Monat: Juni 2021

Spinnt Spahn?

Der Kolumnist hat nie zu denen gehört, die den Gesundheitsminister für jeden Fehler in der Krise verantwortlich machten. Aber jetzt reicht es ihm. Solange Jens Spahn dabei ist, wird er im September alles wählen, aber nicht die Union

Führt die Regierung einen heimlichen Feldzug gegen Kinder? Haben die Kinder irgendetwas getan, wofür man sich in Berlin meint rächen zu müssen? Das frage ich mich inzwischen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war am Wochenende bei der Evangelischen Akademie Tutzing zu Gast. Das Thema lautete „Nach Corona?“. Erst sprach Wolfgang Thierse, früher Bundestagspräsident und heute Leiter des Politischen Clubs der Akademie, ein paar Einleitungssätze. Danach war Spahn an der Reihe.

Der Minister zog zunächst eine positive Bilanz. Nie sei das Gesundheitssystem so überlastet gewesen, dass man Patienten hätte abweisen müssen. Die Wissenschaft habe eine wichtige Rolle gespielt. Auch der Zusammenhalt der Gesellschaft sei etwas, worauf man stolz sein könne.

Dann kam er auf die Delta-Variante zu sprechen. Schulen seien Drehscheiben des Virus in die Haushalte hinein, sagte Spahn. Da man unter 12-Jährige nicht impfen könne, werde man nach den Sommerferien wieder Schutzmaßnahmen brauchen: Masken, Abstand, Wechselunterricht.

Als ich das erste Mal von dem Auftritt hörte, dachte ich, das sei ein Scherz. Rückkehr zum Wechselunterricht? Weiß der Minister, wovon er redet? Kennt er die Wirklichkeit in den Schulen?

Meine Schwiegermutter war bis vor Kurzem Lehrerin an einer Grundschule in Bayern. Ihre beste Freundin hat noch zwei Jahre bis zur Pensionierung. Sie hat ihre Schüler jetzt zum ersten Mal seit einem Jahr in der Klasse ohne Maske gesehen. Es war für alle ein bewegender Moment. Einige Kinder wussten gar nicht, dass es Unterricht ohne Maske gibt.

Und das soll jetzt wieder alles von vorne beginnen?

Man muss in der Zeitung nur umblättern, um von der Ankündigung über die Wiedereinführung des Wechselunterrichts zu dem Bericht über die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen zu gelangen. Die Zahl der psychisch auffälligen Kinder ist inzwischen so groß, dass nur wer akut in Not ist, einen Therapieplatz bekommt. „Akut in Not“ heißt: selbstmordgefährdet.

Auch Kinder, die nicht an Depressionen leiden, haben es schwer, in den Schulalltag zurückzufinden. Am Wochenende wurde eine Studie publik, wonach die Qualität des Distanzunterrichtes dem von Sommerferien entsprach. Jeder weiß, wie viel in den Sommerferien gelernt wird.

Es ist nicht so, dass die Regierung kein Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen in der Pandemie hätte. Fußballfans liegen ihr sehr am Herzen. In München lagen sich 14000 Menschen nach dem Sieg über Portugal in den Armen. Das Stadion ist keine Drehscheibe des Virus, es ist ein Drehkreuz. Aber man will ja kein Spielverderber sein. Außerdem gibt es Wichtigeres zu diskutieren als den Infektionsschutz, die Frage der angemessenen Stadionbeleuchtung zum Beispiel.

Man kann sogar nach London reisen, um dort der Siegermannschaft zuzujubeln. England steht wegen der Delta-Mutante auf der Skala der Risikogebiete als Virusvariantengebiet auf der höchsten Stufe. Die Bundesregierung rät von Reisen nach London ab. Aber es ist auch nicht so, dass man den Reiseverkehr unterbinden würde oder die Schlachtenbummler anschließend in Quarantäne nähme. Mit der UEFA will es sich niemand verscherzen. Deshalb fragt man auch vorsichtshalber um Genehmigung, bevor man das Stadion in den Farben des Regenbogens erstrahlen lässt.

Politik diene den Menschen, heißt es gern. Vor allem dient sie den Gruppen, die sich besonders lautstark in Erinnerung bringen. Ganz oben in der Gunst stehen Friseure, wie man jetzt weiß. Auch die Besitzer von Baumärkten haben mächtige Fürsprecher. Ziemlich weit hinten finden sich Künstler, Autoren, Freischaffende. Ganz unten rangieren Familien.

