Monat: Mai 2025

Ist der Verfassungsschutz noch zu retten?

Der Obrigkeitsstaat ist zurück. Seine Fans kommen heute allerdings nicht mehr von rechts, sondern von links. „Vertraut uns“, sagen sie. „Wir wissen am besten, wer Verfassungsfeind ist und wer nicht“

Sprache ist verräterisch. Wer sich seiner Sache nicht wirklich sicher ist, neigt zur Übertreibung. Indem man große Worte wählt, versucht man, Zweifel zu zerstreuen. Faustregel: Je markiger die Wortwahl, desto schwächer die Beweislage.

Dass eine Partei rechtsextrem sei, dürfte als Urteil reichen, sollte man meinen. Was gibt es Vernichtenderes als den Befund, jemand sei ein Verfassungsfeind? Aber nein, in den Medien firmiert die AfD als „gesichert rechtsextrem“. So als sei das Urteil TÜV-geprüft, damit die Leute auch wirklich von der Gefährlichkeit der AfD überzeugt sind.

Kein Beitrag, von der „Tagesschau“ abwärts, der auf den TÜV-Zusatz verzichtet. 3,5 Millionen Treffer weist Google in seiner Suchleiste aus. Einer der ersten Beiträge, den ich finden konnte, stammt vom Zentrum für Politische Schönheit. In einer Art Steckbrief bezichtigte das Künstlerkollektiv Alexander Gauland, „gesichert“ über Naziverbindungen zu verfügen.

Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bezeichnet die AfD jetzt als „gesichert rechtsextremistisch“. Es hat sogar ein Gutachten erstellt, dessen Belege angeblich so vernichtend sind, dass man zu keinem anderen Schluss kommen kann. 1100 Seiten umfasst es, wie man hörte.

Leider konnte man das Gutachten nicht sehen, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Alles, was die Öffentlichkeit von offizieller Seite zu sehen bekam, war eine dürre Pressemitteilung, wonach die AfD gegen das Grundgesetz verstoße. Alles weitere musste man glauben. Vertraut uns, lautet die Botschaft der Behörde aus Köln-Chorweiler: Wir wissen es besser als ihr.

So etwas kannte man bislang nur aus den Anfangsjahren der Republik. Auf dem Höhepunkt der „Spiegel“-Affäre stellte sich Konrad Adenauer vor die Abgeordneten des Bundestags und verlangte, man solle die Beamten doch einfach mal in Ruhe ihre Arbeit machen lassen. Das war das Staatsverständnis, gegen das wenig später eine ganze Generation auf die Straße ging.

Der Obrigkeitsstaat ist zurück. Seine Fans kommen allerdings nicht mehr von rechts, sondern von links. Ironischerweise sind es heute vor allem die Grünen, die am vehementesten für einen Vertrauensvorschuss werben.

Dass niemand das Gutachten beim Verfassungsschutz einsehen kann? Die Männer und Frauen verrichten ihren Dienst zum Schutz der Demokratie: Wir sollten ihnen danken, statt ihre Urteilsfähigkeit anzuzweifeln. Was, Sie haben trotzdem Zweifel? Wer Misstrauen gegen die Sicherheitsorgane hegt, wird dafür wohl seine Gründe haben!

Um zu den einfach nachprüfbaren Fakten zurückzukommen: Der Verfassungsschutz ist keine unabhängige Instanz, wie behauptet wird. Er untersteht direkt dem Bundesinnenministerium und ist damit weisungsgebunden. Wenn die Bundesinnenministerin einen Bericht bestellt, darf sie erwarten, dass er umgehend auf ihrem Tisch liegt.

So ganz scheint auch das Bundesamt für Verfassungsschutz der Überzeugungskraft seiner Pressemitteilung nicht getraut zu haben. Deshalb ging das Gutachten aus interessierten Kreisen an den „Spiegel“ und die „Bild“. Der „Spiegel“ bietet sich als Verbreitungsorgan an. Hier arbeiten vor allem Redakteure, die sich selbst als kleine Verfassungsschützer sehen. Seit Mitte der Woche kursiert eine vollständige Kopie im Netz.

