Monat: Oktober 2021

Linker Antisemitismus? Nein, unmöglich!

Der politische Irrsinn hat eine neue Stufe erreicht: Eine gefeierte Autorin erklärt Juden zu unerwünschten Lesern. Die Reaktion ihres deutschen Verlages? Ein Hinweis auf die Vielfalt der Perspektiven, der man sich verpflichtet fühle

Mein Sohn ist vor fünf Wochen eingeschult worden. Zu den Fächern, die er besonders mag, gehört Hebräisch. Er freut sich jedes Mal, wenn das Fach auf dem Stundenplan steht. Sie sind jetzt beim Buchstaben Schin angekommen. Schin wie in Schabat oder Schalom. Über seinem Bett hängt ein Plakat, auf das er in hebräischen Lettern seinen Namen geschrieben hat.

Man mag mir also verzeihen, wenn ich die Entscheidung des Ullstein-Verlages, sich nicht weiter zum Hebräisch-Boykott seiner Autorin Sally Rooney zu äußern, persönlich nehme. Frau Rooney ist die Autorin gefühlvoller Romane über Sorgen und Nöte der Millennials, wie die Generation der 25- bis 35-Jährigen genannt wird. Ihre Bücher haben sich millionenfach verkauft. Es gibt Ausgaben in 46 Sprachen, darunter Chinesisch und Farsi.

Nur in einer Sprache möchte Frau Rooney ihre Bücher nicht länger gedruckt sehen: in Hebräisch. Solange die israelische Regierung die Palästinenser schlecht behandele, müsse sie die Zusammenarbeit mir ihrem israelischen Verlag einstellen, teilte sie mit.

Man ist einiges an politischem Irrsinn gewohnt. Aber dass eine international gefeierte, von den Feuilletons geliebte und gelobte Schriftstellerin einen Teil der Leserschaft von der Lektüre ausschließt, weil diese zu einem Volk gehört, dessen Regierung einem nicht passt? Darauf muss man erst einmal kommen. Dank Sally Rooney ist die Kultur des Ausschlusses jetzt um eine Variante reicher: nach der politischen nun also auch die ethnische Cancel Culture. Gäbe es so etwas wie einen BDM-Gedächtnispreis für die verrückteste Exklusionsidee, die irische Schriftstellerin wäre eine heiße Anwärterin.

Dass die Autorin die Erklärung nachschob, sie sei stolz, dass ihre beiden ersten Romane auf Hebräisch erschienen seien, die politische Lage zwinge sie, von einer Übersetzung ihres neuesten Romans abzusehen, macht die Sache nicht besser. Das ist etwa so beruhigend wie die Erklärung eines Hotels, man habe in der Vergangenheit gerne jüdische Gäste beherbergt, sehe sich jetzt aber veranlasst, Juden abzuweisen, weil man ein Zeichen setzen müsse. „Sorry, wir haben nichts gegen diese Leute, wir wollen sie nur nicht mehr in unserem Haus sehen.“

Mindestens so interessant wie die Verblendung, die auch eine hoch angesehene Erfolgsautorin befallen kann, ist die Verdruckstheit des intellektuellen Milieus, das ansonsten bei der kleinsten Grenzüberschreitung auf der Zinne ist. In dieser Welt reicht normalerweise schon ein Witz über Transgender-Personen aus, um sich die ärgsten Cancel-Aufrufe an den Hals zu holen.

Und nun? Der Ullstein-Verlag, bei dem Frau Rooney in Deutschland erscheint, belässt es bei einer dürren Erklärung, man gebe im Verlag unterschiedlichen Perspektiven Raum, Antisemitismus gehöre ganz klar nicht dazu. Rooneys Roman sei außerdem ein „nachdenkliches, vielschichtiges und politisch waches Buch einer weltweit respektierten Schriftstellerin über die Gegenwart“ – was wohl heißen soll: Da liegt der Hebräisch-Bann doch nahe. Von den Autoren, die bei Ullstein erscheinen und zu denen Namen wie Annalena Baerbock oder Christian Berkel gehören: gar keine Reaktion. Die Herolde des deutschen Petitions- und Unterschriftenwesens: offenbar alle gerade im Terminstress wegen der Buchmesse.

Es ist ja nicht so, dass diesen Leuten die Meinungsfreiheit über alles ginge. Als der Rowohlt-Verlag eine Übersetzung der Woody-Allen-Biografie ankündigte, fand sich binnen weniger Tage ein Kreis prominenter Rowohlt-Autoren zusammen, um einen Stopp der Übersetzungspläne zu fordern. Das Buch eines Mannes, der im Verdacht stehe, seine Stieftochter belästigt zu haben, dürfe in Deutschland nicht erscheinen! Es ist halt eine Sache, ob man als MeToo-Täter oder als Antisemit gilt. Ersteres ist ein Todesurteil, Letzteres eine lässliche Sünde, wenn man dem richtigen Milieu angehört.

