des großen Managementexperiments.

©Michael Szyszka

Schon die jetzigen Pläne sind völlig unrealistisch. Der „FAZ“-Redakteur Morten Freidel hat sich neulich die Mühe gemacht, einmal nachzurechnen. Um ihre Ziele zu erreichen, müsste die Regierung jeden Tag vier große oder acht kleine Windräder bauen, und das über die nächsten zehn Jahre. Selbst wenn man auf alle Genehmigungsverfahren von heute auf morgen verzichten würde: Dafür gibt es weder das Material noch die Monteure – von den Kosten gar nicht zu reden.

Und im Jahre 2045, wenn alles ausgestanden ist, weil Deutschland dann endlich klimaneutral ist, wie es die Befürworter erhoffen, ginge es wieder von vorne los. Auch ein Windrad hält nicht ewig. Nach 20 Jahren muss es ersetzt werden. Was bedeutet, dass ein nennenswerter Teil der Volkswirtschaft konstant damit beschäftigt wäre, für den Wind zu sorgen, der das Land am Laufen halten soll.

Ohne ein gewisses Maß an Energieunabhängigkeit wird es nicht gehen, jedenfalls wenn wir Industrienation bleiben wollen. Und die sollte nicht zu lange auf sich warten lassen. Die 200 Milliarden für den Gaspreisdeckel reichen bis Ende kommenden Jahres. Aber dann steht wieder ein Winter vor der Tür. Und danach noch einer. Und dann noch einer.

Wir sind ein reiches Land, das ist die gute Nachricht. Wir sind sogar ein energiereiches Land. Wir verfügen über Gasvorkommen, die uns für 20 Jahre von den Launen des Energiemarktes unabhängig machen könnten. Dummerweise ziehen wir es vor, über diesen Reichtum nicht einmal zu reden. Das meiste Gas liegt in Niedersachsen. Wie man lesen konnte, hat keine Partei im Wahlkampf die Gasvorkommen auch nur mit einem Wort erwähnt. Auch das ist eine Strategie: Umgehung der Realität durch kollektives Beschweigen. Darin haben wir in Deutschland eine gewisse Übung.

Glaubt man den grünen Strategen, ist klar, wer am Wahlerfolg der AfD schuld ist: die CDU, weil ihr Parteivorsitzender vor der Einwanderung in unser Sozialsytem gewarnt hat. Das macht das Leben im Wolkenkuckucksheim so angenehm: Man kann sich immer die Erklärung heraussuchen, die einem am besten passt. Auf den Demonstrationen spielt die Einwanderung hingegen kaum eine Rolle, dort geht es vor allem um Inflation und Energiepreise.

Die Lösung der AfD lautet: Nord Stream 2 aufmachen. Ich bin absolut dagegen. Ich hielte es für einen Riesenfehler, dem Terroristen im Kreml zu signalisieren, dass er machen kann, was er will, solange er uns nur wieder Gas liefert. Aber wenn man gegen Gas aus Russland ist, sollte man eine Alternative nennen können. Die Alternative kann nicht sein, darauf zu hoffen, dass uns die wundersame Umwandlung von Strom in Wasserstoff von allen Beschwernissen erlösen wird.

60 Prozent der Deutschen sagen, dass sie derzeit keiner Partei zutrauen, die Probleme in den Griff zu bekommen, vor denen das Land steht. Ein Rekordwert. Ich weiß, in der Regierung halten sie die Leute für zu blöd, die Weisheit der Energiewende zu erkennen. Aber die Leute sind nicht alle blöd. Sie ahnen: Alles abschalten ist auf Dauer auch keine Lösung.

Der Internationale Währungsfonds hat Mitte der Woche seine Prognose für das kommende Jahr veröffentlicht. Bei keinem Land sieht die Vorhersage so düster aus wie bei Deutschland. Doch bei einem: Russland, da ist es noch schlimmer. Das ist allerdings auch der einzige Trost.

Wäre ich Zyniker, würde ich sagen: Hauptsache, wir halten unsere Klimaziele ein. Wenn schon Untergang, dann wenigstens sauber.

 

Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben

Darf man in der Krise Scherze machen? Die Frage ist politischer, als sie auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn etwas die Vertreter von ganz rechts und ganz links verbindet, dann ihre furchtbare Humorlosigkeit

Ein Redakteur der „Jungen Freiheit“ hat ein Interview mit mir geführt. Es ging um die Lage in Deutschland oder wie sie bei der „Jungen Freiheit“ sagen würden: die drängenden Fragen der Zeit. Also: die Verarmung des Landes in der Energiekrise, kommende Bürgeraufstände sowie die Umerziehung der Jugend durchs öffentlich-rechtliche Fernsehen – in dieser Reihenfolge.