Ich habe mir die Belege angeschaut. Nach Lektüre fragt man sich: Und das muss „geheim“ gestempelt sein? Auch in Köln-Chorweiler ernährt man sich im Wesentlichen von Zeitungslektüre. Einiges von dem, was nun als Beleg für eine gesichert rechtsextreme Position gilt, fand sich außerdem eben noch bei führenden CDU-Politikern. Witzbolde haben umgehend ältere Clips ins Netz gestellt, in denen prominente Christdemokraten vor Multikulti und einer zu eilfertigen Aufgabe deutscher Leitkultur warnen.

Selbstverständlich gibt es in den Reihen der AfD Rassisten, Sexisten und Faschisten – und das bis in die Führungsetagen. Deshalb stößt die AfD ja bei der Mehrheit der Bürger auf Argwohn oder Abwehr. Aber man muss offenbar immer wieder in Erinnerung rufen, dass Meinungsfreiheit nicht bei Annalena Baerbock und Robert Habeck endet. Sie umfasst auch unziemliches und pöbelhaftes Reden. Ja sogar explizit fremdenfeindliche Auffassungen sind von ihr gedeckt. Die AfD ist eine dezidiert unbürgerliche Partei. Ein Teil der Funktionäre lehnt das System ausdrücklich ab, jede Zusammenarbeit mit den sogenannten Altparteien gilt als Verrat. Aber arbeiten nennenswerte Teile der AfD aktiv auf die Überwindung des Systems hin? Planen sie den Umsturz? Das ist die entscheidende Frage. Dafür wiederum ist die Beweislage erstaunlich dünn.

Was tun? Der ehemalige mecklenburgische Bildungsminister Mathias Brodkorb hat vor ein paar Monaten ein schmales Büchlein mit dem Titel „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ vorgelegt. Es ist in der Flut der Neuerscheinungen untergegangen, was bedauerlich ist, denn selten hat man eine so fundierte Kritik gelesen.

Falls jemand meint, der Autor tendiere möglicherweise selbst nach rechts: Die Angst kann ich ihm nehmen. Brodkorb ist aller Sympathie mit der AfD unverdächtig. Er ist nicht nur seit vielen Jahren SPD-Mitglied. Am Anfang seiner politische Karriere steht die Gründung des Onlineprojekts „Endstation Rechts“ zur Dokumentation rechtsextremistischer Umtriebe. Wenn der Mann also vor dem „Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“ warnt, sollte man das ernst nehmen.

Brodkorb erinnert ihn seinem Buch daran, dass dieser Geheimdienst eine für westliche Demokratien ziemlich einmalige Einrichtung ist. Eine Behörde zur Überprüfung der politischen Gesinnung ihrer Bürger: Das gibt es in keinem anderen fortschrittlichen Land.

Zudem ist das Amt höchst fehleranfällig. Weil auch der Verfassungsschutz nicht an dem Grundsatz vorbeikann, wonach die Gedanken frei sind, muss er sein Augenmerk auf den Punkt legen, wo sich böse Gedanken zu bösen Absichten verdichten. Damit aber bewegt er sich ins Reich der Vermutungen, denn auch die raffinierteste Behörde der Welt kann nicht in die Herzen der Bürger sehen. Abwarten, bis man genauer weiß, ob einer nur wilde Reden schwingt oder es wirklich ernst meint, ist keine Option. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es ja gerade, tätig zu werden, bevor sich die Absicht zur Tat materialisiert.