Am Ende ist Politik ein Rechenspiel. Es gibt 22 Millionen Rentner, das ist der mit Abstand wichtigste Wählerblock. Wer die Rentner auf seiner Seite hat, der sitzt praktisch schon im Kanzleramt. Wenn ich als Politiker vor der Wahl stünde, was ich als Erstes öffne, Kreuzfahrtschiffe oder Klassenräume, ich wüsste auch, wofür ich mich entscheiden würde.

Ich habe nie zu denen gehört, die alles, was schiefläuft, an Spahn aufhängen. Als man ihm aus den Maskendeals einen Strick drehen wollte, war ich im Lager derjenigen, die Verständnis für die Eile beim Einkauf hatten. Ich fand auch den Vorwurf überzogen, er habe an Obdachlose minderwertige Masken abgeben lassen, weil die nicht ausreichend darauf getestet wurden, ob sie bei 70 Grad noch einwandfrei funktionieren.

Selbst als herauskam, dass sein Ministerium Millionen mit Schnelltests in den Sand gesetzt hat, da man bei der Erstattung der Kosten die einfachsten Plausibilitätchecks unterließ, dachte ich: Okay, nicht schön, aber für jeden ist das die erste Pandemie, auch für die Beamten im Gesundheitsministerium. Inzwischen denke ich, dass Spahn als Minister einfach heillos überfordert ist.

Was soll das heißen: die Schulen seien Drehscheibe des Virus in die Haushalte hinein? Wollen wir erst dann über eine Rückkehr zur Normalität reden, wenn sich niemand mehr ansteckt? Was wäre der richtige Zeitpunkt? Wenn sich die sogenannte Herdenimmunität einstellt? Ob die je erreicht werden kann, daran haben die Virologen große Zweifel.

Am Montag hat Spahn seine Ankündigung relativiert. Er findet jetzt auch, dass es wichtig sei, die Schulen offen zu halten. Ich glaube, er sagt das nur, weil er weiteren Ärger vermeiden will. Die Zahl der Infektionen hat sich über das Wochenende ja nicht geändert. Auch die Voraussagen über die Verbreitung der indischen Mutante sind die gleichen geblieben.

Was mich rasend macht, ist die Mischung aus Fatalismus und Nonchalance. Wann habe ich das erste Mal einen Artikel über die segensreiche Wirkung von Luftfiltern gelesen? Im Sommer 2020? 3500 Euro kostet ein Gerät, das alle Schadstoffe so verlässlich aus der Luft filtert, dass 99 Prozent der Viren hängen bleiben. Selbst das „Cafe Luitpold“ am Münchner Odeonsplatz hat sich so einen Kasten angeschafft, damit die Kundschaft unbehelligt von Aerosolen den Kuchen genießen kann. Aber für unsere Kinder ist uns die Anschaffung zu kostspielig?

Vor ein paar Monaten stand in der Zeitung die Geschichte eines Unternehmers, der die Untätigkeit nicht mehr ertrug und deshalb der Schule seines Sohnes ein Dutzend Geräte schenkte. Kaum waren die Filteranlagen geliefert, trat die Schulverwaltung auf den Plan und verbot die Aufstellung. Man könne nicht ausschließen, dass die Stromleitungen überlastet würden. Vor dem Kampf gegen das Virus steht in Deutschland immer noch die Brandschutzverordnung.

Man kann sagen: Gut, Spahn, der ist Gesundheitsminister, was hat der schon bei den Schulen zu entscheiden? Auch mein Zutrauen in die Kultusminister geht gegen null. Alle behaupten, das Schicksal der Schulkinder sei ihnen wichtig, man wolle die Schulen auf keinen Fall wieder schließen. Aber ich glaube, genau so wird es kommen. So wie ich die Kultusminister kenne, werden sie sich jetzt in die Sommerferien verabschieden, um mit Beginn des neuen Schuljahres dann erstaunt festzustellen, dass die Infektionszahlen im Herbst ja wieder steigen.

Meine Frau hat eigentlich immer die Union gewählt. „Solange Spahn dabei ist, wähle ich sie nicht mehr“, erklärte sie am Wochenende. Ich habe ihr beigepflichtet. Es ist ungerecht, den angesammelten Ärger an einer Person festzumachen, aber das ist nun einmal das Privileg des Wählers. Auf die Stimmen der Familie Fleischhauer wird die Union im September verzichten müssen.

©Sören Kunz

Knüpft sie auf am falschen Wort!

Unter Autoren und Intellektuellen macht sich eine neue Form der Legasthenie breit. Die Fähigkeit, Sätze im Kontext zu lesen, ist stark vermindert. Alles wird nach Möglichkeit so verstanden, dass es als Waffe verwendet werden kann

Vor ein paar Jahren habe ich einmal Jürgen Trittin verteidigt. Die Bundestagswahl 2013 stand an, damals war Trittin der Spitzenkandidat der Grünen. Irgendjemand hatte einen Text ausgegraben, den er als Student unterschrieben hatte und in dem die Straffreiheit von Sex mit Minderjährigen gefordert wurde. Kinderschänder Trittin, hieß es darauf: So einen kann man doch nicht wählen!