Ich glaube, sie waren in der Redaktion ein wenig überrascht, dass ich gleich zugesagt hatte. Viele Leute überlegen, ob sie mit der „Jungen Freiheit“ reden sollen, und sagen dann ab. Das Blatt gilt als so rechts, dass man es besser meidet.

Ich bin kein regelmäßiger Leser. Aber jedes Mal, wenn ich die Zeitung zur Hand genommen habe, fand ich nichts, was nicht vor zehn Jahren in der CDU noch selbstverständlich gewesen wäre. Das reicht heute, um sich unmöglich zu machen. Ich würde außerdem auch mit einer Linkspostille wie der „Jungen Welt“ oder dem „Neuen Deutschland“ reden, wenn sie mich bitten würden. Warum die Gelegenheit ausschlagen, Leser zu erreichen, die man sonst nie erreichen würde? Da denke ich wie Dunja Hayali.

Das Interview war auf der Titelseite angekündigt. Als Überschrift hatte die Redaktion einen Satz gewählt, den ich im Zusammenhang mit dem Gender-Unfug geäußert hatte und den die Redakteure für so provokant hielten, dass sie sich maximale Aufmerksamkeit versprachen, wenn sie ihn groß druckten. „Liebe Leute, entspannt euch!“, lautete die Schlagzeile. Ich musste lachen, als ich das sah. Mir hat das einiges über den Gemütszustand im rechtskonservativen Milieu gesagt.

Andererseits: Der Chefredakteur kennt seine Leser, wie ich feststellen musste. Die Reaktionen gaben ihm recht. Ich hätte offensichtlich keine Ahnung, was im Land los sei, schrieb ein sichtlich aufgebrachter Abonnent. Ob man mich die letzten zehn Jahre irgendwo eingefroren oder ohne Handy auf eine Weltumseglung geschickt habe, fragte ein anderer erbost. Mein Einwand, dass ich mich auch in der Krise an die Weisheit des indischen Gurus Osho hielte, wonach Bewusstsein und Entspannung zwei Seiten derselben Medaille seien, trug nicht dazu bei, die Wogen zu glätten.

Darf man in der Krise noch Scherze machen? Oder ist das zu frivol? Und was wäre die angemessene Haltung? Betroffene Anteilnahme? Stille Wut? Offene Empörung?

Über die Grenzen des Humors war es auch in dem Interview mit der „Jungen Freiheit“ gegangen. In meinen Kolumnen würde ich immer so schön humorig über die Dinge sprechen, aber sei das angemessen? Viele Deutsche würden durch Inflation und Energiepreise in Not geraten, manche Arbeit oder Wohnung verlieren, andere ihr Lebenswerk, hielt mir der zuständige Redakteur entgegen. „Etliche werden daran sterben, weil Angst und Druck Beschleuniger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind, und einige werden sich erfahrungsgemäß das Leben nehmen.“

Für Humor ist nie die richtige Zeit, lässt sich erwidern. Irgendwo passiert immer etwas Schreckliches. Wenn Menschen nicht von Herz-Kreislauf-Erkrankungen dahingerafft werden, ertrinken sie als Flüchtlinge im Mittelmeer, oder in Frankreich tobt eine Feuersbrunst, oder Afrika wird gerade von einer verheerenden Dürre heimgesucht. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es auf die Entfernung zum Geschehen ankommt: Je geografisch näher der Schrecken, desto problematischer das Scherzwort. Oder dass der Humor dort zu enden habe, wo Deutsche betroffen seien. Das wäre allerdings eine humormoralische Erweiterung, über die man noch einmal diskutieren müsste.

Humorlosigkeit ist die Geißel unserer Zeit. Früher waren es die Linken, die einen mit heiligem Ernst auf die Plagen der Welt hinwiesen, heute die Rechten. Ich erkenne bei Podiumsdiskussionen auf 50 Meter Entfernung den Typ, der einen nach Ende der Veranstaltung in Beschlag nimmt, wenn man sich nicht rechtzeitig verabschiedet. Praktische Freizeitkleidung, eher über 50 statt unter 50, Kurzhaarschnitt, vorgerecktes Kinn.

Das Thema ist nahezu egal. Entweder sind es die Corona-Maßnahmen (ein Verbrechen!) oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk (Zwangsgebühren!) oder der Wirtschaftskrieg mit Russland (keine Waffen für die Ukraine!), was für Empörung sorgt. Es gibt immer etwas, das geeignet ist, einen in Rage zu versetzen, wenn man zu Zornanfällen neigt.

