Monat: Januar 2020

Sieg des Sentimentalismus

Harry und Meghan als Hoffnungsträger aller Opfer von Diskriminierung? Die politische Bewertung des Rückzugs des britischen Adelspaars zeigt, dass es mit den richtigen Sätzen selbst der Multimillionär zum linken Emanzipationssymbol bringen kann.

Eine feste Größe in der Berichterstattung der bunten Blätter ist die reiche, aber unglückliche Frau, die unter den Umständen leidet. Sie mag Millionen auf dem Konto haben und mehr Adelstitel besitzen als andere Leute Unterhemden: Wenn es ums Lebensglück beziehungsweise -unglück geht, ist sie nicht besser dran als du und ich, also ganz nah bei den Lesern.

Das ist selbstredend Quatsch, wie alles, was auf Sentimentalität beruht. Aber es ist tröstlicher Quatsch, deshalb verkauft er sich. Meine linken Professoren hätten gesagt, dass die Regenbogenpresse den Leuten ihre bunten Geschichten unterjubele, damit sie die Machtverhältnisse nicht infrage stellten. Das war vielleicht etwas zu marxistisch gedacht. Sie können sich trotzdem mein Erstaunen vorstellen, als ich jetzt ausgerechnet beim „Spiegel“ auf die linke Version der Herzblatt-Geschichte stieß.

Für jeden klarsichtigen Menschen ist der Privatisierungsentschluss des Herzogs und der Herzogin von Sussex die Folge einer Fehlkalkulation bei der Eheschließung. Für den „Spiegel“-Redakteur Jonas Schaible ist der Rückzug der beiden nach Kanada eine „Botschaft der Selbstfindung, Emanzipation, aber auch der nicht-weißen Vielfalt“, wie es im schönsten Proseminar-Jargon in einer „Analyse“ hieß, die vergangene Woche online ging.

Bündnispartner bei dem Ausbruchsversuch seien nicht die traditionellen Fans des Königshauses, von denen wenig Verständnis zu erwarten sei, ließ der Autor seine Leser wissen. Alliierte seien vielmehr alle, „die nicht in die alten Strukturen der britischen Gesellschaft passen“: Schwarze, Muslime, Frauen, Einwanderer, kurzum diejenigen, die „die Selbstermächtigung eines jeden und einer jeden über das Anspruchsdenken der anderen stellen, die sich von den auferlegten Lebenswelten emanzipieren wollen, die für Antirassismus und Feminismus eintreten“.

Ich bin vor Lachen fast vom Stuhl gekippt, als ich das las. Harry und Meghan als Hoffnungsträger aller Diskriminie- rungsopfer? Wenn es jemanden gibt, der sich vor Bewun- derung nicht retten kann, dann das britische Adelspaar. Es gibt auch nicht viel, was Meghan und Harry mit, sagen wir, einer polnischen Putzfrau oder einem rumänischen Klemp- ner verbindet, außer dass die einen die Steuern zahlen, von denen die andern ihre Häuser renovieren lassen. Aber so nüchtern können selbst linke Journalisten die Dinge im Meghan-Rausch nicht sehen.

In Wahrheit ist der Megxit die Geschichte eines Missverständnisses. Eine junge Frau aus Hollywood verliebt sich in einen Prinzen. Als er ihr die Ehe anträgt, glaubt sie, Disney würde wahr. Dass das Leben als Royal eine endlose Abfolge von Repräsentationsterminen bedeutet, das hat ihr keiner gesagt – oder sie wollte es nicht hören. Morgens Altenheim, mittags Veteranenverband, danach Besuch im Krankenhaus, um den Moribunden Zuspruch zu spenden: So zieht es sich dahin. Dazu eine Presse, die jeden Protokollverstoß hämisch kommentiert. Kein Wunder, dass man da als Hollywood-Aktrice schlecht drauf kommt.

Der Text im „Spiegel“ weist auf ein grundsätzliches Problem hin, deshalb habe ich ihn ausführlicher zitiert. Ich habe die Linke immer für ihren klaren ökonomischen Blick auf die Welt geschätzt. Wer in Interessenlagen denkt, ist relativ immun gegen Sentimentalismus und falsche Solidarität. Leider gibt es die marxistisch geschulte Linke, die in Interessengegensätzen zu denken vermochte, kaum noch. An ihre Stelle ist eine akademische Linke getreten, der die Frage nach der Zugehörigkeit wichtiger ist als jede Klassenfrage.

