Monat: August 2023

Grüne Realitätsflucht

Es ist ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln. Leider wird beides nirgendwo so durcheinandergeworfen wie in der Sozialpolitik. Aktuelles Beispiel: Der Plan der Familienministerin zur Linderung der Kinderarmut

 Ein Vorteil, wenn man von der Realität weit weg ist: Es gibt keine Veranlassung, an seiner Vorstellung von der Welt zu zweifeln.

Nehmen wir, nur als Beispiel, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Frau Paus kommt vom linken Flügel der Grünen, wo man bis heute alle sozialen Fragen für eine Frage der Umverteilung hält. Sobald sich ein Problem auftut, nimmt man einfach die Subventionsgießkanne zur Hand und schüttet Geld drauf. Sollte sich das Problem halten, gießt man nach.

So ist auch der Plan für das größte Projekt der Ministerin, die sogenannte Kindergrundsicherung, entstanden. Um das Los armer Kinder zu erleichtern, möchte die Ministerin ein paar Milliarden in die Hand nehmen, die dann an die Eltern weitergereicht werden, die dafür all das kaufen, was sie sich bislang nicht kaufen konnten: also ganz viele Bücher und Spiele und Theaterkarten und überhaupt alles, was den Kleinen den Anschluss an die bürgerliche Welt erlaubt.

In der Welt, aus der Lisa Paus kommt, hat man vom Leben am unteren Ende der Gesellschaft eher vage Vorstellungen. Klar, man weiß, dass es arme Menschen gibt, die ihr Leben nicht richtig auf die Reihe bekommen. Schließlich ist ja in den Sozialprogrammen ständig davon die Rede, dass man die Armut in Deutschland lindern müsse.

Aber wie genau es in der Unterschicht aussieht, das entzieht sich der Anschauung. Da vertraut man auf die Vertreter der Sozialverbände wie das ehemalige Linksparteimitglied Ulrich Schneider, die einem sagen, wo man überall nachgießen muss. Wenn man als Ministerin vor die Tür tritt, dann in der Regel, um bei Parteiveranstaltungen vorbeizuschauen, wo man vornehmlich auf Leute trifft, die derselben Welt entstammen wie man selbst.

Politisch gesehen ist Kinderarmut ein Superthema. Das ist wie mit dem Einsatz für Wale und Delfine. Niemand klaren Verstandes will in den Verdacht geraten, kein Herz für Kinder zu haben. Haben Sie gesehen, was dem armen Christian Lindner passiert ist? Einmal darauf hingewiesen, dass vor allem Kinder aus Einwandererfamilie betroffen sind, und schon sind sie hinter einem her wie hinter der armen Seele. „Bösartig“, „abgrundtief ekelhaft“, „perfide“ – und das sind nur die Kommentare der Konkurrenz.

Die Fakten sind eindeutig: Die Zahl der deutschen Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, ist seit 2015 um ein Drittel gesunken, ganz ohne die Anstrengungen der Grünen. Es gibt wenige gute Nachrichten aus dem Sozialstaat, das ist eine. Dass die Zahl der Leistungsempfänger dennoch bei zwei Millionen verharrt, liegt daran, dass immer mehr ausländische Kinder mit ihren Familien nachrücken.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es keinen Unterschied macht, welchen Pass ein Kind hat. Das scheint auch die Meinung der Ministerin zu sein, die davon spricht, dass man die Sozialleistungen von einer Holschuld in eine Bringschuld des Staates umwandeln müsse. Ich glaube allerdings, dass in diesem Punkt selbst treue Wähler der Grünen anderer Meinung sein dürften.

Wie genau der Plan zur Behebung der Kinderarmut funktionieren soll, ist eben so vage wie die Höhe der Mittel, die Lisa Paus für erforderlich hält. Erst war von 12 Milliarden die Rede, dann von fünf Milliarden. Im „Spiegel“ sprach die Ministerin neulich von „zwei bis sieben Milliarden“ als „neuer Hausnummer“, was sich nicht einmal die Deutsche Bahn bei ihren Kostenschätzungen trauen würde. Dennoch wird unverdrossen am Projekt festgehalten.