Verteidiger werfen ein, dass der Verfassungsschutz keine reale Macht habe. Er kann missliebige Subjekte nicht festsetzen oder anklagen lassen. Aber das verkennt die politische Macht. Wer als Verfassungsfeind in den Jahresberichten oder Sondergutachten auftaucht, ist in der Regel erledigt. Und es gibt wenig, was man dagegen tun kann. Alle Versuche, sich gegen eine Nennung zu wehren, sind mit langwierigen Verfahren verbunden. Das Stigma bleibt.

„Das Gutachten des Verfassungsschutzes verschiebt jetzt eigentlich die Beweislast“, hat die Grünen-Politikerin Ricarda Lang vor wenigen Tagen im ARD-„Morgenmagazin“ erklärt. „Das heißt, diejenigen, die gegen eine Prüfung des Verbots sind, die müssen doch begründen, warum unsere Demokratie eine gesichert rechtsextreme Partei dulden sollte.“

Nennen Sie mich altmodisch, aber ich bin bis heute der Auffassung, dass nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen muss, sondern der Ankläger die Stichhaltigkeit seiner Vorwürfe.

© Michael Szyszka

Deutsche Exzessjustiz

3500 Euro wegen Verbreitung eines Fotos, auf dem Karl Lauterbach mit erhobenem Arm zu sehen ist. 1500 Euro für das ironische Zitat eines Hashtags. Der Kampf gegen Hass im Netz nimmt groteske Formen an

Wie viele Menschen erinnern sich noch an Einzelheiten der Wulff-Affäre? Ich meine nicht das Ehedrama, obwohl auch das eine längere Betrachtung wert wäre. Dreimal einander das Jawort geben und dreimal vor den Scherben seiner Ehe stehen: Das verlangt schon eine besondere Form der Demut.

Und die Umstände der Trennung sind wieder nicht schön. Wie ich lesen musste, ist es dieses Mal ein Bodyguard aus Sylt, mit dem Bettina Wulff in inniger Umarmung gesichtet wurde. Dass mich die zugehörigen Fotos in meiner Meinung über den zweifelhaften Charakter des Inselparadieses bestärken, muss ich Ihnen nicht sagen. Warum konnte es nicht zumindest ein Personenschützer aus Husum oder von der Hallig Hooge sein? Aber nein, natürlich Sylt!

Wenn ich heute an Christian Wulff erinnere, dann meine ich die Vorwürfe, er habe sich als Politiker Vorteile verschafft, die ihm nicht zustanden. Ich bin neulich noch einmal auf die Ermittlungen gestoßen, die ihn das Amt als Bundespräsident kosteten. Im Rückblick ist es atemberaubend, was die Staatsanwaltschaft alles unternommen hat, um den Mann zur Strecke zu bringen. Über 20 000 Seiten umfasste die Ermittlungsakte. Mehr als hundert Zeugen wurden vernommen.

Um was es ging? Am Ende um den Vorwurf, Wulff habe sich bei einem Oktoberfestbesuch im Käfer-Zelt unrechtmäßig einen Entenschlegel zum Mund geführt. Die Ermittler hatten nicht nur die Sitzordnung mittels einer Schautafel minutiös rekonstruiert. Sie hatten sich auch bis auf die letzte Maß einen Überblick verschafft, was es zu essen und zu trinken gab und wie ausgelassen es dabei zuging.

Aber was ist die Macht eines Polizeibeamten gegen die einer deutschenStaatsanwaltschaft?

Wenn Wulff behauptete, er trinke vor allem Obstsaft, sichteten seine Verfolger Tausende von Fotos, um ihm nachzuweisen, dass er sehr wohl hin und wieder dem Alkohol zuneige. Erklärte er, sich aus Haxen nichts zu machen, wurde die Kellnerin ausfindig gemacht, die vier Jahre zuvor Bier und Fleisch aufgetragen hatte.

Wenn wir über Amtsmissbrauch sprechen, haben wir übereifrige Behördenmitarbeiter oder schikanöse Polizisten vor Augen. Aber was ist die Macht eines Polizeibeamten gegen die einer deutschen Staatsanwaltschaft? Wer einmal in deren Fänge gerät, dem gnade Gott. Der braucht sehr viel Geld und sehr gute Anwälte, um nicht zu verzagen.