Was heute unter dem Begriff „Identitätspolitik“ läuft, ist die Aufgabe ökonomischer Kategorien zugunsten von psychologischen. Statt danach zu fragen, wie man für materiellen Ausgleich sorgen kann, kümmert man sich lieber darum, dass jeder sich wertgeschätzt und anerkannt fühlt. Das hat kurzfristig politisch durchaus Vorteile. Anerkennung ist leichter zu organisieren als materieller Aufstieg. Es reicht, dass man die richtigen Worte findet oder Anteilnahme zeigt, wenn jemand es schwer im Leben hat. Billiger ist Fortschritt nicht zu haben, würde ich sagen. Mit den entsprechenden Postings bei Facebook oder Instagram wird selbst die millionenschwere Glamour-Amsel zum Emanzipationssymbol – oder wie es heute heißt: zu einer Botschafterin der „Selbstermächtigung“ und „Selbstverortung“.

Der Nachteil des Strategiewechsels ist allerdings ebenfalls evident. Den Erfolg klassischer Sozialpolitik konnte man am Haushaltseinkommen ablesen und, wenn es gut lief, an den Studienabschlüssen der Kinder. Kultureller Fortschritt ist sehr viel schwerer zu ermessen. Wann kann die schwarze, lesbische Frau muslimischen Glaubens von sich sagen, dass sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist? Wenn niemand sie mehr fragt, wo sie herkommt? Oder wenn die Zahl schwarzer, lesbischer Musliminnen in Vorstandsetagen dem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht.

Gleichberechtigung ist als politisches Programm unendlich, deshalb wächst der Bedarf ja auch mit dem Bemühen um mehr Gerechtigkeit. Es ist kein Zufall, dass noch nie so viel über Benachteiligung geklagt wurde, obwohl sich die Lage von Minderheiten über die letzten 30 Jahre entscheidend verbessert hat.

Vermutlich ist die Vernachlässigung der Klassenfrage der zentrale strategische Fehler der Linken, weil Identitätspolitik ein Gefühl der Solidarität annimmt, das so nicht existiert. Die traditionelle Klientel mag in Wahrheit nicht einsehen, warum sie Mitleid mit Leuten haben soll, deren Lebenswirklichkeit himmelweit von der eigenen entfernt ist.

Nicht jede Verkäuferin zerfließt in Tränen, wenn sie vom Schicksal einer migrantisch bewegten Soziologiestudentin hört, deren größtes Problem im Leben es ist, dass sie öfter danach gefragt wird, woher sie denn stamme. Manche würde gerne mal auf ihren Namen oder ihre vermutete Herkunft angesprochen. Es wäre eine nette Abwechslung in einem ansonsten relativ monotonen Arbeitsalltag.

Ich bin erklärtermaßen Fan des britischen Komikers Ricky Gervais. Bei einer seiner Golden-Globe- Moderationen hat er die Schauspielerin Jennifer Lawrence aufs Korn genommen, die gerade mit der Forderung nach „Equal Pay“ die Herzen der Presse erobert hatte. „Sie bekam Unterstützung von Leuten von überallher“, sagte Gervais. „Es gab Demonstrationen von Krankenschwestern und Fabrikarbeitern, die sich fragten: Wie, in Gottes Namen, kann eine 25-Jährige nur von 52 Millionen Dollar im Jahr leben?“

Als er Anfang des Monats wieder an der Reihe war, endete Gervais seine Moderation mit der Bitte an die Gäste, sich ihre Preise abzuholen und dem Fernsehpublikum ansonsten Kommentare oder politische Statements zu ersparen. „Ich mache mich nicht über Hollywoods Millionäre her, weil sie ein Haufen Linker sind. Ich bin selbst ein Linker“, erklärte er im Anschluss. „Ich habe sie mir vorgenommen, weil sie ihre linken Überzeugungen wie Orden vor sich hertragen.“

Wie rechts darf man als Schriftsteller sein?