So ist das bei den Grünen. Man lässt sich seine Gesellschaftssicht nicht von der Wirklichkeit kaputtmachen. Probleme, die man nicht sehen will, werden ignoriert. Oder wegerklärt. Oder, wenn das nicht mehr geht, Populismus genannt. Ein wunderbares Symbol für diese Form der Realitätsbearbeitung ist der Görlitzer Park in Berlin. Bevor er seine Umwidmung zum größten Open-Air-Drogenumschlagplatz Europas erlebte, war der „Görli“ das Naherholungsgebiet für die Leute, die sich ein Wochenendhaus in der Schorfheide nicht leisten können.

Dann kamen die Dealer und teilten den Park in Zonen auf: Hier die Männer aus Guinea, bei denen man sein Gras beziehen kann, auf Nachfrage aber auch Heroin, Kokain oder Crack, dort die Gambier, daneben die Leute aus dem Senegal. In München hätten sie irgendwann einen Trupp berittener Polizei geschickt, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Aber so etwas verbietet sich in einem Viertel wie Kreuzberg von selbst. Kreuzberg ist das für die Grünen, was Kulmbach für die CSU ist: Herzkammer und Quellgebiet zugleich.

Statt auf Razzien setzte die grüne Bezirksbürgermeisterin auf Sozialpartnerschaft. An Stelle von Polizisten machten sogenannte Parkläufer die Runde, die den Drogenhändlern Lehrstellen und Sprachkurse anboten, um sie in die Legalität zu geleiten. Man kann sich das Gelächter des Dealers vorstellen, als ihm der Parkläufer einen Ausbildungsplatz in Aussicht stellte, wenn er sein schändliches Tun aufgebe.

„Keine Gruppe im Park sollte ausschließlich als Problemverursacher gesehen werden“, hieß es in einem Handlungskonzept des Bezirks. „Menschen, die derzeit den Park nutzen, sollen nicht verdrängt werden.“ Weil man die Drogendealer nicht loswird, erklärt man sie einfach zur schützenswerten Minderheit: So geht grüne Sozialpolitik.

Ende Juni fielen mehrere Männer über eine junge Frau her, die so unvorsichtig gewesen war, die Erklärungen vom Park für alle ernst zu nehmen. Eine Gruppenvergewaltigung am frühen Morgen: Damit ist die Realität auch im grünen Vorzeigebezirk angekommen – sollte man meinen.

Berlins neue Innensenatorin würde den Görlitzer Park gerne mit einer Umzäunung und Videoüberwachung an den Eingängen sicherer machen. Aber das lehnt das zuständige Bezirksamt als „populistisch“ ab. Nötig sei statt eines Zauns, Sie ahnen es, mehr Geld für Sozialarbeiter!

Ich hätte einen Vorschlag, wie man gegen Kinderarmut effektiv vorgehen könnte. Wir koppeln den Bezug von Bürgergeld an den Kitabesuch. Wer vom Staat Geld haben will, muss im Gegenzug einwilligen, dass seine Kinder ab dem ersten Lebensjahr eine staatliche Einrichtung besuchen. Keine Kita, keine Sozialhilfe.

Ist das stigmatisierend? Natürlich ist es das. Aber wer sich darauf verlässt, dass andere für einen geradestehen, muss auch akzeptieren, dass man ihm Vorschriften macht, die für Leute, die selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen, nicht gelten.

Die Studienlage ist eindeutig: Wer in einer Hartz-IV-Familie aufwächst, hat ein deutlich erhöhtes Risiko arm zu bleiben. Kinder aus der Unterschicht ernähren sich öfter falsch, sie hängen zu viel vorm Fernsehen und bewegen sich zu wenig. Sie haben größere Mühe, sich zu konzentrieren und Lerninhalte zu erfassen, und neigen später eher zum Alkohol- und Drogenmissbrauch. Je früher man diesem Milieu entkommt, und sei es nur für ein paar Stunden an Tag, desto besser.

Gibt es Hartz-IV-Eltern, die sich rührend um ihre Kinder kümmern? Natürlich gibt es die. So wie es auch Eltern geben wird, die sofort losziehen und mit dem Geld von Frau Paus Schulhefte und Buntstifte für die Kleinen kaufen. Dummerweise werden aber auch der Nichtsnutz von Vater und die labile Mutter zu den Erziehungsberechtigten gehören, die über die Verwendung der Kindergrundsicherung bestimmen. Man kann es abgrundtief ekelhaft finden, darauf hinzuweisen, aber so ist die Realität.