Ich bin sofort dabei, wenn es gegen die Grünen geht. Die Mischung aus Sonntagspredigt, Moralekstase und Magenbitter verursacht mir regelmäßig Unwohlsein, insofern betrachte ich meine Kolumne als Therapeutikum aus Notwehr. Aber einen Politiker an einem 32 Jahre alten Zitat aufknüpfen zu wollen, das noch nicht einmal von ihm selbst stammt, sondern das er nur presserechtlich verantwortet hat, weil jemand im Impressum stehen musste?

Man fragt sich, ob ein Politiker des Jahres 2045 mit einem Tweet des Jahres 2013 zu Fall gebracht werden wird, schrieb ich. Was kommt als Nächstes?

Heute wissen wir, was als Nächstes kommt. Vor drei Monaten musste die Chefredakteurin der „Teen Vogue“, Alexi McCammond, ihren Posten räumen. Eben noch schien sie die ideale Besetzung: eine afroamerikanische Frau an der Spitze einer Modezeitschrift. Dann wurde ihr ein Eintrag auf Twitter zum Verhängnis, in dem sie als 17-Jährige nach einer Partynacht geschrieben hatte, sie sei am Morgen mit asiatisch geschwollenen Augen aufgewacht.

Asiatische Augen? Wie rassistisch! Hinfort mit ihr! Dass sich die arme Frau tausendmal entschuldigt hatte für die Unbedachtheit, mit der sich eine 17-jährige Version ihres heutigen Ich geäußert hatte? Dass sie den Tweet längst gelöscht hatte? Half alles nichts. Die neue Tugendwelt kennt kein Vergessen und keine Gnade. Irgendwo existiert immer ein Screenshot.

Vergangene Woche hat es Carolin Emcke erwischt. Falls Ihnen der Name nicht auf Anhieb etwas sagt: Frau Emcke ist Autorin mehrerer Bücher, in denen dargelegt wird, warum die Linken nicht nur die besseren Argumente auf ihrer Seite hätten, sondern auch die lauteren Motive. Dafür ist sie mit Preisen überhäuft worden, unter anderem dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Brücken-Preis der Stadt Regensburg, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, um nur ein paar zu nennen.

Am Wochenende war sie auf dem Parteitag der Grünen als Gastrednerin eingeladen. Ihr Thema war die Relativierung der Wahrheit, was sie zu der Feststellung veranlasste, dass nach Juden, Feministen und Virologen nun vermutlich die Klimaforscher ins Fadenkreuz der Wahrheitsverdreher gerieten. Als Parteitagsrednerin sah sich Frau Emcke in der Pflicht, etwas zur grünen Sache beizutragen. In dem Fall dachte sie wohl, ein zusätzlicher Moral-Boost könne nicht schaden. Die grüne Parteispitze schaute dann auch ganz ergriffen.

Ich bin kein Fan von Carolin Emcke, wie Sie sich denken können, so wie ich kein Fan von Jürgen Trittin war. Wo ständig der Nahtod der Demokratie besungen wird, nimmt einer wie ich Reißaus. Ich mochte Grunge schon als Musik nicht. Als ich die etwas merkwürdige Aufzählung sah, wer angeblich alles mit Verfolgung durch rechte Wahrheitsfeinde rechnen muss, dachte ich: Geht’s nicht ’ne Nummer kleiner? Die Klimaforscher als die neuen Juden?

Soweit ich das beurteilen kann, haben nicht diejenigen einen schweren Stand, die dem Kampf gegen den Klimawandel das Wort reden, sondern diejenigen, die im Verdacht stehen, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Aber ist das Ganze deshalb ein Skandal, der es wert ist, dass sich sogar der CDU-Generalsekretär einschaltet? Ist man gleich Antisemit, weil man einen etwas törichten Vergleich benutzt? Da habe ich dann doch meine Zweifel.

Wir haben es mit einer neuen Form der Legasthenie zu tun. Die Fähigkeit, Sätze im Kontext zu lesen, ist dabei stark vermindert. Jeder Satz wird so verstanden, dass er maximal gegen denjenigen spricht, der ihn äußert. Kein Wohlwollen mehr, kein Vertrauensvorschuss, kein Interpretationsraum – stattdessen nur die dunkelste und nachteiligste Lesart.