Der Schriftsteller als Mahner und kritische Instanz hat in Deutschland eine lange Tradition. Heinrich Böll und Günter Grass haben diese Rolle in Vollzeit bekleidet. Warum reagiert das Feuilleton also so allergisch, wenn der Erfolgsautor Uwe Tellkamp die Tradition wiederbelebt?

Das Lingnerschloss am Dresdner Elbhang ist eine der prachtvollsten Villen in der an Villenpracht reichen Stadt. Von der Terrasse hat man einen imposanten Blick über das Elbtal, entsprechend beliebt ist das zwischen 1850 und 1853 errichtete Palais bei Hochzeitspaaren und Festgesellschaften.

Im Januar sollte hier eine neue, von der Kulturzeitschrift „Tumult“ ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe beginnen. Für die Auftaktveranstaltung hatte man den Autor Uwe Tellkamp verpflichten können, mit einer Lesung aus seinem neuen, noch unveröffentlichten Roman. Doch daraus wurde nichts, und es wird auch nichts daraus werden. Überraschend zog das Lingnerschloss seine Zusage zurück. Die Veranstaltungsreihe und mithin der Auftritt Tellkamps widerspreche dem Neutralitätsgebot, dem man sich verpflichtet fühle, erklärte der zuständige Förderverein.

Das ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Vorgang. Tellkamp ist nicht irgendein Autor, sondern der bekannteste Autor der Stadt. Was Günter Grass für Lübeck und Heinrich Böll für Köln, das ist der ausgebildete Chirurg für Dresden. Große Teile seines Erfolgsromans „Der Turm“, der es nach seinem Erscheinen 2008 zu einer schwindelerregenden Auflage brachte, spielen hier. Tellkamp selbst hat von den Tantiemen im Stadtteil Weißer Hirsch eine Souterrainwohnung gekauft, in der er seitdem am Nachfolgebuch arbeitet.

Der Verweis auf ein Neutralitätsgebot, das es zu achten gelte, ist auch deshalb eigenartig, weil der Veranstalter nicht eine politische Veranstaltung, sondern eine Lesung angekündigt hatte. Die Rolle, in der Tellkamp seinem Publikum gegenübertritt, ist die des Schriftstellers, dafür wird er verehrt; dass er sich hin und wieder politisch äußert, ist eher der Gelegenheit geschuldet. Seine politischen Einlassungen sind auch nicht außergewöhnlich. Ausweislich der Umfragen (und der Wahlergebnisse der AfD) teilen über 25 Prozent der Bürger in Sachsen seine Meinung. Außergewöhnlich ist, dass ein Suhrkamp-Autor sich kritisch zur Flüchtlings- oder Europapolitik der Regierung äußert.

Ich habe Tellkamp in den vergangenen zwei Jahren mehrfach getroffen. Das erste Mal sahen wir uns anlässlich einer Lesung in Weimar. Es war Tellkamps erster öffentlicher Auftritt, nachdem er ein paar Monate zuvor bei einer Diskussionsveranstaltung im Dresdner Kulturpalast sein Debüt als Kritiker des Zeitgeschehens gegeben hatte. Tellkamp hatte bei einer Diskussion mit dem Schriftstellerkollegen Durs Grünbein unvorsichtigerweise seine Sympathie für den Teil des ostdeutschen Publikums zu erkennen gegeben, der grundsätzlich mit der Regierungspolitik hadert. Ich meine mich an einen Artikel in einer führenden Zeitung zu erinnern, in dem stand, dass man von nun an keine Tellkamp-Bücher mehr lesen könne.

Der Schriftsteller als Seismograf und gesellschaftlicher Mahner hat in der Bundesrepublik Tradition, so ist es nicht. Ich persönlich habe meine Zweifel, ob Autoren notwendigerweise auch politisch weitsichtige Menschen sind. Nur weil jemand großartig über innere Vorgänge oder menschliche Verwicklungen schreiben kann, ist er nicht automatisch ein besonders scharfsinniger Denker. Doch die Öffentlichkeit billigt dem Autoren eine besondere moralische Kompetenz zu. Vielleicht ist es die Sensibilität, die man Künstlern unterstellt, oder die Leser denken, dass der eher meditative Lebensstil tiefere Einsicht begünstigt.