Rege ich mich nie auf? Aber selbstverständlich tue ich das. Das bringt schon mein Beruf mit sich. Wer alles mit der Gelassenheit des buddhistischen Mönchs betrachtet, wird nie einen Satz schreiben, der Schwung und Kraft hat. Aber ich versuche, mir die Empörung nicht anmerken zu lassen. Ich neige auch nicht zum übermäßigen Schwarzsehen, das hilft ebenfalls.

©Sören Kunz

Das Motto, an das ich mich halte, lautet: „Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben“. Es stammt von dem österreichischen Dramatiker Johann Nestroy, der nicht von Ungefähr als Vollender des Volkstheaters gilt. Wenn Deutschland untergeht, kann ich es auch nicht ändern. Aber ich kann verhindern, dass ich darüber den Kopf verliere.

Wenn man mich fragen würde, was die politischen Vertreter ganz links und ganz rechts so unbekömmlich macht, wäre meine Antwort: diese schreckliche Verspanntheit im Auftritt. Ich mag Alice Weidel und Tino Chrupalla furchtbar unrecht tun. Möglicherweise sind sie die lustigsten Menschen der Welt. Aber ich fürchte, wenn man neben ihnen zu sitzen käme, müsste man sich erst einmal einen Vortrag anhören, wie wir von hinten und vorne belogen und betrogen werden.

Ich habe Alice Weidel einmal im Bundestag lachen hören. Es war kein fröhliches Lachen, muss man leider sagen, eher ein triumphierendes Aufstampfen. Wenn man zu lange in den Abgrund schaut, schaut er irgendwann zurück. Das ist das Problem bei allen, die sich zu viel mit Untergangsszenarien beschäftigen.

Vielleicht erwischt es uns dieses Mal ja wirklich. Wer will das ausschließen? Auch mich erfasst leichter Schwindel, wenn ich die Rettungspakete sehe, die sie in Berlin schnüren, um der Krise Herr zu werden. In den diversen Schatten- und Nebenhaushalten liegt bald mehr Geld als im regulären Bundeshaushalt. Was für Putin seine Spezialoperation ist, das ist für die Ampel das Sondervermögen. Jeder weiß, dass es sich um Schulden handelt, es darf nur nicht so heißen.

Wenn mich etwas irritiert, dann die seltsame Schicksalsergebenheit, die in Teilen der Politik und der Medien um sich gegriffen hat, so als sei der Abstieg ausgemachte Sache. Der „Spiegel“ hat vor drei Wochen in einer Titelgeschichte die Kräfte geschildert, die an Deutschland zerren. Ich habe keinen Zweifel, dass alles, was die Kollegen beschrieben, seine Richtigkeit hat. Aber ich habe einen Satz vermisst, wie man dem Schicksal trotzen könnte. Stattdessen las ich nur Überlegungen, wie sich der Mangel möglichst gerecht verteilen ließe.

Kann man sich vorstellen, dass die Amerikaner es einfach hinnehmen würden, wenn man ihnen den Untergang prophezeit? Natürlich nicht. Sie würden alles in ihrer Kraft Stehende tun, um den Abstieg aufzuhalten. Selbst die Russen haben es geschafft, den Absturz ihrer Wirtschaft abzufedern. Irgendwann gibt es keinen Lada mehr und keine Tupolev, die man für Ersatzteile ausschlachten könnte. Aber bis dahin halten sie die Dinge sogar in Russland am Laufen.

Humor ist eine Form der Distanzgewinnung, auch zu sich selbst. So wie Manieren und Umgangsformen das Leben mit anderen erträglicher machen, weil sie uns von direkter Auseinandersetzung verschonen, so sorgen auch Ironie und Selbstironie für Abstand und damit Erträglichkeit.

Ich war in dieser Hinsicht immer ein Riesenfan von Boris Johnson. Er war möglicherweise nicht die beste Besetzung als Premierminister, aber als Abgeordneter war er eine Klasse für sich. Ich glaube, Johnson hat deshalb so viele gegen sich aufgebracht, weil er selbst dann noch Witze auf eigene Kosten riss, wenn alle erwarteten, dass er jetzt endlich reumütig zu Kreuze kriechen würde.

Auch das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil der ironischen Weltbetrachtung: Man hat immer ein Ass mehr im Ärmel, als diejenigen denken, die glauben, man sei blank.