Das Kuriose ist, das diese neue Legasthenie vor allem unter Künstlern und Intellektuellen verbreitet zu sein scheint. Man sollte meinen, dass Leute, die sich der intellektuellen Welt zurechnen, besonders gut lesen und schreiben können, ja, dass sie sogar in der Lage sind, zwischen den Zeilen zu lesen. Aber das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wo der normale Mensch sagt: „Ach, das hat er/sie sicher nicht so gemeint“, heißt es beim politischen Legastheniker: „Kein Zweifel, er ist Faschist/Rassist/Sexist, anders kann man den Satz gar nicht verstehen.“

Manche weigern sich sogar, den Text zur Kenntnis zu nehmen, über den sie urteilen. Ihnen reicht die Überschrift. Neulich las ich in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ in einem Artikel über die Literatursendung „Das Literarische Quartett“, ich hätte vor meinem Ausscheiden beim „Spiegel“ in meiner Kolumne die Überschrift „Nazis rein“ platziert. Der Autor, der Feuilleton-Redakteur Tobias Rüther, führte das als Beleg dafür auf, wie runtergekommen „Das Literarische Quartett“ sei. Jemand, der Überschriften wie „Nazis rein“ in den „Spiegel“ schmuggelt, als Gast einer Literatursendung: unerträglich!

In der angesprochenen Kolumne ging es darum, wie man es schaffen könnte, Rechtsradikale zu redemokratisieren. Ich dachte, das sei doch, was wir wollen. Aber so weit war Herr Rüther bei der Lektüre offenbar nicht gekommen. Es interessierte ihn auch nicht, dass es in Blättern wie dem „Spiegel“ oder dem FOCUS keine Überschrift gibt, die nicht vorher die Ressortleitung passiert hat, dann die Dokumentation und anschließend, nicht ganz unwichtig, die Chefredaktion. Wenn man also jemanden hätte in den Senkel stellen wollen, weil er „Nazis rein“ fordert, dann meinen damaligen Chefredakteur, aber das hätte ja nicht in die Geschichte gepasst.

Wann hat es angefangen, dass man andere bewusst missversteht, um im Meinungskampf die Oberhand zu gewinnen? Ich kann es nicht beweisen, aber mein Eindruck ist, dass es die Linke war, die dies als Kampfmittel einführte. Konservative oder Rechte sind naturgemäß weniger empfindlich, was die Verletzung von Sprachcodes angeht. Die korrekte Ausdrucksweise war nie ihr Steckenpferd. Aber das heißt nicht, dass man rechts der Mitte nicht in der Lage wäre zu adaptieren.

Was mich immer schon verblüfft hat, ist, dass vielen Matadoren offenbar die Fantasie fehlt, dass es sie selbst erwischen könnte, wenn sie anfangen, aus jedem unbedachten Wort einen Strick zu drehen. Es gibt kein Patentrecht auf politische Methoden. Nicht nur Greenpeace-Aktivisten können sich anketten, auch Identitäre beherrschen diese Protestform, wie man neulich bei der „taz“ feststellen musste. Heute ist es die Verwendung des Wortes „Globalist“, die angeblich eine verwerfliche Gesinnung beweist, morgen eben die falsche Opferreihung.

Einer der Kombattanten, die verlässlich auf der Zinne sind, wenn es gegen Rassismus, Sexismus oder ein anderes politisches Übel geht, ist der Journalist Malcolm Ohanwe. Neulich unterlief Ohanwe ein Missgeschick. Er postete das Bild eines dicken schwarzen Mannes, der von vier weißen Männern auf einer Sänfte getragen wird. „Mein feuchter Traum“, schrieb er dazu. Dummerweise hatte er übersehen, dass es sich bei dem dicken Mann um Idi Amin handelte, einem Hitler-Verehrer und Blutsäufer allerersten Ranges. Entsprechend unnachsichtig fielen die Reaktionen aus. Zwei Tage war Ohanwe damit beschäftigt, die Scherben seines missglückten Tweets wieder einzusammeln.

„Manchmal geht ein Witz daneben. Oder man postet etwas, was witzig gemeint war und dann doch nicht so witzig ist“, schrieb ich als Kommentar. „Wenn wir alle etwas gelassener wären, dann wäre auch schon was gewonnen.“

Er hat sich dafür bei mir bedankt. Wenn alle hinter einem her sind, ist man froh über jeden, der nicht nachtritt. „Sollte ich mal in Schwierigkeiten stecken, legen Sie ein gutes Wort für mich ein“, antwortete ich. Mal sehen, ob er sich daran erinnert.