Im Grunde knüpft Tellkamp also nur an eine Rolle an, die Leute wie Grass und Böll als Vollzeitstelle bekleidet haben. Aber so einfach lässt man ihn nicht davonkommen. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob der kritische Geist von links oder rechts weht.

Ich würde auch immer einwenden, dass es das Privileg des Schriftstellers sei, Unsinn zu verzapfen. Böll hat als Kommentator hanebüchenes Zeug von sich gegeben, ohne dass dieses seinem Ruf als moralischer Instanz Abbruch getan hätte. Unvergessen ist der „Spiegel“-Essay, in dem Böll die erste Generation von RAF-Terroristen als fehlgeleitete Idealisten gezeichnet hatte, die vom Staat in den Untergrund getrieben worden seien. Auch Grass war von erstaunlicher Eigenwilligkeit im Umgang mit Fakten. Erst als er auf seine alten Tage sein Engagement bei der Waffen-SS allzu salopp der eigenen Biografie einzugliedern versuchte, merkten diejenigen im Feuilleton auf, die bis dato jede seiner Einlassungen als gottgleich hingenommen hatten.

Tellkamp ist ein scheuer Mensch. Ihm fehlen das Selbstbewusstsein und die Robustheit des von einer politischen Mission überzeugten Großschriftstellers. Wenn er sich zu Fragen der Einwanderung äußert, dann eher aus Verbitterung über die Hochnäsigkeit, mit der im Westen über die Landsleute geurteilt wird, denen er sich zugehörig fühlt. Dass man den Menschen aus Sachsen and Thüringen den politischen Verstand abspricht, weil sie sich anders äußern, als man es in München oder Hamburg erwartet, erzeugt bei ihm eine Gereiztheit, die sich in impulsiven Gelegenheitsauftritten entlädt.

Als wir im Herbst das letzte Mal sprachen, saß er an der Endfassung seines neues Romans. Die Arbeit sei im Wesentlichen abgeschlossen, sagte er, aber das muss bei ihm nichts heißen. Wer seine Arbeitsweise mit dem von Dombaumeistern vergleicht, denkt in anderen Zeiträumen. Tellkamp las dann aus einem Kapitel, das in einer Außenstelle der „Tausendundeine Nacht“-Abteilung des Verkehrsministeriums spielte, dem der Held zugeordnet ist. Von der Leyen tauchte auf, camoufliert als „Flintenbrigitte“, die Kanzlerin sowie eine Reihe ihrer Vasallen. Wenn man nach den Seiten, die er vortrug, auf das Buch schließen müsste, das dem „Turm“ folgen soll, erwartet den Leser eine ins Dystopische gewendete Vision der Merkel-Jahre.

Bei Suhrkamp lebt man in banger Erwartung des Buchs. Tellkamp gehört zu den wenigen Schriftstellern, die man nicht ins Weihnachtsgeschäft hieven muss, um Auflage zu machen. Die Wahrheit ist, dass viele der Suhrkamp-Autoren Tellkamp ihre Vorschüsse verdanken. Die Geschäftsgrundlage von Buchverlagen beruht auf einer Mischkalkulation, wo die Einnahmen des einen die Honorare der anderen subventionieren. Jemand wie Durs Grünbein, der Tellkamp als „Heimatautor“ verhöhnt, könnte ohne dessen Heimatschriftstellerei niemals von seinen eigenen anämischen Auflagen leben.

Selbstverständlich schlägt der Erfolg nicht zugunsten des Mannes aus Dresden aus. Tellkamp berichtete mir von der Begegnung mit einem Kollegen, der ihm nach dem Auftritt im Kulturpalast damit drohte, man werde dafür sorgen, dass Suhrkamp nichts mehr von ihm drucke, wenn sich so ein Vorgang wiederhole. Eine Art Orwell von rechts ist nicht das, was in der Suhrkamp-Welt geschätzt würde. Man darf vermuten, dass es da noch einen Tanz geben wird.