Eigentlich soll ein Staatsanwalt unparteiisch agieren, so sieht es die Strafprozessordnung vor. Aber damit geben sich immer weniger Vertreter zufrieden. Im Zweifel auch Beweise sichten, die für den Angeklagten sprechen? Wo kommen wir denn da hin! Dann müsste man ja ein wenig leiser auftreten, am Ende sogar bescheiden.

Ich habe den Fall Wulff auch deshalb erwähnt, weil er geradezu mustergültig für eine Politisierung der Justiz steht, die uns besorgen sollte. Der Unterschied zu heute ist: Was damals vor allem die Reichen und Berühmten betraf, kann heute nahezu jeden treffen.

Ich habe vergangene Woche mit dem Anwalt Marcus Pretzell telefoniert. Pretzell vertritt den Rentner Stefan Willi Niehoff aus dem fränkischen Burgpreppach. Das ist der Mann, der im November in aller Herrgottsfrühe Besuch von der Polizei bekam, weil er auf X ein Bild verbreitet hatte, auf dem Robert Habeck als „Schwachkopf“ verhohnepipelt worden war.

Man sollte meinen, dass die Staatsanwaltschaft Bamberg, die Niehoff die Polizei auf den Hals hetzte, etwas behutsamer auftritt, seit der Fall als Beispiel für Exzessjustiz durch alle Medien ging. Aber nein, jetzt erst recht, lautet das Motto. Nun versucht man, den Rentner wegen der „Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher und terroristischer Organisationen“ dranzukriegen, wie es in einem Strafbefehl vom 15. April heißt.

Der Beweis? Unter anderem eine Bildmontage auf X, bei der neben ein Foto der Moderatorin Sarah Bosetti („Der Ungeimpfte ist der Blinddarm, der im strengeren Sinne für das Überleben des Gesamtkomplexes nicht essenziell ist“) ein Bild des KZ-Arztes Fritz Klein gestellt wurde, der Juden als den Blinddarm am Körper Europas bezeichnete.

Vor Kurzem hätte er jemanden, der ihn aufgrund eines Ermittlungsverfahrens wegen Volksverhetzung kontaktierte, gebeten, sich an einen der einschlägig bekannten Szeneanwälte zu wenden, sagt Pretzell. Da sei das fast ausnahmslos ein Delikt rechtsradikaler Aktivisten gewesen. Inzwischen sei es ein Allerweltsvorwurf, der alle naslang vorkomme.

Es ist nicht so, dass es im Netz nicht genug Dinge gäbe, die verfolgungswürdig wären. Ich habe vor Jahren für einen „Spiegel“-Report wochenlang zu den Abgründen recherchiert, die sich bei Facebook auftun. Es ist irre, was einem dort präsentiert wird: Naziverherrlichung, Holocaustleugnung, Vergewaltigungsandrohungen, Aufrufe zur Gewalt – das ganze Programm.

Und die Strafwürdigkeit ist in vielen Fälle auch keine Auslegungsfrage. Wer das Bild von SS-Soldaten postet, die mit dem Maschinengewehr in eine Gruppe von Menschen halten, und dazu schreibt: „Meine Lösung der Flüchtlingsfrage“, benötigt keinen Übersetzer. Angeblich ist die Löschpraxis bei Facebook zwischenzeitlich strenger geworden. Aber nach wie vor findet man dort allen möglichen Wahnsinn, ohne dass es Konsequenzen hätte.