©Silke Werzinger

Die Verachtung des Wählers

Auch die Wähler der Linken sind nicht blöd. Tatsächlich sind sie weniger blöd, als viele Politiker annehmen. Auf den linken Führungsetagen fragt man sich händeringend, warum der Erfolg ausbleibt. Vielleicht liegt hier die Erklärung

Zu den bewundernswerten Eigenschaften des Kapitalismus gehört die Fähigkeit, alles zu seinem Vorzug zu nutzen, jetzt eben den Kampf gegen den Rassismus. Mein Freund Jakob Augstein vertritt die These, dass dem Kapitalismus im Grunde gar nichts Besseres passieren könne als die Fixierung auf Minderheiten.

Wäre ich Konzernboss, würde er sagen, dann ist der Deal doch ganz einfach: Stellen wir halt in der Führungsetage ein paar Leute ein, die fremd klingende Namen haben, und reden von „Audianer_innen“ statt von Beschäftigten. Solange sich an den Produktionsbedingungen oder den sozialen Verhältnissen nichts wirklich ändert: alles im Lot.

Im neuen Buch von Sahra Wagenknecht findet sich eine Geschichte, die Augsteins These sehr schön illustriert. Als der Lebensmittelhersteller Knorr im vergangenen Sommer ankündigte, seinen Saucenklassiker von „Zigeunersauce“ in „Paprikasauce Ungarische Art“ umzubenennen, war die Erleichterung groß. Endlich ein Sieg über den Rassismus! Großes Lob für die Einsichtsfähigkeit des Unternehmens!

Dass die zum Konsumgüterkonzern Unilever gehörende Firma den Mitarbeitern im Stammwerk Heilbronn zeitgleich einen neuen Tarifvertrag aufgezwungen hatte, mit deutlich schlechteren Bedingungen, fand hingegen kaum Beachtung. Keine Schlagzeile dazu, keine Erwähnung auf den Hauptnachrichtenseiten. Die Einzigen, die schäumten, waren die Betriebsräte, aber die gelten ja ohnehin als Leute von gestern.

Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt herrscht auf der linken Seite des politischen Spektrums Rätselraten, wie man so tief fallen konnte. „Das Wahlergebnis ist für die SPD wirklich furchtbar, obwohl wir wissen, dass wir genau auf die richtigen Themen gesetzt haben“, erklärte die SPD-Spitzenkandidatin Katja Pähle, ein Satz, der das händeringende Unverständnis perfekt zusammenfasst. Eine der beiden Vorsitzenden der Linkspartei ließ sich zu der Einschätzung hinreißen, die Partei habe keine Fehler gemacht, die „gesellschaftliche Verfasstheit“ in Sachsen-Anhalt sei eben falsch.

Das Problem der Linken ist, dass sie Wählerstimmen mit Likes verwechseln. Wenn ein Thema auf Twitter oder Instagram besonders trendet, denken sie in der Parteizentrale, dass es auch im Wahlkampf zünden wird. Oder wie ein kluger Kopf neulich schrieb: „Die ganze Wahlkampfstrategie der SPD ist aus der Erfahrung entstanden, dass zustimmende Tweets und Postings zu Gender, Feminismus und Identitätspolitik gut geklickt werden.“

Auch die Wähler der Linken sind nicht blöd. Tatsächlich sind sie weniger blöd, als viele Politiker annehmen, dass sie es seien. Die Verkäuferin bei dm kann sehr wohl beurteilen, ob sich ihr Leben verbessert, wenn Olaf Scholz nach seiner Zeit als Bürgermeister und Bundesfinanzminister den Rollenwechsel zum „intersektionellen Feministen“ anstrebt. Im Zweifel sagt sie: Bleibt mir weg mit eurem komischen Feminismus. Mich interessiert, wann die Schulen wieder öffnen, damit die Blagen aus dem Haus sind, und weshalb meine Stromrechnung ständig steigt.

Die Verfechter der intersektionellen Theorie sagen, dass man das eine tun könne und das andere deshalb nicht lassen müsse. Das ist theoretisch richtig, aber so läuft es in der Praxis nicht. Eine politische Bewegung muss Schwerpunkte setzen. Für jedes Thema, das in den Vordergrund rückt, rutscht ein anderes aus dem Blickfeld.

Als ich groß wurde, war der hart arbeitende Mensch, der sich durch Fortbildung aus dem Sumpf seiner Unmündigkeit zieht, das Leitbild der Sozialdemokratie. Die romantische Idee, die man in Willy-wählen-Haushalten wie dem meinen von den sogenannten einfachen Menschen hatte, war zugegebenermaßen etwas kitschig.

Über das Leben am unteren Ende der Gesellschaft hatte man in den aufgeklärten Milieus schon damals eher vage Vorstellungen. Aber niemals wäre es meiner Mutter in den Sinn gekommen, sich über ungebildete Menschen lustig zu machen oder sie zu verhöhnen, weil sie nicht ihren bildungsbürgerlichen Ansprüchen genügten. Also damals: working class hero statt white trash.