Es ist ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln. Leider wird beides nirgendwo so beständig durcheinandergeworfen wie in der Sozialpolitik.

© Sören Kunz

Linke Tasche, tiefe Tasche

200 Millionen Euro zur Stärkung der Demokratie? Der Kampf gegen Rechts ist ein Geschäftsmodell, das den Beteiligten nicht nur Podiumsplätze und Professorentitel, sondern auch beträchtliche Subventionen sichert

Bin ich ein Rassist? Ich habe vor zwei Wochen über die Probleme mit Ausländern geschrieben. Beziehungsweise darüber, warum ich glaube, dass wir gar kein großes Integrationsproblem haben. Mit den allermeisten Leuten, die zu uns kommen, gibt es null Scherereien. „Wir haben kein Problem mit Chilenen. Oder Koreanern. Oder Vietnamesen“, schrieb ich. „Wir haben ein Problem mit Zuwanderern aus türkischen, afghanischen und arabischen Familien.“

Unter den Zuschriften, die mich erreichten, waren auch eine Reihe Mails von Deutsch-Türken, die es leid sind, dass sie ständig in Haftung genommen werden für Leute, die sich daneben benehmen. „Ich wollte Ihnen für den Text danken, den ich als ehrlich und unverfälscht empfunden habe“, erklärte eine Berliner Leserin, deren Name darauf schließen ließ, dass ihre Vorfahren aus der Türkei stammten.

Einer der wenigen, die dezidiert anderer Meinung sind, ist der Soziologe Oliver Nachtwey. Er sieht die Sache nicht nur anders, wie er mich via Twitter wissen ließ. Er findet, dass jeder, der die Sache so sieht wie ich, ein Rassist ist. Wörtlich schrieb er: „Es gibt ein Wort hierfür: Rassismus.“

Ich bin selten sprachlos. Hier war ich es für einen Moment. Wäre der Mann Anführer einer linken Hochschulgruppe oder Redakteur einer Postille wie der „Jungle World“ – meinetwegen. Aber Soziologe? Wenn es eine Wissenschaft gibt, die daran interessiert ist, was Kollektive voneinander unterscheidet, dann die Soziologie.

Warum die eine Gruppe mühelos den Aufstieg schafft, während die andere von Generation zu Generation weiter zurückfällt, ist eine Frage, die zu den Klassikern der empirischen Sozialforschung zählt. Gut, Nachtwey ist Professor in Basel. Das erklärt einiges. Da versucht man sich besonders weit nach links aus dem Fenster zu lehnen, um nicht als rückständig zu gelten.

Für alle, die noch nie von Herrn Nachtwey gehört haben: Er ist der Star einer Szene, die überall rechte Umtriebe wittert. Für Oliver Nachtwey beginnt Rechtsradikalismus mehr oder weniger bei der FDP. Das hat ihn zu einem gefragten Podiumsgast gemacht.

Von Nachtwey stammt der Begriff des „libertären Autoritarismus“, in dem nicht zufällig Adornos „autoritärer Charakter“ als Wegbereiter des Faschismus anklingt. Der Begriff mag etwas akademisch klingen, aber dahinter steht die eingängige Idee, dass jeder, der findet, dass sich der Staat zu sehr ins Leben seiner Bürger einmischt, im Grunde ein Demokratieverächter ist.

Wir sind vermutlich das einzige Land der westlichen Welt, in dem das Wort Freiheit unter Totalitarismusverdacht fällt. Aber so sind die Verhältnisse. Wer seine Kinder gewähren lässt, wenn sie sich die Freiheit herausnehmen, Getränke mit zu hohem Zuckergehalt zu bestellen, gilt bereits als Nazi.

Wie geht man am besten gegen Rechts vor? Das ist die Frage der Stunde. Mit jeder Umfrage, in der die AfD einen weiteren Prozentpunkt zulegt, wird die Frage hysterischer.