Es hat sich etwas verschoben. Nicht ganz zufällig fügt sich der Fall Rooney in eine Reihe von Personalentscheidungen, Leuten eine Stimme zu geben, die mit, sagen wir, eigenwilligen Meinungen zum Nahostkonflikt hervorgetreten sind.

Vor sechs Wochen sorgte der Plan des WDR für Aufsehen, eine junge Frau zur Moderatorin einer Wissenschaftssendung zu machen, die in ihrer Jugend bei Demonstrationen mitlief, auf denen man sich die Juden zurück ins Gas wünschte. Anfang Oktober folgte das ZDF mit der Entscheidung, für ein Comedy-Format eine muslimische Aktivistin zu engagieren, die es lustig findet, Juden in Comicstrips wieder mit Hakennase auszustatten.

Ich bin gegen Cancel Culture. Mein Verständnis von Meinungsfreiheit reicht sehr weit. Wenn sie beim ZDF meinen, sie müssten eine Hardcore-Antisemitin beschäftigen, dann sollen sie es tun. Ich habe mich auch nicht an den Aufrufen beteiligt, die WDR-Moderatorin Nemi El-Hassan von ihrem Vertrag zu entbinden. Erstens fand ich in dem Fall die Vorwürfe nicht ganz so eindeutig. Und zweitens ist es einfach nicht meine Art, die Kündigung von Leuten zu verlangen.

Ich erwarte nur, dass man dann als Sender zu seiner Entscheidung steht. Wenn man meint, dass Vielfalt bedeutet, dass sich auch Menschen in den Medien repräsentiert sehen, die finden, dass die Juden wieder zu mächtig sind, dann soll man das offen sagen. Wie viele Antisemiten wird es in Deutschland geben? 10 Prozent, 15 Prozent? Im muslimischen Milieu sind es sicher noch deutlich mehr. Vielleicht haben ja auch diese Leute einen Anspruch darauf, dass man sich um sie kümmert und ihre Anliegen ernst nimmt.

Von den Lobbyvereinen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, migrantische Stimmen in den Medien zu verankern, wird so getan, als stehe man Seit an Seit mit der jüdischen Gemeinde. Über den Antisemitismus im eigenen Lager wird großzügig hinweggesehen.

Auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk zieht man es vor, der Frage auszuweichen, wo man die Grenze ziehen will.

Am Wochenende wurde ein internes Schreiben der WDR-Programmdirektorin Valerie Weber bekannt, die den Stand in der Sache El-Hassan referierte. „Hinter den Kulissen sind wir mit der Kollegin weiter im direkten Austausch“, heißt es darin. Dass man die „Pausetaste“ gedrückt habe, bedeute nicht, dass man im kommenden Jahr nicht erneut über eine Zusammenarbeit reden werde. „Wer Quereinsteiger:innen eine Chance geben will und Diversität fördert, hat dann als potenzieller Arbeitgeber eine gewisse Fürsorgepflicht, kulturelle Konflikte auch gemeinsam zu durchlaufen.“ Antisemitismus als kultureller Konflikt: So kann man es auch sehen.

Als der Bundestag vor zwei Jahren den Beschluss fasste, künftig Veranstaltungen, in denen gegen den Staat Israel gehetzt wird, nicht mehr mit Steuergeld zu fördern, fand ich das eine weise Entscheidung. Wenn sie in England oder Irland meinen, zum Boykott jüdischer Waren oder Einrichtungen aufrufen zu müssen, ist das eine Sache – eine ganz andere ist es, wenn das im Land der Täter geschieht.

Aber dieser Konsens ist nicht länger gültig. Ein Teil des politischen Establishments hat sich von der Verpflichtung zur Rücksichtnahme selbst freigesprochen. Hier glaubt man aufgrund der vorbildlichen Gesinnung von der historischen Last befreit zu sein. Wenn ich mich richtig erinnere, war es der Schriftsteller Gerhard Zwerenz, der als Erster eine Unbedenklichkeitsbescheinigung in eigener Sache ausstellte, und zwar mit dem schönen Satz: „Linker Antisemitismus ist unmöglich.“ Das entschuldigt dann auch gelegentliche Fehlleistungen.

Mein Vorschlag: Wir lassen in Zukunft diese ganzen „Nie wieder“-Aktionen. Wer sich nicht einmal in der Lage sieht, ein klares Wort zu finden, wenn unter allen Sprachnationen der Welt ausgerechnet die Nachfahren der Holocaust-Überlebenden zu unerwünschten Lesern erklärt werden: Auf den kann man auch bei den jährlichen Gedenkveranstaltungen dann eigentlich gut verzichten, oder nicht?