Der Förderverein des Lingnerschlosses hat jetzt angekündigt, selbstverständlich könne Tellkamp auftreten. Die Ausladung habe sich gegen die Zeitschrift „Tumult“ gerichtet, die die Veranstaltungsreihe ersonnen hatte, nicht gegen den Schriftsteller selbst. Der „Tumult“-Herausgeber Frank Böckelmann kommt übrigens von ganz links. Er hat mit Leuten wie Rudi Dutschke die Studentenrevolte angeführt, bevor er in die Kommunikationswissenschaft abbog. Böckelmann würde vermutlich sagen, dass er sich in seinem politischen Engagement treu geblieben sei. 

Kann uns nur noch die Kernenergie retten?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto. Leider gibt es nach Lage der Dinge nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie

Bei einem Besuch in London habe ich vor einigen Jahren ein Buch mit dem schönen Titel „Strange Days Indeed: The Golden Age of Paranoia“ erstanden. Der Autor Francis Wheen beschreibt darin die seltsam fiebrige Stimmungslage Mitte der siebziger Jahre, als die eine Hälfte im Westen den Untergang der Zivilisation wegen der Hippie-Kultur für unausweichlich hielt und die andere Hälfte die Menschheit den Atomtod sterben sah. Auf dem Rückumschlag ist ein Mann abgebildet, der an einem Strand an lauter Badenden mit einem Schild vorbeiläuft, auf dem „The End Is Near“ steht.

Die Untergangsangst ist zurück. Selbst kluge Köpfe sind von der Überzeugung befallen, dass das Ende der Menschheit kurz bevorstehe, diesmal nicht wegen der Atom-, sondern wegen der Klimakatastrophe. Sie könne weinen, wenn sie daran denke, wie gering die Chancen ihrer Tochter seien, anno 2076 60 Jahre alt zu werden, schrieb neulich Marina Weisband, eine durchaus nachdenkliche Frau, die sich nach ihrem Ausscheiden bei den Piraten als Digitalexpertin einen Namen gemacht hat.

Lassen Sie uns nicht darüber diskutieren, wie berechtigt oder unberechtigt Ängste sind. Ich selbst halte es für extrem unwahrscheinlich, dass die menschliche Rasse ab dem Jahr 2076 nicht mehr existieren wird. Menschen neigen nun einmal zu Zwangsvorstellungen. Eine Freundin von mir kann über keine Brücke fahren. Sie ist von der Angst geplagt, dass die Brücke in dem Moment, in dem sie darüberfahren würde, einstürzen könnte, deshalb nimmt sie bei Reisen entsprechende Umwege in Kauf. Es ist völlig sinnlos, sie auf die Unwahrscheinlichkeit des von ihr befürchteten Ereignisses hinzuweisen.

Nehmen wir also an, wir alle seien dem Hitzetod geweiht. Wäre es dann nicht an der Zeit, über die einzige Maßnahme nachzudenken, die geeignet ist, das Schicksal abzuwenden? Nach Lage der Dinge gibt es nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie. Was die CO2-Bilanz angeht, ist die Kernkraft sogar der Solarenergie überlegen. Nur Windenergie und Wasserkraft können klimapolitisch mithalten.

Wo ich mit den Apokalyptikern übereinstimme, ist der Pessimismus, die Erderwärmung ließe sich durch Selbstdisziplin begrenzen. Ich glaube, Leute wie Marina Weisband haben zu 100 Prozent Recht, wenn sie der Politik die Fähigkeit absprechen, das Ruder noch rechtzeitig herumzureißen. Bis wir so weit sind, dass wir den Laden mit Sonne und Wind am Laufen halten, sind die Eisberge längst geschmolzen.

Ich kenne alle Argumente gegen die Nutzung der Kernenergie. Die Frage der Müllentsorgung ist nicht hinreichend geklärt. Es gab in der Vergangenheit mehrere schwere Unfälle. Aber wenn ich davon ausgehe, dass nur wenige Monate bleiben, um zu verhindern, dass die Erde unbewohnbar wird, ist es dann nicht klüger, auf eine Technologie zu setzen, bei der nur ein theoretisches Risiko besteht, dass sie uns im Stich lässt?