Weshalb lassen die mit dem Kampf gegen Hass und Hetze betrauten Staatsanwälte das laufen? Es gibt nur eine plausible Erklärung: Es ist ihnen zu anstrengend und zu kompliziert, sich mit Facebook anzulegen. Dann müssten sie ja gegen einen Milliardenkonzern vorgehen, der seinen Sitz praktischerweise in Irland hat, was Schriftverkehr in englischer Sprache erforderlich macht, um mit dem naheliegendsten Hindernis zu beginnen. Also greifen sie sich lieber die armen Kerle, die so unvorsichtig sind, auf X irgendwelchen Quatsch zu posten.

Da gibt es dann kein Halten mehr. 3500 Euro Strafbefehl wegen Verbreitung eines Schnappschusses, auf dem Karl Lauterbach mit erhobenem rechtem Arm zu sehen ist (Staatsanwaltschaft Schweinfurt). 1500 Euro wegen des Postens eines ironisch kommentierten Screenshots eines Twitter-Rankings, bei dem der Hashtag #AllesfürDeutschland ganz oben trendet (Staatsanwaltschaft Köln).

Es geht auch immer nur in eine Richtung. Nach den Todesschüssen auf einen jungen Mann
setzte die Amadeu Antonio Stiftung vorletzte Woche folgenden mittlerweile gelöschten Tweet ab: „Ein Polizist ermordet in Oldenburg den Schwarzen Lorenz A. ‚Einzelfall‘ schreit die Polizei. Außerdem hätte
er den Polizisten mit einem Messer bedroht – gelogen wie sich herausstellt. Die Wahrheit: In Deutschland herrschen ‚amerikanische Verhältnisse‘.“

Bislang ist der Tathergang völlig ungeklärt. Steht die Staatsanwaltschaft bei der Stiftung jetzt wegen Falschbeschuldigung in der Tür? Lässt man Computer beschlagnahmen und die Mitarbeiter vernehmen? Selbstverständlich nicht. Hass und Hetze gegen Polizeikräfte gilt vielerorts als zivilgesellschaftliches Engagement, da drückt man beide Augen zu.

Außerdem wäre eine Strafverfolgung ja eine Art Ermittlung des Staates gegen sich selbst. Unter den mit reichlich Steuergeld bedachten NGOs ragt die Amadeu Antonio Stiftung heraus. Auf vier Millionen Euro beliefen sich im Haushaltsplan 2023 allein die Zuwendungen der Bundesregierung.

Bleibt die Frage, wem eine Staatsanwaltschaft gegenüber
Rechenschaft ablegen muss. Formal untersteht sie dem Justizministerium. Aber wie es aussieht, kümmert das niemanden. Warum auch?

Die vier Jahre währenden Ermittlungen gegen Christian Wulff gingen mit einem Freispruch für den ehemaligen Bundespräsidenten zu Ende. Hatte das unrühmliche Ende der Wühlarbeit, die
den Steuerzahler ein Vielfaches der Oktoberfestsause kostete, für die beteiligten Staatsanwälte irgendwelche negativen Folgen? Selbstverständlich nicht.
In dieser Welt bemessen sich Erfolg und Misserfolg an anderen Kriterien.

© Sören Kunz

Der große TÜV-Schmu

Demnächst sollen Autofahrer ihren Wagen bereits alle zwölf Monate in die Werkstatt bringen. Und für Häuser soll es einen jährlichen Gebäude-TÜV geben. Aber klar, die neue Regierung verspricht tapfer mehr Bürokratieabbau

Geniale Idee: Die deutschen Autofahrer bringen ihr Auto nicht mehr alle zwei Jahre zum TÜV, sondern schon nach zwölf Monaten. Auf einen Schlag mehr Werkstattbesuche, mehr ausgelastete Techniker, mehr Gebühreneinnahmen. Und das alles nicht per Appell an die Einsicht, sondern per Verordnung, die bei Nichtbefolgung empfindliche Strafen nach sich zieht. Wenn ich beim TÜV wäre, ich könnte mein Glück kaum fassen.