Wenn heute von der Unterschicht die Rede ist, dann allenfalls am Rande. Schon das Wort, mit dem man die Abwertung aufgrund der Klassenzugehörigkeit dem Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus beiordnet, ist seltsam sperrig. Man spricht jetzt von „Klassismus“. Für mich klingt das eher nach einer Krankheit als nach einer politischen Diagnose.

Man kann die Entfernung von der Basis interessanterweise auch im Journalismus beobachten. So, wie sich viele Politiker zu fein für ihre Wähler sind, so schreiben viele Journalisten über die Köpfe ihrer Leser hinweg.

Ich wollte immer möglichst viele Menschen erreichen. Wenn man mir die Wahl zwischen einer Kapelle und einer Großkirche lässt, entscheide ich mich automatisch für die große Bühne. Ich dachte am Anfang meiner journalistischen Laufbahn, alle würden so denken. Aber da habe ich mich geirrt. Den meisten meiner Kollegen ist der Applaus ihrer Umgebung wichtiger als der publikumswirksame Auftritt.

Der Leser spielt, anders als man vermuten sollte, auf Redaktionskonferenzen oft nur eine untergeordnete Rolle. Die erste Frage, die sich viele Journalisten stellen, lautet: Was werden die Kollegen über meinen Text denken? Der mit der SPD-Berichterstattung betraute Redakteur hat vor allem die anderen mit der SPD-Berichterstattung betrauten Redakteure im Blick, der für die Grünen zuständige Redakteur den Kreis der Grünen-Kenner.

Da den Experten andere Dinge interessieren als den Laien, verschiebt sich der Fokus der Berichterstattung: vom Allgemeinen aufs Spezielle und vom Außergewöhnlichen aufs Detail, mit dem man unter seinesgleichen glänzen kann. Im Prinzip gilt das für alle Themengebiete, bei denen sich ein Spezialistentum herausbildet: Die Feministin richtet sich mit ihren Texten vornehmlich an andere Feministinnen, die Klimawandelwarner*in an die anderen Klimawandelwarner*innen, der Nazijäger an die Gemeinde der Nazijäger.

Dummerweise ist der Kreis der Spezialisten deutlich kleiner als die Zahl der eher durchschnittlich interessierten Menschen. Der Effekt ist unmittelbar an der Auflage ablesbar. Im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dem es egal sein kann, was die Leute vom Programm halten, muss sich eine Zeitung oder ein Magazin an der Kasse bewähren. Wer an seinen Lesern vorbeischreibt oder ihnen das Gefühl gibt, dass er sich für klüger hält als sie, hat da auf Dauer einen schweren Stand.

Die spannende Frage ist: Warum fällt es vielen politisch bewegten Menschen so schwer, den eingeschlagenen Weg zu verlassen? Die Logik sollte einem sagen, dass man gut beraten ist, sich für die Leute zu interessieren, von deren Zustimmung man abhängt. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Statt von seinen fixen Ideen zu lassen, werden die Anstrengungen verdoppelt. Also hebt man noch mehr Aufrufe gegen Klimawandel und Rassismus ins Programm. Im Zweifel handelt man nach dem Motto: lieber weniger Leser oder Wähler, dafür aber die richtigen.

Wollen Sie noch einen Witz hören? Joe Kaeser, der ehemalige Siemens-Chef, unterstützt jetzt Annalena Baerbock. Er finde, sie gebe eine prima Kanzlerin ab, hat er erklärt.

Mich erinnert das an den Atheisten, der auf seine alten Tage zum Glauben findet. Klar kann man sagen: besser spät als nie. Ich finde es halt nur so furchtbar opportunistisch. Acht Jahre an der Spitze eines der größten Dax-Konzerne stehen, in dieser Zeit Millionen machen, und das nicht nur ökologisch bewusst, um dann, wenn einen der Ruhestand zwickt, den grünen Denker zu geben, damit man auf den Podien neben den Leuten sitzt, die einen eben noch angefeindet haben?

Aber so ist halt der Kapitalist. Wenn man ihm die Gelegenheit gibt, quasi kostenlos auf die richtige Seite zu rutschen, nimmt er sie dankbar wahr. Vielleicht sollten die Grünen Eintrittsgeld für ehemalige Dax- Chefs nehmen. Wer zum grünen Klub dazugehören will, muss sich von der Hälfte seines Vermögens trennen.

Es gibt im Englischen eine schöne Redewendung: Put your money where your mouth is, lautet sie. Ich glaube, ich kann mir eine Übersetzung ersparen.