Grünes Schrumpfen

Bei keinem politischen Projekt ist die Zahl der Irrtümer so groß wie bei der Energiewende. Eine Vordenkerin der Grünen spricht nun die Wahrheit aus: Wer ganz auf Wind und Sonne setzt, will die unumkehrbare Deindustrialisierung des Landes

Wie sieht Deutschland nach der endgültigen Energiewende aus? Ein Paradies, wenn man den Broschüren der Grünen glauben kann. Friedlich grasen die Kühe auf satten Wiesen, während sich am Horizont sanft das Windrad dreht. Die deutsche Familie sitzt glücklich vereint am Esstisch – schwarz und weiß, alt und jung, die Oma in der Mitte – und lauscht gebannt, wie Annalena Baerbock in den „Tagesthemen“ von den neuesten Siegen der feministischen Außenpolitik berichtet. Die Vereinigung von Moderne und Biedermeier: So schön kann Transformation sein.

Es gibt auch eine andere, weniger werbetaugliche Sicht. Vertreten wird sie von Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin bei der „taz“ und damit dem Blatt, das sich wie kein anderes in Deutschland der Ökobewegung verpflichtet fühlt. Herrmann spricht mit Blick auf die Energiewende vom grünen Schrumpfen. Wenn Sie jetzt denken, das sei sicher wieder so ein polemischer Seitenhieb gegen die Grünen: Weit gefehlt! Frau Herrmann meint das positiv. Wenn sie von Schrumpfen spricht, hält sie das für etwas Erstrebenswertes.

Sie hat ein ganzes Buch dazu geschrieben. Es heißt „Das Ende des Kapitalismus“. Darin entwickelt sie die Utopie einer ökologischen Planwirtschaft, in der ein Komitee von Klima-Weisen am Rückbau des Systems arbeitet, das über viele Jahre Wachstum und Wohlstand generierte. Richten Sie sich besser beizeiten darauf ein, dass Bananen aus Costa Rica oder Trauben vom Kap der Vergangenheit angehören!

So sieht die grüne Zukunft aus: Man nutzt nur noch regionale und saisonale Produkte, weil der Flugverkehr weitgehend eingestellt ist. Die nächste Urlaubsreise führt nicht nach Sardinien, sondern bestenfalls nach Rügen. Natürlich kann man weiter Freunde treffen, aber die sprechen jetzt alle wieder Deutsch. São Paulo, Bali oder Mumbai sind so weit entfernt wie zu Zeiten Marco Polos.

Notwendige Reparaturen? Muss man selbst vornehmen. Ein neues Sakko oder Kleid? Nur wenn Sie wissen, wie man eine Nähmaschine bedient. Die meisten Gebrauchsgegenstände teilt man ohnehin mit den Nachbarn: Rasenmäher, Bohrmaschinen, Spielzeuge, Bücher.

Die gute Nachricht ist: Waschmaschinen, Computer und Internet sollen bleiben. „Niemand muss fürchten, dass wir wieder in der Steinzeit landen und in Höhlen wohnen, wenn der Kapitalismus endet“, beruhigt Frau Herrmann ihre Leser. Es gibt halt nur von allem weniger beziehungsweise: Wenn man das Glück hat, einen Computer zu besitzen, dann ist es ein Gerät aus der Zeit, in der man noch an Wachstum glaubte.

Warum die Wende zum Weniger? Ganz einfach: Mit Sonne und Wind allein lässt sich kein Industrieland am Laufen halten. Energie gibt es im Übermaß, daran liegt es nicht. Die Sonne schickt 5000 Mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, selbst wenn sie alle wie die Europäer lebten. „Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht“, schreibt Frau Herrmann. „Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – entweder in Batterien oder als grüner Wasserstoff. Dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp und teuer bleiben wird.“

Ergo: Wenn die grüne Energie für alle reichen soll, bleibt nur grünes Schrumpfen. Ich bin selten einer Meinung mit Leuten, die bei der „taz“ arbeiten. Aber ich glaube, Ulrike Herrmann hat recht. Kapitalistische Wachstumsphilosophie und grüne Revolution gehen nicht zusammen. Ich bin froh, dass es jemand mal so deutlich ausspricht. Die meisten Leute, die für die Grünen unterwegs sind, tun so, als ob sich alles vereinbaren ließe: der Volvo vor der Tür – und die Klimarettung on the go.

Ich bin mir nicht sicher, ob allen klar ist, was es bedeutet, wenn man sich von fossilen Energieträgern verabschiedet, wie es die Klimabewegung verlangt. Man kann auch mit weniger glücklich sein. Die glücklichsten Menschen leben angeblich in Bangladesch, wie ich einer älteren Studie zum Glücksvergleich entnommen habe. Andere sehen beim Wohlbefinden die Finnen in Führung.