©Sören Kunz

Der Rabauke

Viel spricht gegen Friedrich Merz als neue Führungsfigur der CDU: Er ist arrogant, eitel, unbeherrscht. Aber vermutlich verkörpert er das einzige Stück Hoffnung, das zwischen Partei und Abgrund steht

Ich war immer gegen Friedrich Merz als Parteivorsitzender. Ich glaube keine Sekunde, dass die CDU mit ihm an der Spitze besser gefahren wäre als mit Armin Laschet.

Das größere Publikum sieht ihn skeptisch, um mit dem Offensichtlichen zu beginnen. Merz ist der Kandidat für diejenigen, die schon überzeugt sind – der Prediger für die Konvertierten. Da kommt er toll an, egal, wie enttäuschend sein Auftritt im Zweifelsfall auch sein mag. Normale Menschen ohne feste Parteibindung hingegen finden ihn eher unsympathisch.

Er ist zu aggressiv für einen Kanzlerkandidaten, zu unbeherrscht, auch zu schroff im Umgang. Wenn er spricht, merkt man ihm die mühsam unterdrückte Verachtung für diejenigen an, die er für Leute unter seiner Würde hält. Da das nahezu jeder ist, der nicht über mindestens drei Aufsichtsratsmandate oder einen Nobelpreis verfügt, bleiben nur wenige, die er als ebenbürtig empfindet.

Außerdem hat Merz ein Psychoproblem. Bis heute hat er nicht verwunden, dass er vor zwanzig Jahren von einer Frau aus Ostdeutschland um den Fraktionsvorsitz gebracht wurde und damit um die Chance, Helmut Kohl im Kanzleramt nachzufolgen. Selbstverständlich hält er sich auch für den geborenen Kanzler. Selbst die Millionen, die er zwischenzeitlich als Anwalt verdient hat, machen diese Niederlage nicht wett. Wie es sich manchmal verhält bei reichen Menschen: Alles Geld der Welt ist nichts im Vergleich zu dem Preis, den man erringen wollte, aber nicht errungen hat.

Von dem seltsamen Eierkopf mit dem merkwürdigen Bürzel in der Mitte, den Merz sich im Alter zugelegt hat, will ich gar nicht reden. Leser meiner Kolumne wissen, dass ich das Äußere bei Politikern für ein sträflich unterschätztes Kriterium halte. Aus der Tatsache, dass wir Journalisten uns abgewöhnt haben, darüber zu schreiben, wie einer oder eine aussieht, folgt nicht, dass auch die Wähler darüber hinwegsehen.

Trotzdem bin ich in dieser Woche zu der Überzeugung gelangt, dass es für die CDU wünschenswert wäre, wenn Merz an die Spitze rückt. Er verkörpert möglicherweise das einzige Stück Hoffnung, das noch zwischen Partei und Abgrund steht.

Woher der Sinneswandel? Gesucht wird jetzt ein Oppositionsführer, nicht ein Kanzlerkandidat. Das wiederum verlangt nach ganz anderen Fähigkeiten. Ein Parteiführer darf ruhig unduldsam auftreten. Das Publikum, das er überzeugen muss, sind die Anhänger, nicht die Schwankenden, die unschlüssig sind, ob sie nun die Union wählen sollen oder nicht.

Der Anhänger wünscht sich auch nicht Annäherung, sondern Abgrenzung zum politischen Gegner. Je öfter und eindringlicher man ihm sagt, warum er richtigliegt und der andere ganz und gar falsch, desto besser fühlt er sich.

Wenn man Wahlen gewinnen will, ist das ein gefährlicher Weg. Mit jedem Auftritt, der die Reihen schließt, verprellt man Unentschlossene. Aber bis zur nächsten Bundestagswahl sind es vier Jahre hin. Jetzt geht es darum, die Verstörten und Verzagten in der eigenen Partei aufzurichten, und da kann ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein nicht schaden.

Ich habe Merz vor vier Wochen getroffen, anlässlich der Aufzeichnung der Maischberger-Sendung direkt vor der Wahl. Er weiß, wie ich über ihn denke. Ich habe aus meiner Meinung nie ein Geheimnis gemacht, auch auf diesen Seiten nicht. Andererseits ist er Profi, also haben wir ein paar freundliche Worte gewechselt.