Ich halte die AfD ebenfalls für eine ziemlich unappetitliche Partei. Wer Björn Höcke gut findet, hat sich aus dem Kreis derjenigen, die man ernst nehmen kann, verabschiedet. Ich weiß, das wollen viele Leute nicht hören. Ich sehe schon die enttäuschten Leserzuschriften vor mir. Aber so sehe ich die Dinge nun einmal.

Ein Politiker, der so redet, als ob er nachts Goebbels-Reden auswendig lernt, um sie anderntags in Versatzstücken auf thüringischen Marktplätzen auszuprobieren, ist für mich ein politischer Harlekin. Bestenfalls. Und nein, ich schreibe das nicht, weil mich mein Verlag dazu zwingt. Ich schreibe das aus Überzeugung. Dennoch sollten wir nach meiner Auffassung mehr Realismus walten lassen.

Wir geben Unsummen für den Kampf gegen Rechts aus. Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder hat unlängst in einem Beitrag für die „Welt“ darauf hingewiesen, dass sich die finanziellen Mittel seit ihrer Amtszeit verzehnfacht haben – von 20 Millionen Euro im Jahr 2013 auf aktuell 200 Millionen Euro.

Legt man die Wahlergebnisse der AfD zugrunde, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Bundesförderung gibt, die sinnloser ist. 2013 lag die AfD noch bei fünf Prozent, jetzt sind es laut Umfragen 20 Prozent. Aber das hindert die Befürworter selbstredend nicht, mehr Geld zu fordern.

Im Gegenteil, gerade die Erfolglosigkeit wird zum Argument, warum es mehr Unterstützung brauche. „Scheinbar haben 200 Mio ja nicht gereicht“, schreibt die ehemalige ARD-Korrespondentin Christiane Meier unter der Überschrift „Dümmer geht’s nimmer“ in einer Antwort auf Schröder.

So lautet auch die Begründung, wenn sich jemand traut, eines der unzähligen Programme infrage zu stellen. Als das Justizministerium vor vier Wochen ankündigte, die Unterstützung der Beratungsstelle „Hate Aid“ einstellen zu wollen, setzte sofort ein großes Wehklagen ein. „Was, gerade jetzt wird an Projekten gespart, die die Demokratie stärken?“, lautete der Tenor.

In Wahrheit ist der Kampf gegen Rechts ein einträgliches Geschäftsmodell, das einem nicht nur Professorentitel, sondern auch staatliche Subventionen in beträchtlicher Höhe sichert.

Noch hochtrabender als die Projekttitel („Firewall – Hass im Netz begegnen“, „Antifeminismus begegnen – Demokratie stärken“) sind nur die Selbstbeschreibungen. „Als #dafür Plattform bringen wir Menschen zusammen, die sich radikal konstruktiv gegen die politische Ideen- und Mutlosigkeit stellen und keine Lust mehr auf den eskalierenden gesellschaftlichen Diskurs haben“, hieß es auf der Webseite der „Initiative Offene Gesellschaft“, die aus dem Bundesfamilienministerium Fördermittel in Höhe von insgesamt 1,78 Millionen Euro erhielt.

Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Programme scheitern müssen. Nur ein paar Ministeriale, die seit Jahren nicht mehr den Weg vor die Tür gefunden haben, können ernsthaft glauben, dass man Menschen davon abhält, für die AfD zu stimmen, wenn man ihnen die Vorteile geschlechtergerechter Sprache nahebringt. Oder sie auffordert, bei der „Meldestelle Antifeminismus“ transfeindliche Äußerungen zu melden.

Es spricht viel für die Annahme, dass der gegenteilige Effekt eintritt. Je mehr Geld man Einrichtungen wie der „Amadeu Antonio Stiftung“ zuschanzt, desto mehr Menschen sagen sich: Vielleicht sollten wir es doch mal mit der AfD versuchen, damit der Quatsch ein Ende hat.