Für alle anderen, insbesondere die gebeutelten Autofahrer, ist die Idee nicht ganz so genial. Eine Hauptuntersuchung schlägt mit 150 Euro zu Buche, egal ob die Prüfer etwas finden oder nicht. Meist finden sie nichts. Das ist zwar beruhigend, aber eben auch ärgerlich, weil es zeigt, dass es den Zirkus gar nicht gebraucht hätte.

Der deutsche Autobestand ist gottlob in einem Zustand, dass man den Prüfungszeitraum gefahrlos auf drei Jahre ausweiten könnte. In vielen Ländern gibt es gar keinen TÜV, ohne dass der öffentliche Verkehr zusammenbräche. Selbst die risikoscheuen US-Amerikaner, bei denen jeder Spielplatz einer Hochsicherheitszone gleicht, kennen nichts Vergleichbares.

Beutelschneiderei ist kein gutes Verkaufsargument, deshalb heißt es zur Begründung: aber die Sicherheit! Irgendjemand hat ausgerechnet, dass man noch mehr Verkehrstote vermeiden könnte, wenn man alle Autos, die älter als zehn Jahre sind, einmal im Jahr in die Werkstatt schickt.

Die Experten, die nicht beim TÜV angestellt sind, widersprechen. Totaler Quatsch sagt der ADAC. Wegen ein paar hängender Auspuffrohre Millionen Kraftfahrzeugbesitzer drangsalieren: Was für eine Schnapsidee. Aber weil der ADAC als fiese Lobbyorganisation gilt, der TÜV hingegen als eine Art Samariterbund, ist die Sache so gut wie entschieden. Ab 2026 ist es so weit, wenn nicht noch ein Wunder geschieht.

Heute ist es das Auto, morgen der Alkohol – irgendein Quatschexperte findet sich immer. Der „Spiegel“ präsentierte vergangene Woche einen Suchtforscher, der ausgerechnet hat, dass sich 850 alkoholbedingte Todesfälle im Jahr vermeiden ließen, wenn man alkoholische Getränke um fünf Prozent teurer machte, weil dann der Pro-Kopf-Verbrauch um 2,2 Prozent sinken würde.

Dass so etwas in einem seriösen Magazin steht, ohne dass die Redaktion in Gelächter ausbricht, ist der wahre Clou. Anderseits: Wer will sich schon nachsagen lassen, dass ihm der Tod von Menschen egal sei, nicht wahr?

Die sicherste Welt ist zweifellos die, in der man nicht mehr aus dem Haus tritt. Wobei: Selbst das stimmt ja nicht. Zu Hause droht der gefürchtete Hausunfall. Wie viele Menschen jedes Jahr von der Leiter fallen, weil sie mal eben die Gardinenstange richten wollen: schockierend! Selbst in der Büroklammer steckt der Tod. Wussten Sie, dass mehr Mitteleuropäer an einer verschluckten Büroklammer sterben, als einem islamistischen Terroranschlag zum Opfer fallen? Ich nicht, bis ich es zufällig beim Googeln entdeckt habe.

Niemand ist für mehr Bürokratie. Trotzdem haben wir immer mehr davon. Das ist das Paradox unserer Zeit.

Auf X hat neulich ein Unternehmer das Bild einer Herstellerangabe gepostet, die von den zuständigen Behörden moniert wurde, weil die Buchstabengröße im Adressfeld beim „e“ im Wort „Soundsoweg“ zu klein geraten war. Die Abweichung vom geforderten Standard war nur mit einem Elektronenmikroskop zu erkennen. Ohne Lupe konnte man kein, aber wirklich gar kein Problem sehen. Egal: Der arme Mann muss sein Produkt aus dem Verkehr ziehen, um es dann mit korrigierter Angabe erneut in Umlauf zu bringen.

Das Prinzip ist theoretisch unendlich ausweitbar. Warum nicht auch Gehölze überprüfen lassen, deren Zweige Spaziergänger erschlagen könnten? Oder Häuser? Aber halt, das ist ja genau die neue Idee der TÜV-Gemeinde. Eine Art Gebäude-Hauptuntersuchung, einmal im Jahr, verbindlich für jede Wohnimmobilie in Deutschland – so schlägt es das Deutsche Institut für Normung in einem 40-seitigen Papier vor.