Dann saß er mit Hubertus Heil, dem Bundesarbeitsminister und zweitmächtigsten Mann der SPD, zum Gespräch im Studio. Mir war nicht klar, dass Heil offenbar Merz geradezu hasst. Die Animosität war körperlich zu spüren. Ein Höhepunkt war, als Heil seinen Kontrahenten belehrte, dass er einen „Bundesminister und Mitbürger“ vor sich habe, worauf Merz nur die Augen verdrehte. Zwanzig Minuten ging das so, aber Merz wich keinen Zentimeter zurück. In dem Augenblick dachte ich: Stehvermögen hat er.

Wir haben uns an diesen diplomatischen Politikertypus gewöhnt, der jedem Streit aus dem Weg geht. Oder ihn weglächelt. Der große Vorteil von Merz ist, dass er niemandem außerhalb der Partei mehr gefallen muss, auch nicht den Journalisten. Die vordringliche Aufgabe des neuen Parteichefs ist es, die Fliehkräfte im eigenen Lager zu stoppen. Dazu braucht es jemanden, der über Erfahrung, aber auch Härte und Entschlossenheit verfügt.

Ich höre schon die vernichtenden Urteile, sollte es wirklich Merz werden: „CDU auf dem Weg ins Gestern“, „Rückfall in die Neunziger“. Aber erstens wählt kein Journalist, den ich kenne, CDU. Und wenn es darauf ankommt, fallen sie in den Medienhäusern ohnehin über den Unionskandidaten her. Wenn es einen Kandidaten der Mitte gab, dann war es Armin Laschet. Kein böses Wort gegen die Kanzlerin – keine Kurskorrektur, weder in der Flüchtlings- noch in der Sozialpolitik. Und was hat es ihm genützt? Nichts. Am Ende galt er doch als der Tropf, der Deutschland angeblich wieder nach rechts führen wollte.

Ein anderer Weg, sich einem künftigen Parteichef zu nähern, führt über das Ausschlussverfahren. Das wäre dann die Frage: Wer soll es stattdessen machen? Der wohlerzogene Herr Röttgen, der immer so spricht, dass man denkt: „Klar, er und die Annalena, das wäre schon ein tolles Team gewesen“? Oder Gesundheitsminister Jens Spahn, der Mann, der nicht mal sein eigenes Ministerium im Griff hatte? Der erst vergangene Woche wieder erklären musste, dass man sich im RKI, sorry, sorry, bei der Zahl der Geimpften um 3,5 Millionen Menschen verrechnet habe?

Es gibt Leute, die schwören auf Ralph Brinkhaus, den Unionsfraktionsvorsitzenden. Ich habe auch mit Brinkhaus meine Talkshow-Erfahrungen gemacht. Vor zwei Jahren saßen wir beide ebenfalls im Studio, zusammen mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil und Katrin Göring-Eckardt von den Grünen. Damals war Annegret Kramp-Karrenbauer noch Parteivorsitzende. Kurz nach ihrem Amtsantritt hatte sie mit einem Witz über Gender-Toiletten in Berlin Aufsehen erregt, was bei jemandem wie Katrin Göring-Eckardt naturgemäß auf heftigste Missbilligung stieß.

Als ich an der Reihe war, sagte ich, mir habe imponiert, dass Frau Kramp-Karrenbauer nicht gleich beim ersten Sturm eingeknickt sei. Ein Witz, na und? Und wer schüttelt an dieser Stelle missbilligend den Kopf? Der Fraktionsvorsitzende der Union Ralph Brinkhaus. Ich dachte, ich fasse es nicht. Nach der Aufzeichnung kam er auf mich zu und sagte, ich hätte mit meiner Kritik an den Grünen ja recht, aber das könne er in einer Talkshow nicht offen sagen, das würde zu viele Stimmen kosten.

Das politische Geschäft kennt zwei sehr gegensätzliche Typen von Menschen: den Gremienarbeiter und den Rabauken. Der Gremienarbeiter verlässt sich beim Aufstieg auf die Funktionärselite, die über die Verteilung von Posten bestimmt und für die vor allem zählt, wie zuverlässig einer der Sache gedient hat, aus welchem Landesverband er kommt und welchem politischen Flügel er angehört.

Der Rabauke hingegen sucht sein Heil in der Auseinandersetzung mit dem Gegner. Er macht sein Fortkommen von der Zustimmung der Basis abhängig, was voraussetzt, dass er von dieser verstanden und respektiert wird. Der Fighter ist deshalb immer versucht, den Stimmungen und Wünschen seines Publikums zu entsprechen. Der Gremienmensch nennt das „populistisch“, der Wahlkämpfer „populär“.