©Silke Werzinger

Wie auch immer: Es wird sich einiges ändern, wenn der Koalitionsvertrag der Bundesregierung endlich abgearbeitet ist. Kaum vorstellbar, dass wir zum Beispiel den medizinischen Standard halten können, an den wir uns gewöhnt haben. Eine beruhigende Auskunft während der Pandemie lautete, kein Land würde über so viele Intensivbetten pro Einwohner verfügen wie die Bundesrepublik. Glaubt jemand ernsthaft, dass es so bleibt, wenn wir aus Atom und Kohle ausgestiegen sind?

Wie gesagt: Man kommt auch mit weniger zurecht. Ulrike Herrmann empfiehlt die siebziger Jahre als Referenzjahrzehnt. Auch damals habe man nicht schlecht gelebt, sagt sie: „Es war das Jahr, als Argentinien Fußballweltmeister wurde und der erste Teil von ,Star Wars‘ in den Kinos lief.“

Einverstanden. Man sollte nur nicht das Pech haben, an Leberkrebs oder einem degenerativen Muskelleiden zu erkranken. Es hat ja seinen Grund, warum die Lebenserwartung heute im Schnitt bei 81 Jahren liegt. Andererseits: 72 Jahre ist auch ein schönes Alter, um abzutreten. Unter dem Gesichtspunkt des Klimaschutzes ist jedes Lebensjahr eh eines zu viel.

Wir hören jetzt, wir würden in Schwierigkeiten stecken, weil die Energiewende nicht entschieden genug vorangetrieben wurde. Aber man kann die Dinge auch umgekehrt sehen. Kein Land in Europa hat sich den Ausbau erneuerbarer Energien so viel Geld kosten lassen wie Deutschland. Schon vor dem Überfall auf die Ukraine hatten wir die höchsten Strompreise in der EU. Der grünen Logik nach müssten wir heute deutlich besser dastehen als unsere Nachbarn, doch das Gegenteil ist der Fall.

Die Wahrheit ist: Das Rückgrat der deutschen Energiewende waren immer russisches Gas und französischer Atomstrom. Robert Habeck hat es unfreiwillig eingestanden, als er seine Anhänger darauf vorbereitete, dass man den Ausstieg aus der Kernenergie um ein paar Monate verschieben müsse. Weil wir uns auf Russland und Frankreich nicht mehr verlassen können, muss nun Atomkraft aus Bayern und Baden-Württemberg die Lücke schließen – jedenfalls bis April.

Danach soll es die Wärmepumpe richten, so steht es im Koalitionsvertrag. 500000 Wärmepumpen sollen pro Jahr in deutschen Haushalten eingebaut werden. Ich bin gespannt, wie das funktionieren wird. Der Weg zur Energiewende ist gepflastert mit falschen Annahmen. Erinnern Sie sich noch an Jürgen Trittin, den Vater des Dosenpfandes, der den Deutschen versprach, die Energiewende werde sie nicht mehr kosten als eine Kugel Eis? Das ist eine sehr teure Kugel Eis geworden.

Die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker, lange Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, hat die Pläne in einem Interview im „Spiegel“ bewertet. Habeck sollte diesen Irrweg beenden, sagte sie. Die meisten Häuser in Deutschland seien für den Einsatz von Wärmepumpen nicht geeignet. Wer es trotzdem versuche, handele sich eine horrende Stromrechnung ein. Es gibt nicht mal genug Geräte oder Handwerker, die die Pumpen installieren könnten.

Der zuständige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Patrick Graichen, wurde neulich gefragt, wo denn die 60000 Monteure herkommen sollen, die es bräuchte, um die ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen. Na ja, sagte er leichthin, dann müssen halt ein paar Fliesenleger weniger Fliesen verlegen. Ich fürchte, gegen den Wärmepumpenplan von Robert Habeck war Trittins Eiskugelwette eine hochseriöse Angelegenheit.

Das Buch von Ulrike Herrmann über das Ende des Kapitalismus hat es auf Platz eins der Bestsellerliste gebracht. Das Publikum, das der Rückkehr in die siebziger Jahre etwas abgewinnen kann, ist größer, als ich dachte.

Immerhin, die Musik war damals eindeutig besser. Ich hole jetzt die alten Scheiben wieder raus. Wenn schon Rückabwicklung des Fortschritts, dann wenigstens zum Sound von Jimi Hendrix und Janis Joplin. Wie sang Janis Joplin: Freedom’s just another word for nothin’ left to lose.