Bislang hieß es: Ja, sicher, dass sich Tschernobyl oder Fukushima wiederholen, ist extrem unwahrscheinlich – aber ein Atomunfall reicht, um einen ganzen Landstrich zu verwüsten. Dieses Argument hat sich erledigt. Wenn wir weitermachen wie bisher, so sagen uns die CO2-Experten, dann ist nicht nur ein Landstrich verwüstet, sondern der ganze Globus.

Auch an der Kernkraft ist der Fortschritt nicht vorbeigegangen, das kommt hinzu. Die neuen Meiler haben mit den alten AKWs, von denen bei uns die letzten 2022 außer Betrieb gehen, kaum etwas gemein. Moderne Reaktoren, die auf flüssiges Natrium als Kühlmittel setzen, wären in der Lage, aus abgebrannten Brennelementen Energie zu gewinnen, was auch den Blick auf das Problem mit dem Atommüll schlagartig ändert.

Tatsächlich kommt eine ganze Reihe von Experten zu dem Schluss, dass nur eine Renaissance der Atomenergie uns vor einem globalen Anstieg der Temperaturen bewahren kann. Selbst Greta Thunberg hat in einem unbedachten Moment zu erkennen gegeben, dass sie in der Kernkraft einen positiven Beitrag sieht. „Atomkraft kann laut Weltklimarat IPCC ein kleiner Teil einer großen neuen, kohlenstofffreien Energielösung sein“, postete sie auf Facebook. Sie hat das dann mit Rücksicht auf die Befindlichkeit der „Fridays for Future“-Aktivisten relativiert, indem sie ein paar Tage später hinzusetzte, sie persönlich sei natürlich gegen die Kernkraft. Aber das war eher ein taktisches Manöver.

Es ist mitnichten so, dass die Kernenergie tot ist. Sie spielt nur in Deutschland keine Rolle mehr. Schon ein paar Kilometer jenseits der deutschen Grenze, in Frankreich, stehen die ersten von insgesamt 58 Reaktorblöcken, von deren Stromerzeugung wir übrigens unmittelbar abhängen, wenn bei uns der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Auf der anderen Seite, in Tschechien, verrichten insgesamt sechs Atommeiler ihren Dienst, ohne dass jemand daran denkt, sie abzuschalten.

So kann man fortfahren: Schweiz fünf Meiler, Belgien und Spanien je sieben. Selbst das wegen seiner Klimaneutralität gelobte Schweden mag nicht auf die Kernenergie verzichten. In Finnland, das bereits über vier Reaktoren verfügt, wird gerade um einen Neubau gerungen.

Ich habe Angela Merkel vor ein paar Jahren einmal gefragt, was sie dazu bewogen habe, über Nacht die deutsche Energiepolitik umzustoßen. Im Nachhinein ist die Entscheidung, das Land vom Atomstrom abzukoppeln, möglicherweise der schwerwiegendste Fehler ihrer Regierungszeit.

Auch sie habe es mit der Angst zu tun bekommen, als sie die Bilder aus Fukushima gesehen habe, gab die Kanzlerin als Antwort. Das fand ich für eine Frau, der man nachsagt, kühl kalkulierend auf die Welt zu sehen, eine bemerkenswerte Aussage. Es wurde dann im weiteren Verlauf der Diskussion noch etwas hitzig, weil ich erwiderte, dass ich nicht gedacht hätte, dass eine CDU-Kanzlerin einmal wie Claudia Roth reden würde.

Vielleicht hat Angela Merkel mit ihrer Entscheidung auch einfach der deutschen Gemütslage Rechnung getragen. Die Wahrheit ist ja, dass von den Unionsanhängern unter dem Eindruck von Fukushima ebenfalls eine Mehrheit für die Sofortabschaltung aller hiesigen Kernkraftwerke war. Es ist in Japan kein Anwohner wegen Strahlen gestorben, die Toten waren alle Opfer des Tsunamis. Aber was zählen schon Zahlen, wenn das Gefühl regiert?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto, der Widerwille gegen das Tempolimit und die besondere Wertschätzung von schön dicht schließenden Fenstern. Man kann das auch politisch einordnen. Je weiter jemand nach links tendiert, desto größer seine Strahlenangst, weshalb schon die Anschaffung einer Mikrowelle in jedem sozialdemokratischen Haushalt eine große Sache war, wie ich aus eigenem Erleben weiß.