Man kann gegen Merz sagen, was man will: Aber dass er sich auf die Gremien verlassen hätte, ist definitiv kein Vorwurf, den man ihm machen kann. Seine stärkste Karte war immer der Rückhalt, den er bei den Mitgliedern genoss. Ein wenig mehr Populismus könnte der CDU in ihrer jetzigen Verfassung nicht schaden.

©Michael Szyszka

Die Schock-Strategie

Wie kann es sein, dass Menschen Geld und Macht in die Hand von Politikern legen, die mit der Lösung einfachster Aufgaben überfordert sind? Die Antwort liefert ein Buch über Experimente mit Gehirnwäsche und deren Übertragbarkeit in die Politik

Vor 14 Jahren legte die Globalisierungskritikerin Naomi Klein ein Buch mit dem Titel „Die Schock-Strategie“ vor. Ausgehend von Experimenten eines kanadischen Psychiaters, der seine Patienten mit Psychodrogen und Elektroschocks malträtiert hatte, entwickelte sie darin eine Theorie des modernen Kapitalismus.

So wie der Psychiater die Persönlichkeiten seiner Opfer zerstörte, um aus den Scherben eine neue Identität zu formen, unterziehe der Neoliberalismus die Menschen einer Umprogrammierung durch Katastrophen, damit sie sich unter das Joch der Ausbeutung begäben.

Das Buch wurde zwiespältig aufgenommen. Die Fans waren begeistert. Die Kritiker warfen der Autorin vor, Fakten und historische Zusammenhänge zu verdrehen. Auch ich tat das Buch damals als Nonsens ab.

Die vergangenen zwei Wochen haben mich eines Besseren belehrt. Ich glaube, Naomi Klein hat recht behalten. Die Schock-Strategie lebt. Wer an der Übertragbarkeit der Gehirnwäsche aus dem Labor in die Politik zweifelt, muss nur nach Berlin schauen, um dort das bestätigt zu finden, was die Aktivistin irrtümlich dem Neoliberalismus zuschrieb.

Wir werden in der Hauptstadt zu Zeugen eines aufregenden Psychoexperiments. Die Versuchsanordnung lautet: Wie schaffe ich es, eine Bevölkerung so um den Verstand zu bringen, dass sie jede Orientierung verliert und immer wieder das Unglück wählt, das sie kennt?

Dass sie in Berlin auf spektakuläre Weise bei der Bewältigung einfachster Aufgaben scheitern, ist nicht ganz neu. Der Chefredakteur des Berliner „Tagesspiegel“, Lorenz Maroldt, hat zusammen mit dem Kolumnisten Harald Martenstein im vergangenen Jahr ein Buch vorgelegt, in dem auf 300 Seiten dem Alltag Rechnung getragen wird. Tote, die nicht unter die Erde kommen, weil es an Totenscheinen fehlt. Neugeborene, die nicht existieren, weil niemand sie ins Geburtenregister einträgt: der ganz normale Berliner Wahnsinn.

Aber wer hätte gedacht, dass es mitten in Europa, in einem der reichsten und bestentwickelten Länder der Welt, nicht möglich sein würde, freie und faire Wahlen abzuhalten? Ich selbst habe mich verschiedentlich über die Dysfunktionalität Berlins lustig gemacht. Eine Kolumne trug die Überschrift „Berlin, das Venezuela Deutschlands“. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, dass dies wörtlich zu nehmen ist.

Knapp zwei Wochen sind seit dem Wahlsonntag vergangen, und noch immer kommen neue, bizarre Details ans Licht. Mancherorts lag die Wahlbeteiligung bei 150 Prozent. An anderer Stelle durfte man nur wählen, wenn man sich einverstanden erklärte, auf die Stimmabgabe zum Abgeordnetenhaus, die parallel zur Bundestagswahl stattfand, zu verzichten. In Berlin-Wilmersdorf wiederum haben sie die Ergebnisse einfach geschätzt.

Der „Tagesspiegel“ präsentierte einen Wähler, der dreimal vergeblich versuchte, seine Stimme abzugeben. Beim ersten Mal erklärte man ihm, die Wahlzettel seien ausgegangen, er solle später wiederkommen. Beim zweiten Mal hatte sich vor dem Wahllokal eine solche Schlange gebildet, dass er unverrichteter Dinge wieder abzog. Der Mann ist 90 Jahre alt und etwas wacklig auf den Beinen: Langes Stehen fällt ihm schwer. Beim dritten Mal hieß es, jetzt sei er zu spät dran. Da war es zwei Minuten nach sechs. Was den Dienstschluss angeht, nimmt man es in Berlin genau. In der Hinsicht versteht man ausnahmsweise mal keinen Spaß.