©Michael Szyszka

Die verlorene Generation

Wir reden viel von sozialer Spaltung. Aber die Folgen der Corona-Politik für Kinder und Jugendliche sind bis heute kein großes Thema. Dabei ist das Bild, das Entwicklungspsychologen zeichnen, düster

In Berlin wurde bis Montag gestritten, wann die Schulen öffnen dürfen. Die Inzidenz in der Hauptstadt liegt bei 35. Die Baumärkte sind offen, auch Cafés und Biergärten kehren zum Normalbetrieb zurück. Wer einen Kabelbinder oder eine Berliner Weiße braucht, kann sich wieder auf eine geregelte Versorgung verlassen. Nur beim Zugang zu Wissen und Bildung war man sich im Senat uneins, wann man die Restriktionen aufheben sollte. Noch vor den Sommerferien? Oder lieber erst danach?

Vor allem die Linkspartei, die in der Landesregierung mit drei Senatoren vertreten ist, stemmte sich gegen die Öffnung. Auch die Schulsenatorin war dagegen. Ein Regelschulbetrieb vor den Ferien sei organisatorisch nicht zu bewältigen. Die Vorkehrungen, die bei einer Öffnung nötig sind, wurden als „zu aufwendig“ empfunden, wie man lesen konnte.

Seit Montag ist klar: Die Schulen müssen aufmachen, dem Unwillen der Landesregierung zum Trotz. Zwei Grundschüler haben das vor dem Verwaltungsgericht erstritten. Schüler, die gegen die Stadt Unterricht einklagen? Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

Wir sehen immer deutlicher, was wir den Schwächsten in dieser Gesellschaft in den vergangenen Monaten zugemutet haben. Wir sehen es in der Statistik der Patienten, die bei den Kinder- und Jugendpsychiatern vorstellig werden. Wir sehen es in den Studien der Experten, die damit beschäftigt sind, die seelische Gesundheit zu vermessen.

Es sind erschütternde Zahlen und Berichte. Depressionen, Ängste, Essstörungen – alles hat zugenommen, auch bei den Jüngsten. Und selbst wenn es nicht zu manifesten Störungen kommt, sind die Belastungen enorm.

In der „Berliner Zeitung“ schilderte eine alleinerziehende Mutter, wie sie schier verrückt wird vor Sorge, weil ihr an ADHS leidender Sohn auf der Strecke zu bleiben droht. Über Monate hatte er keinen Lehrer mehr gesehen. Ob ihm der Übergang in die gewünschte Schule nach der sechsten Klasse gelingt, ist ungewiss.

Wem das immer noch zu sehr nach Ausnahmefall klingt, der muss nur, wie ein Kollege der „Frankfurter Allgemeinen“, die Kinder befragen. Was habt ihr die letzten Monate gemacht? Fernsehen geschaut, lautet die Antwort.

Es heißt immer, die Kinder seien unsere Zukunft. Wenn das zutrifft, dann scheint uns die Zukunft nicht sehr zu interessieren. In der Krise tritt alles klarer hervor, dazu gehören auch die Prioritäten einer Gesellschaft. Nach einem Jahr Ausnahmezustand muss man sagen: Ausgerechnet auf die Jüngsten wurde am wenigsten Rücksicht genommen. Auch das ist ein Ergebnis der Corona-Maßnahmen, für die sich manche Politiker jetzt feiern lassen.

Je mehr man liest, desto mehr fragt man sich, warum das Schicksal der Kinder keine Rolle gespielt hat. Wie konnte es passieren, dass alle die Augen verschlossen? Sicher, es gab Stimmen, die sagten, vergesst die Kinder nicht. Die sich gegen Kita- und Schulschließung stemmten. Aber sie sind nicht wirklich durchgedrungen.

Bis heute sind die meisten Bundesländer nicht zum regulären Unterricht zurückgekehrt. „Wechselunterricht“ klingt so freundlich. In Wirklichkeit bedeutet es, dass man die Hälfte des Monats zu Hause bleibt, bevor man zu seinen Freunden und Klassenkameraden zurückgelassen wird. Im Strafvollzug würde man von Hofgang reden.

Ist es übertrieben, wenn man von einer verlorenen Generation spricht? Man macht sich keine Vorstellungen, was es für viele Kinder und Jugendliche bedeutet, ihrem sozialen Umfeld entrissen zu sein. Gerade Heranwachsende brauchen feste Strukturen, einen geordneten Tagesablauf, der ihnen Halt und Orientierung gibt. Kaum etwas ist schädlicher für die Entwicklung, als wenn die Zeit verschwimmt, weil ein Tag in den anderen übergeht.