Der Washington-Korrespondent des „Spiegel“ René Pfister hat darauf hingewiesen, dass schon in Amerika die Idee, die aufgeklärten Kräfte müssten sich nur entschieden genug zusammentun, um die Gefahr von Rechts abzuwehren, krachend gescheitert ist. „Es grenzt an magisches Denken, wenn Journalisten glauben, die AfD werde geschwächt, wenn wir nur fleißig genug ‚Schutzsuchende‘ statt ‚Flüchtlinge‘ schreiben“, schrieb er in einem viel beachteten Artikel. „Gerade im Osten haben viele durch das Aufwachsen in einer Diktatur eine Aversion gegen die Kontrolle von Sprache.“

Aber wer weiß, möglicherweise ist ja genau das der eigentliche Zweck der Operation. Das Schlimmste, was einem Subventionsprogramm passieren kann, ist, dass es sich selbst überflüssig macht. Würde die Kampagne gegen Rechts so wirken wie versprochen, würden die Rechten ja an Zuspruch verlieren, sodass man auch die Förderung sukzessive zurückführen müsste. Was soll dann aber aus all den Antirassismus- und Antifeminismusexperten werden, die sich der Stärkung der Demokratie verschrieben haben?

Gottlob lässt die Ampel niemanden im Stich. Deshalb hat die Bundesregierung zum Jahreswechsel das sogenannte Demokratiefördergesetz auf den Weg gebracht, dessen wesentliches Ziel es ist, die Mittel zu „verstetigen“, wie es in der Beamtensprache heißt. Das ist geradezu genial: Man verzichtet nicht nur auf jede Evaluierung, was aus dem Geld wird, das man einsetzt. Man sichert den Empfängern auch noch zu, dass es bei der Finanzierung bleibt, egal, wie sich die politischen Verhältnisse entwickeln.

Die Menschheit hat lange vom Perpetuum mobile geträumt. Beim Kampf gegen Rechts ist diese Wundermaschine Wirklichkeit geworden.

© Silke Werzinger

Die Olympia-Mafia

ARD und ZDF sind verpflichtet, sich für Frieden und soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Warum finanzieren sie dann mit Gebührengeldern eine der korruptesten Organisationen der Welt?

 Am 26. Juli beginnen in Paris die Olympischen Sommerspiele. Wird Russland dabei sein? Das ist die Frage, die das Internationale Olympische Komitee im Augenblick am meisten beschäftigt. Eine Hand wäscht die andere: Wenn es eine Organisation gibt, die dieses Motto versteht, dann das IOC.

Ende März, zum verspäteten Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine, trat der IOC-Präsident Thomas Bach in Lausanne vor die Presse und erklärte, dass es die Achtung der Menschenrechte gebiete, dass die Russen teilnehmen dürften. An die Menschenrechte erinnern sich Leute wie Bach immer, wenn es einen Deal einzufädeln gilt. „Menschenrechte“ sind für sie so etwas wie die rituellen Fair-Play-Appelle: Nicht ernst zu nehmen, aber nützlich, wenn man den Westen beeindrucken will.

Fieberhaft wird nach einem Weg gesucht, den Boykott zu umgehen. Soll man von den Sportlern eine Erklärung verlangen, dass sie den Krieg schlecht finden? Oder soll man den Sportverbänden die Aufgabe übertragen, alle Athleten herauszufiltern, die sich offen für den Krieg ausgesprochen haben? Oder lässt man einfach jeden zu, der sich als neutral bezeichnet? Das wäre dem IOC am liebsten. Neutralität ist noch besser als Menschenrechte.

Man braucht nicht viel Fantasie, wie es in Paris dann zugehen würde. Vor zwei Wochen traf die ukrainische Fechterin Olha Charlan auf die russische Rivalin Anna Smirnowa. Weil auch der internationale Fechterverband nicht an der Tatsache vorbeikommt, dass die Russen in der Ukraine gerade Frauen und Kinder abschlachten, trat Smirnowa nicht als Russin an, sondern als „neutrale“ Sportlerin. Zwei Klicks reichten, um zu sehen, wie es um die Neutralität bestellt war. Auf Instagram posierte sie mit Victory-Zeichen. Gut, Leni Riefenstahl war irgendwie auch immer neutral, wie man weiß.