Dafür durften auch Minderjährige abstimmen. Der 17-jährige Nemer erzählte einem „Welt“-Redakteur, wie er mit seiner Mutter ins Wahllokal marschierte, weil er auf TikTok gehört hatte, dass Wählen ab 16 erlaubt sei. Dort händigte man ihm umstandslos alle Wahlzettel aus, nicht nur den für die Bezirksverordnetensammlung, in der Wählen ab 16 in der Tat erlaubt war, sondern auch den für das Abgeordnetenhaus und den für die Bundestagswahl. Ein Wahlhelfer habe ihm dann erklärt, in welche Urne welcher Zettel komme, berichtete der Junge.

Man sollte eigentlich erwarten, dass die Bürger bei der ersten Gelegenheit die Regierung zum Teufel jagen, die sie in den Wahnsinn treibt. Aber das Verrückteste an der Sache ist: Die Berliner haben Rot-Rot-Grün für die himmelschreiende Inkompetenz nicht abgewählt, sondern im Gegenteil mit einem Plus von zwei Prozentpunkten im Amt bestätigt. Wie das möglich ist? Lest Naomi Klein, kann ich nur sagen. Was bei ihr Natur- oder Finanzkatastrophen sind, die die Regierung nutzt, um die Leute kleinzukriegen, ist in Berlin die Behörden-Folter.

Ist man erst einmal so zermürbt, dass man sich schon glücklich schätzt, wenn die KfZ-Anmeldung nicht zwölf, sondern lediglich acht Monate dauert, hört man auch auf zu fragen, warum man Leuten, die nicht mal eine Wahl organisieren können, zutrauen soll, dass sie Menschheitsprobleme wie den Klimawandel oder die Corona-Krise lösen.

Man kennt das von Traumaopfern: Irgendwann wanken sie wie Zombies durch die Gegend, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Oder sie gehen statt gegen ihre Peiniger auf Familienangehörige oder Umstehende los. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Zahl der Tobsuchtsdelikte in Berlin zugenommen hat, seit SPD, Linkspartei und Grüne an der Regierung sind. Irgendwo muss sich der Druck ja entladen.

Mir war es immer ein Rätsel, wie man die Verantwortung für sein Leben in die Hände von Politikern legen kann, die mit der Lösung einfachster Aufgaben überfordert sind. Die Frage stellt sich ja nicht nur in Berlin. Der ganze deutsche Sozialstaat beruht in gewisser Weise auf der Schock-Strategie.

Im letzten Jahr gab der deutsche Staat die unglaubliche Summe von 1,2 Billionen Euro für Sozialleistungen aus. Mehr als ein Drittel der Wirtschaftsleistung geht mittlerweile in Soziales. Dennoch erklingt zu jeder Wahl die Klage, dass die soziale Kälte so zugenommen habe, dass man mehr Geld brauche, um wenigstens die ärgsten Missstände zu beheben. „Diese soziale Kälte ist nicht länger hinnehmbar“, lautet der Schlachtruf von Politikern wie Saskia Esken, wenn es darum geht, höhere Steuern durchzusetzen.

Jeden Handwerksmeister würde man auslachen, wenn er aus seinem Unvermögen die Forderung nach besonderem Vertrauen in seine Leistungen ableiten würde. Stellen Sie sich vor, ein Klempner berechnet Ihnen für die Behebung sanitärer Probleme monatlich 400 Euro, worauf Sie irgendwann feststellen, dass sich die Probleme nicht verflüchtigt, sondern im Gegenteil manifestiert haben. Was Ihren Handwerker wiederum veranlasst, größere Nachforderungen zu stellen, mit der Begründung, dass die Persistenz der Abflussprobleme zeige, wie wichtig seine Arbeit sei, und dass Sie sich glücklich schätzen könnten, ihn zu haben.

Das ist exakt das Prinzip, nach dem der deutsche Umverteilungsstaat funktioniert. 1,2 Billionen Euro an Sozialausgaben, aber in den Schulen regnet es durch die Decke und Polizisten müssen sich Teile ihrer Uniform selbst kaufen, weil angeblich kein Geld für angemessene Ausstattung da ist. Wenn Sie mich fragen, ist es höchste Zeit, den Sachwaltern des Sozialen die Mittel zu kürzen, statt ihnen immer mehr zu geben.

Bis heute hat sich übrigens niemand vom Berliner Senat bei den Bürgern für das Wahlfiasko entschuldigt. Die Verantwortlichen verweisen auf den Berlin-Marathon, der die Auslieferung der Wahlscheine behindert habe. Der Leiter der Senatskanzlei erklärte, dass die Bundesregierung nicht der Bitte der Stadt um eine Verlegung der Bundestagswahl wegen des Marathons entsprechen wollte. Dass die Bundesregierung schuld ist, wenn etwas schiefgeht, darauf kann man sich in Berlin immer einigen.