Vielleicht sollten wir die Klimakrise nutzen, an uns selbst zu arbeiten. Manchmal führt eine Krise ja dazu, dass man über sich selbst hinauswächst. Das gilt auch für Nationen.

Das Ende der Biologie

Wie viele Geschlechter gibt es? Sind es drei, fünf oder sogar 60? In jedem Fall haben Mann und Frau als Kategorien ausgedient. Wer heute noch an die Biologie glaubt, ist ein Hinterweltler, Düber den man nur den Kopf schütteln kann 

Die Kinderbuchautorin Joanne K. Rowling hat sich zu Fragen der Biologie geäußert. Rowling ist Mutter dreier Kinder, außerdem die Erfinderin der Harry-Potter-Welt. Dass sie drei Kinder großgezogen hat, erwähne ich, weil niemand, der Kinder hat, an den Grundfragen des Lebens vorbeikommt, wie erfolgreich er oder sie auch sein mag. Rowling hat geschrieben, dass sie nach wie vor davon ausgehe, dass es Männer und Frauen gebe und dass für sie das biologische Geschlecht nichts Erfundenes sei, sondern real.

Ich wurde darauf aufmerksam, weil sich augenblicklich ein Sturm der Entrüstung erhob. Wer wie die britische Autorin behaupte, dass es nur zwei Geschlechter gebe, werte Transmenschen ab, hieß es. Ihre Äußerung sei diskriminierend und perfide. Es folgte der Aufruf zum Boykott ihrer Bücher.

Frau Rowling wird den Aufruf, ihre Bücher zu meiden, verschmerzen können. Ich finde den Fall bemerkenswert, weil er zeigt, wie selbstverständlich in einem Teil der akademischen Linken die Vorstellung geworden ist, die Unterscheidung in Mann und Frau sei eine rückständige, um nicht zu sagen repressive Idee, die kein aufgeklärter Mensch mehr vertreten könne.

Die Frage, ob es mehr als Mann und Frau gibt, beschäftigt die akademische Öffentlichkeit schon seit Längerem. Der Theorie zufolge, die Einzug in die Seminarräume gehalten hat, ist Geschlecht nichts, was man vorfindet, so wie Gene oder Hormone, sondern Definitionssache und damit eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft. Wie viele Geschlechter es gibt – ob es drei sind, fünf oder wie bei Facebook 60 –, das ist Teil der akademischen Debatte. Aber dass die sogenannte binäre Ordnung der Vergangenheit angehöre, darüber besteht Einigkeit.

Man darf sich nicht täuschen: Nur weil etwas absonderlich wirkt, heißt das nicht, dass es nicht Wirkung entfalten kann. Tatsächlich hat kaum eine Disziplin eine solche Karriere hingelegt wie die Gender-Wissenschaften, wobei man von Wissenschaften im engeren Sinne eigentlich nicht sprechen kann. Keine der vorgetragenen Thesen hält einer Überprüfung durch die Biologie oder die Neurowissenschaften stand.

Im Grunde funktionieren die „Gender Studies“ wie Homöopathie. Es existiert eine Reihe von Hypothesen und Annahmen, die nicht durch das Prinzip von Bestätigung oder Falsifikation, sondern allein durch Wiederholung Wahrheitskraft erlangen. Dennoch gibt es inzwischen in Deutschland über 150 Lehrstühle.

Wie bei allen Theorien, die lange genug im Umlauf sind, verselbstständigt sich die Sache irgendwann. Aus Lübeck erreicht uns zum Jahreswechsel die Nachricht, dass die Stadtverwaltung einen Leitfaden zur „gendersensiblen Sprache“ verfasst hat, damit sich alle Bürger angesprochen fühlen, auch jene, „die sich nicht als Frau oder Mann beschreiben“. Bevor Mitarbeiter der Stadt in näheren Kontakt mit einem Lübecker treten, sollen sie zuerst ermitteln, welches Geschlecht der oder diejenige bevorzugt. Die Empfehlung zur Ansprache lautet: „Guten Tag Name Vorname, wie darf ich Sie in Zukunft ansprechen?“

Selbst in bayerischen Gemeinden wird inzwischen überlegt, ob man in Grundschulen nicht Toiletten für das dritte Geschlecht einführen sollte, also für Kinder, die angeblich nicht genau sagen können, ob sie nun Jungen oder Mädchen sind oder das nicht sagen wollen.