Wenn man schon einmal dabei ist, belässt man es selbstverständlich nicht bei einer flüchtigen Bestandsaufnahme. 250 Kontrollen umfasst das DIN-Papier. Ist die Dachrinne sicher befestigt? Können die Dachluken ordentlich verschlossen werden? In welchem Zustand befindet sich der Schornstein? Auch die Sicherheit von Treppengeländern, Balkongeländern, Vordächern und Markisen sollte jedes Jahr gecheckt werden!

Zu meiner Osterlektüre gehörte „Wolfszeit“, Harald Jähners hochgelobte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahre. Dass in Deutschland Einrichtungen wie der TÜV, das DIN oder die Stiftung Warentest in so hohem Ansehen stehen, führt Jähner auf das Trauma der Schwarzmarktzeit zurück, als man sich Gaunern und Schiebern anvertrauen musste, wenn man nicht verhungern wollte. Jeder Tauschhandel war von der Angst begleitet, über den Tisch gezogen zu werden. Und oft genug wurde
man das ja auch. Dann stellte man, wenn man Pech hatte, fest, dass das Öl gepanscht, die Zigaretten gestreckt und das Brot gar kein richtiges Brot war.

Auch im neuen Koalitionsvertrag findet sich wieder ein Kapitel zum Bürokratieabbau. „Durch einen umfassenden Rückbau der Bürokratie werden wir unseren Staat wieder leistungsfähig machen“, heißt es dort. Wenn ich mich recht erinnere, stand das so ähnlich allerdings schon im letzten Koalitionsvertrag. Und in dem davor.

Ich fürchte, es braucht eine Art Selbstverpflichtung, wenn man vorankommen will. Für jedes neue Gesetz, das der Gesetzgeber erlässt, muss er eines benennen, das er abschafft. Und damit würde man die Flut an Regelungen und Vorschriften ja nur konstant halten.

Wenn man den Wildwuchs wirklich eindämmen wollte, bräuchte es eine Art Beweislastumkehr. Also statt immer zu vermuten, dass jemand eine Gesetzeslücke ausnutzen könnte, wenn man sie nicht rechtzeitig schließt, wartet man erst einmal ab, ob der Schaden wirklich so groß ist, wie angenommen wird.

Apropos TÜV, wird sich der eine oder andere aufmerksame Zeitungsleser vielleicht sagen. Ist das nicht die Vereinigung, die in Brasilien einen Staudamm als sicher zertifizierte, der dann leider doch brach und eine Schlammlawine freigab, die 270 Menschen unter sich begrub? Doch, genau das ist er, in diesem Fall der TÜV Süd.

Na ja, gut, nobody is perfect. Der Fall ist seit fünf Jahren beim Landgericht München anhängig. Die Sache zieht sich, weil immer noch nicht geklärt ist, welches Recht für die Entschädigungsforderungen gelten soll, brasilianisches oder deutsches.

Was ich bei der Gelegenheit gelernt habe: dass der TÜV Süd ein weltweit operierendes Unternehmen ist, das bei Bedarf alles Mögliche prüft, nicht nur makellose Autos auf ihre dann TÜV-garantierte Makellosigkeit. Der Technische Überwachungsverein, wie das Kürzel TÜV ausgeschrieben heißt, ist auch gar kein Verein, sondern eine Aktiengesellschaft, die einen Jahresumsatz von mehreren Milliarden Euro ausweist.

Ach, bei einem Unternehmen beschäftigt zu sein, das sich seine Kunden vom Staat zutreiben lässt, das möchte man auch mal erleben. Das ist fast so gut wie eine Bank, die sich ihr Geld selbst druckt.

© Silke Werzinger