©Sören Kunz

Partei des Establishments

Die Grünen leben vom Anspruch, Interessenvertreter der Jugend zu sein. Jetzt stellt sich heraus: Viele junge Menschen wählen lieber FDP. Es lässt sich kaum in Worte fassen, welche Schock- wellen dies durch die grüne Gemeinde schickt.

Vor ein paar Wochen hat der Deutsche Beamtenbund seine Mitglieder befragen lassen, wo sie politisch stehen. 32 Prozent der Beamten erklärten ihre Sympathie für die Grünen. Spitzenwert. Hätten Deutschlands Beamte am Sonntag die Bundestagswahl zu entscheiden gehabt, wäre jetzt Annalena Baerbock auf dem Weg ins Kanzleramt und nicht Olaf Scholz.

Wäre ich ein Spötter, würde ich sagen, die Zahl erklärt das enorme Ruhebedürfnis, das aus grünen Programmen spricht. Die Grünen reden ständig davon, wie fortschrittlich sie seien. Am laufenden Meter ist von dem progressiven Bündnis die Rede, das zu schmieden sie beabsichtigen. Tatsächlich ist allerdings nicht Veränderung ihr Ziel, sondern der weitreichende Schutz davor.

Der Fluchtpunkt aller Bestrebungen ist die dörfliche Idylle, in der nichts mehr raucht und lärmt. Wenn die Grünen von Stadt reden, meinen sie den Kiez und seine Bewahrung – vor dem Ausbau der Stadtautobahn, vor zu vielen Touristen und natürlich vor allen Großprojekten, wozu schon ein Riesenrad am falschen Platz gehört. Dass sich viele beim Betrachten der grünen Wahlkampagne an die repressive Heimeligkeit der 50er Jahre erinnert fühlten („Du willst etwa nicht mitmachen bei uns? Du denkst, du bist etwas Besseres?“), war kein Versehen, sondern Ankündigung.

Kann man es der Jugend verdenken, wenn sie sich nach Alternativen umsieht? Die beliebteste Partei unter Erstwählern ist die FDP, wie eine Nachwahlbefragung am Sonntag ergab. Das war natürlich ein Schock für alle Freunde der grünen Sache: Was, nicht Robert und Annalena sind die Helden der jungen Menschen, sondern Christian und Wolfgang?

Keine Umfrage hat für so viel mürrische Kommentare gesorgt. Die gleichen Leute, die eben noch wortreich erklärten, warum man mehr auf die Jugend hören müsse, waren nun dabei, über den Egoismus derselben herzuziehen. Selbst bessere Damen wie die in Feuilleton-Kreisen geschätzten Schöngeisterinnen Teresa Bücker oder Jago- da Marinic hoben indigniert den Zeigefinger, um die Freigeister zu belehren, dass Klimawandel kein Spaß sei.

Es ist etwas, was die Grünen nicht gerne hören, weil sie bis heute von dem Image zehren, irgendwie wild und ungebärdig zu sein: Aber wenn es eine Bewegung des Establishments gibt, dann die Ökobewegung. Selbst in den Führungsetagen der Wirtschaft erfreut sich die Partei inzwischen großer Beliebtheit. Die „Wirtschaftswoche“ veröffentlichte im April eine Umfrage, wonach sich ein Viertel der deutschen Führungskräfte Annalena Baerbock als Kanzlerin wünschte.

Was ich an den Grünen aufrichtig bewundere, ist ihre Fähigkeit, immer dabei zu sein, aber nie beteiligt. Sie sind mittlerweile in zehn von 16 Landesregierungen dabei. Sie haben die Mehrheit des medial-publizistischen Apparats hinter sich. Wenn Fridays for Future zum Klimastreik aufruft, gibt selbst der freundliche „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni jede Zurückhaltung auf und trommelt für eine Teilnahme. Dennoch gehen die Grünen bis heute als Oppositionspartei durch.

Schon aus diesem Grund bin ich dafür, dass sie endlich in die Bundesregierung einziehen. Wer anderen dauernd sagt, wo es längsgeht, sollte endlich auch mal nach außen Verantwortung übernehmen für das, was daraus folgt. Wobei: Sicher bin ich mir nicht, dass es so laufen wird. Wenn sie bei den Grünen eine Kunst perfektioniert haben, dann die, auch gegen eigene Entscheidungen Opposition zu betreiben, ohne dass ihnen das verübelt wird.