Wenn ich im Gemeinderat von Taufkirchen säße, würde ich mir die Frage stellen, ob es ein einziges Kind gibt, das durch den Toilettengang dokumentieren will, dass es grundsätzlich anders ist als alle anderen. Der sicherste Weg, zum Mobbing-Opfer zu werden, besteht doch darin, sich als Außenseiter zu outen. Aber solche Überlegungen spielen keine Rolle, wenn es darum geht, sich als aufgeschlossen und aufgeklärt zu beweisen. Vermutlich kämen die Gemeindemitglieder arg ins Schwimmen, wenn sie sagen sollten, was genau sie unter dem drittem Geschlecht verstehen. Sind Intersexuelle gemeint, also Menschen, die beide Geschlechtsmerkmale besitzen und deshalb wirklich nicht sagen können, ob sie Mädchen oder Junge beziehungsweise Frau oder Mann sind? Die Zahl ist allerdings sehr gering. Der Prozentsatz von Kindern, die als Zwitter geboren werden, liegt deutlich unter 0,1 Prozent.

Oder sind vielmehr Transsexuelle das Ziel der Baumaßnahme? Dann allerdings wäre die Investition in gesonderte Toiletten für die Katz. Der Transsexuelle besteht ja gerade darauf, ein Mann oder eine Frau zu sein, nur unglücklicherweise im falschen Körper beheimatet. Dass die Krankenkasse die Kosten für eine Geschlechtsumwandlung übernimmt, lässt sich nur damit begründen, dass Geschlecht eben keine Frage der Definition, sondern eine der Hormone ist. Wäre es anders, könnte man sich die Kosten für die Behandlung sparen. Dann müsste man dem Transsexuellen lediglich sagen, dass die binäre Ordnung ohnehin passé sei.

Je ausführlicher man sich mit der Materie beschäftigt, desto verwirrender wird es. In Kanada ist eine Gender-Aktivistin vor Gericht gezogen, weil sich die Mitarbeiterinnen mehrerer Schönheitsstudios geweigert hatten, ihr die Hoden zu wachsen. Die Aktivistin machte geltend, die Weigerung stelle eine Diskriminierung als Frau dar. Der Komiker Ricky Gervais hat die Geschichte zum Teil seines Stand-up-Programms gemacht, womit er sich augenblicklich den Vorwurf der Minderheitenfeindlichkeit einhandelte.

Manchmal lohnt es sich, ein wenig Abstand zu gewinnen. Ich bin seit zwei Wochen in Kenia und Tansania unterwegs. Ich kann natürlich nicht genau einschätzen, wie viele Menschen hier der Meinung sind, dass eine Romanautorin verdammt gehört, weil sie nach wie vor an die Biologie glaubt. Meine Vermutung wäre: Es sind weniger als 0,1 Prozent. Die meisten Menschen, die in Afrika leben, wissen noch nicht mal, was ein Gender-Stern ist. Würde man ihnen sagen, dass sich Frau und Mann als Geschlechter überholt haben, würden sie nur den Kopf über den verrückten Weißen schütteln.

In Wahrheit lassen sich die Zentren der neuen Geschlechtertheorie auf einer Weltkarte relativ gut eingrenzen. Es sind die amerikanischen Hochschulen an den beiden Küsten der USA sowie die europäischen Universitätsstädte, wobei Deutschland als Verbreitungsgebiet besonders hervorsticht. Was zu einer interessanten Frage führt: Wenn die Gender-Theorie den Anspruch erhebt, für alle Menschen zu gelten, muss man dann nicht unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass die Bewohner Afrikas besonders rückständig sind?

Vielleicht sollten die Vertreter der „Gender Studies“ mal mit den Kollegen von den „Kolonialismusstudien“ reden. Eine Tür weiter könnte man ihnen sagen, warum die Zeiten, als man im Westen glaubte, dem Rest der Welt überlegen zu sein, eigentlich vorbei sind.