Die Ukrainerin gewann. Damit war die Sache aber nicht erledigt, weil die unterlegene Russin auf einem Handschlag bestand. Als ihr der verweigert wurde, setzte sie sich für eine halbe Stunde auf einen Stuhl und markierte die Betrogene. So ist das Putin-Russland: unfähig, im fairen Wettkampf zu bestehen, dafür selbstmitleidig und weinerlich und immer bereit, die Opfer-Rolle einzunehmen, bis jemand einlenkt und sagt: „Wir müssen auch die russischen Interessen berücksichtigen.“

Ich kann Thomas Bach verstehen. Diktatoren, die durch Bäche von Blut waten, zeigen sich sehr großzügig, wenn man anbietet, ihnen auf der internationalen Bühne wieder etwas Reputation zu verschaffen. Länder wie Russland haben auch kein Problem mit doppelter Buchführung und verdeckten Geldflüssen.

Der bevorzugte Zahlungsverkehr ist hier ohnehin das Schwarzgeld. Auf dem Papier ist man eine arme Kirchenmaus, so wie ja auch Putin bekanntlich nichts hat – das hält die tonangebenden Köpfe allerdings nicht davon ab, Immobilien auf der ganzen Welt zu besitzen. Mit solchen Leuten gibt es später auch keine Scherereien bei der Rechnungsstellung, vorausgesetzt natürlich, man erfüllt die Erwartungen.

Auf der Liste der korruptesten Organisationen rangiert das IOC ganz oben. Das Olympische Komitee ist so etwas wie der Menschenrechtsrat der UN. Da sitzen auch vor allem Experten für die Umgehung von Menschenrechten. Den aktuellen Vorsitz hat, glaube ich, gerade Libyen inne. Oder war es Kuba?

Erinnern Sie sich noch an die Olympischen Spiele in Rio? Kurz vorher war das gesamte russische Leichtathletikteam des systematischen Dopings überführt worden, plus die Ruderer plus die Gewichtheber, was die trotz Staatsdoping zugelassenen Sportskanonen nicht daran hinderte, unter Aufsicht des IOC ihre Medaillen einzusammeln. Dafür war die russische Läuferin, die den Dopingskandal ans Licht gebracht hatte, von den Wettkämpfen ausgeschlossen. Bei der Cosa Nostra nennt man das „die Leiche im Hof“. Dieses Symbol versteht jeder.

Noch Monate später waren die Ermittler in Rio mit den juristischen Aufräumarbeiten beschäftigt. IOC-Chef Bach zog es vor, Brasilien vorerst nicht mehr zu betreten. Nicht einmal zu den zwei Wochen später stattfindenden Paralympics mochte er erscheinen. Es hatte sich herumgesprochen, dass ihn die Polizei gerne zu seiner Rolle beim illegalen Tickethandel befragt hätte. Das wollte sich Bach lieber ersparen.

Sechs Jahre später in China gab es dann keine Ermittlungen mehr. Ein Land, das eine Million Menschen in Konzentrationslagern hält, weil sie den falschen Glauben haben, kennt keine unabhängige Justiz. Das ist der Riesenvorteil von lupenreinen Diktaturen. Da fühlt sich das IOC-Mitglied naturgemäß sofort wohl. Und der Diktator hält sich an Absprachen. Putin wartete brav mit seinem Krieg, bis die Abschlussfeier in Peking über die Bühne gegangen war. Solche Rücksichtnahme wissen sie beim IOC zu schätzen.

Was ich nicht verstehe, ist, warum wir mitmachen. Es ist ja nicht nur so, dass deutsche Unternehmen stolz darauf sind, Partner der Sport-Mafia zu sein, darunter so respektable Konzerne wie die Allianz, die normalerweise viel Wert darauf legen, dass es bei ihnen korrekt zugeht. Zu den Sponsoren gehören ausgerechnet die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Wenn RTL sagen würde: Wer „Adam sucht Eva – Promis im Paradies“ sendet, kann auch Olympia mitfinanzieren – das würde ich verstehen. Aber das vornehme ZDF und die noch vornehmere ARD?

Jedes Unternehmen beschäftigt heute eine Compliance-Abteilung, die darauf achtet, dass es ethisch einwandfrei zugeht. Wehe, bei einem Unternehmen wird bekannt, dass es in Rüstungsgüter oder andere anrüchige Geschäfte investiert! Als Siemens vor Jahren dabei erwischt wurde, wie es in Nigeria ein paar Offizielle schmierte, um Genehmigungen voranzutreiben, musste der halbe Vorstand gehen. Aber bei Olympia scheint alles egal. Sobald die fünf Ringe auftauchen, ist auch die härteste Korruption irgendwie okay.