Viele Menschen denken, ich sei aus Prinzip gegen die Grünen. Ich habe die Grünen über Jahre gewählt, am Anfang aus Auflehnung, dann aus Bequemlichkeit. Ich kann nicht sagen, wann ich der Partei untreu wurde. Es war ein schleichender Prozess. Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass mir die Selbstzufriedenheit auf die Nerven ging, die aus dem Bewusstsein erwächst, auf der richtigen Seite zu stehen, ja, eigentlich immer recht zu haben.

Wenn ich sagen soll, was mich an den Grünen am meisten stört, dann ist es der passiv-aggressive Ton, mit dem sie Andersdenkenden begegnen. Vermutlich schlägt hier meine linke Erziehung durch. Der Widerspruch gegen Autoritäten wurde bei mir früh angelegt. Wenn mir jemand pädagogisch kommt, suche ich das Weite.

Ich kann auch mit dem unbedingten Glauben an das segensreiche Wirken des Staates wenig anfangen. Es heißt oft, Grüne und Freidemokraten seien verwandt, weil sie aus demselben bürgerlichen Milieu stammten. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein.

Ein Mantra von Robert Habeck lautet, der Staat, das seien doch wir alle. Wo er geht und steht, fällt dieser Satz. Ich will dem grünen Parteivorsitzenden nicht zu nahe treten, aber die englischen Klassiker scheinen in seinem Philosophiestudium allenfalls am Rande vorgekommen zu sein. Hätte er sie gelesen, wüsste er, dass Staatsskepsis am Beginn der Aufklärung steht. Die Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens ist die Freiheit, sich der Obrigkeit zu widersetzen.

Es war immer ein Gedankenfehler der Linken, dass sie Staat und Gesellschaft verwechseln. Das hängt möglicherweise mit ihrer Herkunft zusammen. Ich habe mir vor Jahren mal den Spaß gemacht, die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Westdeutschland anzusehen. Keine Generation ist so restbestandsfrei in den Staatsdienst gewechselt wie die erste Generation von Bewegungslinken, die berühmten Achtundsechziger. Zwischen 1968 und 1978 stieg die Zahl der öffentlich Beschäftigten um fast 40 Prozent. Das hat es vor- und nachher nie wieder gegeben.

Der öffentliche Dienst ist eine wunderbare Sache – lebenslange Beschäftigung, 13. Monatsgehalt, überschaubare Arbeitszeit, nichts dagegen zu sagen. Nur, waren die Linken nicht angetreten, den Staat aus den Angeln zu heben, statt sich in ihm einzurichten, fragte ich mich beim Blick auf die Zahlen. Wollten sie nicht Gegenmacht entfalten, Widerstand aufbauen? Es gibt von Kurt Tucholsky den schönen Satz: „Vor einem Schalter stehen: Das ist das deutsche Schicksal. Hinter dem Schalter sitzen: Das ist das deutsche Ideal.“ Meine Lehrer wussten schon, warum sie Tucholsky verehrten.

Den Grünen hängt der Ruf an, sie seien eine Verbotspartei. Aber das trifft es nur zur Hälfte. Die Liste der Dinge, auf die man besser verzichten sollte, ist bei ihnen lang, schon wahr. In einer Diskussion machte mich neulich eine Mitarbeiterin von Annalena Baerbock darauf aufmerksam, dass einige ihrer Bekannten glaubten, die Parteivorsitzen- de wolle jetzt Haustiere verbieten. Sie war erschüttert, wie viele Leute, die sie kannte, das für bare Münze nahmen. Aus meiner Sicht zeigt es, wie tief das Image als Verbotspartei verankert ist.

Mehr als Verbote zeichnet die Grünen allerdings der anstrengende Optimismus des deutschen Pfarrhauses aus. Im Grunde gibt es kein Problem, das man nicht mit gutem Willen und Selbstdisziplin in den Griff bekommen kann. Was andere als Verbot bezeichnen, sehen die Grünen eher als Anleitung zu einem besseren Leben. Deshalb reagieren sie auch mit solchem Unverständnis, dass manche Menschen einfach nicht erkennen wollen, wie einfach es wäre, wenn alle sich ein wenig mehr am Riemen rissen.

Der Reporter Bent Freiwald vom Digital-magazin „Krautreporter“ hat sich die Tage die Mühe gemacht, mal nachzufragen, warum so viele Junge FDP wählen. „Der Wille nach Veränderung und das Ablehnen des Status quo ist der treibende Faktor“, lautete eine Antwort. „Ganz besonders während Corona ist uns einfach immer wieder gezeigt worden, dass der Staat kein Ermöglicher ist, sondern Verhinderer“, eine andere.

Man kann auch ohne Philosophiestudium zur Staatsskepsis finden, wie man sieht. Nicht für jeden jungen Menschen ist die beruhigte Welt ein Sehnsuchtsziel.

©Michael Szyszka