Vieles wird nicht mehr aufzuholen sein. Es gibt Entwicklungsstufen, die man nicht einfach anhalten kann, um sie später erneut zu starten. Schule ist ja viel mehr als eine Einrichtung zur Wissensvermittlung. Es ist der Ort, wo sich Kinder beweisen und messen, wo sie lernen, Frustrationen auszuhalten, und soziales Verhalten einüben. In manchen Fällen ist es auch der einzige Fluchtraum, der sie vor einer alkoholumnebelten Mutter und einem prügelnden Vater trennt.

Wir reden viel von sozialer Spaltung. Wie wichtig es sei, das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern, steht in jeder politischen Bewerbungsrede ganz oben, gleich nach dem Klimawandel. Eigenartigerweise waren die sozialen Folgen des Lockdowns kaum ein Thema, auch nicht bei den Leuten, die sonst keine Gelegenheit auslassen, vor der Spaltung der Gesellschaft zu warnen.

In den sozialen Netzwerken machte neulich ein Schaubild die Runde, das die Inzidenz im Kölner Villenviertel Hahnwald (null) dem in der Hochhaussiedlung Chorweiler gegenüberstellte (520). Den Verfechtern eines strengen Lockdowns galt das als Beweis, wie wichtig eine Fortsetzung der Freiheitsbeschränkungen sei. „In wessen Interesse ist es jetzt, über ‚Lockerungen‘ nachzudenken“, lautete ein höhnischer Kommentar.

Tatsächlich verhält es sich genau andersherum: Ein Bundesminister oder auch ein FOCUS-Kolumnist können auf ihren 140 Quadratmetern im Vorort problemlos jeden Lockdown durchstehen. Wenn das Gesetz einen nicht mehr auf die Straße lässt, tritt man eben in den Garten statt auf die Straße. Bei einer fünfköpfigen Familie im Hochhaus sieht die Sache schon ganz anders aus.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, das gilt auch für die Frage, welche Einschränkungen man akzeptabel findet und welche nicht. Lediglich zwei Mitglieder des Bundeskabinetts haben kleine Kinder im schulpflichtigen Alter. Das ist nicht als Vorwurf gemeint. Ich bin sicher, dass Angela Merkel das Schicksal der Kinder, die sie der Einsamkeit ihres Zimmers überantwortete, nicht gleichgültig ist. Aber es ist eine Sache, ob man liest, wie Familien zu kämpfen haben, und eine andere, ob man es aus eigener Anschauung kennt.

Selbstkontrolle, Konzentrationsfähigkeit, die Gabe, sich auch ohne Aufsicht sinnvoll zu beschäftigen, sind stark mit Bildungsstand und sozialem Hintergrund des Elternhauses gekoppelt. Wer als Politiker den ganzen Tag mit Leuten zu tun hat, die von Kindheit an gelernt haben, sich diszipliniert zu verhalten, ist versucht, diese Fähigkeit zu überschätzen.

Eine andere Erklärung für das seltsame Desinteresse an der Not der Kinder liegt im Vertrauen auf die segensreiche Wirkung des Staates, das gerade in der linken Bewegung stark ausgeprägt ist. Für einen Linken gibt es im Grunde kein Problem, das man nicht mit Geld und der ausreichenden Anzahl von Sozialarbeitern in den Griff bekommen kann. Wenn sich die Probleme wider Erwarten halten sollten, dann hat man halt nicht genügend Geld in die Hand genommen beziehungsweise Sozialarbeiter in Bewegung gesetzt.

So gesehen sind auch die sozialen Verwerfungen aufgrund des Lockdowns lediglich ein bedauerlicher Missstand, den man schon in der nächsten Legislaturperiode mit einem groß angelegten Umverteilungsprogramm korrigieren wird. Wenn eine Generation von Kindern ein Jahr vor dem Fernseher verbracht hat: eine unglückliche Entwicklung, sicher, aber nichts, was sich nicht mit der entsprechenden Für- und Nachsorge in den Griff bekommen ließe. Dass es Entwicklungsrückstände oder, ganz grundsätzlich, Herkunftsunterschiede geben könnte, die sich nicht beheben lassen, auch nicht mit dem besten Sozialprogramm, ist in dieser Welt nicht vorgesehen.

In Frankreich waren übrigens nur wenige Wochen die Schulen zu. Ab 19 Uhr durfte niemand vor die Tür. Tagsüber konnte man sich ohne triftigen Grund nicht weiter als zehn Kilometer von seiner Wohnung entfernen. Aber der Unterricht war selbst in der dritten Welle fast durchgängig gewährleistet. Jede Nation hat eben ihre eigenen Prioritäten.

Ein Jahr vor dem Fernseher ©Marie Wolf