Mich beschäftigt das Thema seit Längerem. Das Bundesverfassungsgericht hat die Rundfunkanstalten mit Befugnissen ausgestattet, die ansonsten nur Finanzämter haben. Sollte man da nicht erwarten dürfen, dass sie bei der Auswahl der Geschäftspartner sehr sorgfältig verfahren? Ich habe einen Juristen befragt, der sich mit Medienrecht auskennt. Er wies darauf hin, dass Institutionen, die in den Rang einer Grundsäule der Demokratie erhoben wurden, in besonderer Weise an die Werteordnung des Grundgesetzes gebunden sind.

Man kann es auch nachlesen. Im Gesetz über den Westdeutschen Rundfunk findet sich folgender Passus: „Der WDR soll die internationale Verständigung, die europäische Integration, den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ein diskriminierungsfreies Miteinander in Bund und Ländern und die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern fördern, zum Frieden und zur sozialen Gerechtigkeit mahnen, die demokratischen Freiheiten verteidigen und der Wahrheit verpflichtet sein.“ Ähnliches findet sich in den Statuten aller öffentlich-rechtlichen Sender.

Ich arbeite aus gutem Grund nicht beim WDR. Ich würde bei einer Institution, bei der die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zentrales Programmziel ist, nicht lange durchhalten. Dennoch finde ich es äußerst fragwürdig, wenn man Mafia-Organisationen wie das IOC oder die Fifa alimentiert.

Dass ARD und ZDF nicht mit den acht Milliarden auskommen, die sie jedes Jahr bei den Gebührenzahlern einsammeln, liegt auch daran, dass sie Unsummen in Sportrechte stecken. Wie viel genau die Rundfunkanstalten dafür ausgeben, dass sie im Zweijahreswechsel erst die Olympischen Spiele und dann die Fußballweltmeisterschaft übertragen, ist nicht zu erfahren. Diese Zahlen werden wie ein Staatsgeheimnis gehütet.

Aber es ist in jedem Fall so viel, dass an anderer Stelle im Programm gespart werden muss, um den Sportzirkus zu finanzieren.

Der Verzicht auf die Subventionierung von Herrn Bach und seinen Compañeros würde also nicht nur dem Programmauftrag entsprechen. Er käme unmittelbar der ebenfalls im Staatsvertrag festgehaltenen Selbstverpflichtung zugute, mit dem Gebührengeld solide zu wirtschaften.

© Michael Szyszka

Logik der Straße

Es heißt, wir hätten ein Integrationsproblem. Das stimmt nicht. Wir haben kein Problem mit Chilenen, die zu uns kommen. Oder Südkoreanern. Oder Vietnamesen. Auch nicht mit Finnen, Thailändern oder Chinesen.

 Der Hamburger Senat hat Auskunft zur Lage der afghanischen Flüchtlinge in der Hansestadt gegeben. Der Anlass war eine Kleine Anfrage in der Bürgerschaft, wie viele der Afghanen, die in den vergangenen Jahren nach Hamburg gekommen sind, einer regulären Arbeit nachgehen und wie viele von staatlicher Stütze leben.

Das ist die Auskunft des Senats: Von den insgesamt 28485 Afghanen, die Stand 2022 in Hamburg lebten, waren 6761 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 9027 bezogen Hartz IV beziehungsweise Bürgergeld, wie Hartz IV jetzt heißt. 4124 erhielten Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz, 2071 Sozialhilfe.

Ich habe mir die Resonanz angesehen. SPD und Grüne, die in Hamburg die Regierung stellen, wollen es nicht so genau wissen. Und auch die CDU zeigt nur mäßiges Interesse. Es ist wie so oft in die Migrationsdebatte: Man verschließt lieber die Augen und hofft, dass sich die Probleme von selbst erledigen. Das Ganze funktioniert ein bisschen wie magisches Denken: aus den Augen, aus dem Sinn. Leider ist der Realität durch Magie nur schwer beizukommen.

Auch in Hamburg werden händeringend Arbeitskräfte gesucht. Jeder, der sich nützlich machen will, findet eine Beschäftigung. Es mag also gute Gründe geben, warum ein Großteil der afghanischen Flüchtlinge keinen Job hat. An mangelnden Angeboten liegt es allerdings nicht.

Es heißt, wir hätten ein Integrationsproblem. Dem würde ich entschieden widersprechen. Wir haben kein Problem mit Chilenen, die zu uns kommen. Oder Südkoreanern. Oder Vietnamesen. Auch nicht mit Finnen, Thailändern oder Chinesen. Wir haben ein Problem mit Zuwanderern aus türkischen, afghanischen und arabischen Familien.

Es gibt nicht nur deutliche Hinweise, dass hier die Zahl derjenigen, die von staatlicher Unterstützung abhängen, am höchsten ist. Fast immer, wo jemand mit einem sogenannten Migrationshintergrund über die Stränge schlägt, landet man ebenfalls in diesem Kulturkreis. Ich habe noch nie von den Deutsch-Chinesen gehört, die in Freibädern andere Badegäste belästigen. Oder den Deutsch-Malaien, die zu Silvester marodierend durch ihr Stadtviertel ziehen.

Was ist schiefgelaufen? Die erste Generation von Einwanderern, die vornehmlich aus der Türkei kam, bestand aus hart arbeitenden Menschen. Dass Deutschland zum Wohlstandsparadies wurde, verdanken wir auch dem Einsatz von Hatice, Ali und Mustafa. Es gab immer mal wieder die Idee, ein Denkmal des unbekannten Gastarbeiters zu errichten. Ich wäre sofort dafür. Diese Leute haben verdient, dass man sich ihrer Lebensleistung erinnert.

Aber irgendwann sind die Dinge aufs falsche Gleis geraten. Das Eigenartige ist, dass gerade in muslimischen Familien normalerweise viel Wert auf Respekt und Höflichkeit gelegt wird. Niemand in der Türkei oder Syrien oder Marokko käme auf die Idee, den Lehrer zu beschimpfen, weil er eine schlechte Note bekommen hat, oder sich mit den Ordnungskräften anzulegen, wenn ihn der Hafer sticht. Ich habe im Gegenteil bei meinen Reisen durch die muslimische Welt die Menschen dort immer als besonders freundlich und rücksichtsvoll erlebt.

Eine Erklärung wäre, dass aus Ländern wie Marokko vor allem die Troublemaker zu uns kommen. Die andere wäre, dass wir in Deutschland etwas falsch machen. Ich neige zu letzterer Erklärung. Ich glaube, dass wir falsch abgebogen sind, als wir den Leuten einzureden begannen, dass die Verhältnisse schuld sind, wenn sich der Sohnemann zum Tunichtgut entwickelt.

Ich war drei Jahre lang Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Keine Ahnung, wem ich die Einladung zu verdanken hatte, aber eines Tages rief ein freundlich klingender Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums an und fragte, ob ich Zeit und Interesse hätte, als Journalist meine Erfahrungen einzubringen.

Man muss sich die Islamkonferenz wie eine lange Therapiesitzung vorstellen, bei der jeder ausführlich beschreibt, welches Unrecht ihm als Mitglied einer ethnischen Minderheit in Deutschland widerfährt oder widerfahren kann. Der Dialog bestand darin, sich gegenseitig zu versichern, wie sehr Ausländer und ihre Nachfahren in Deutschland benachteiligt sind. So verliefen dann auch die Sitzungen eher einseitig. Die eine Hälfte schilderte das Migrantenschicksal, die andere Hälfte saß da und schaute betroffen.

Nur einmal kam es zu einem unschönen Zwischenfall, als eine junge Deutsch-Türkin das Wort ergriff, Professorin für Wirtschaftsrecht an der Hochschule Anhalt in Bernburg, wie ich den Tagesunterlagen entnahm. Sie sei es leid, dass der kulturelle Unterschied ständig als Entschuldigung diene, morgens nicht mit den Kindern aufzustehen und nach der Schule die Hausaufgaben zu vernachlässigen. „Es gibt eine latente Akzeptanz in der türkischen Community für Eltern, die ihre Kinder schlecht erziehen, sie finden Verständnis, das sie nicht verdienen”, sagte sie.

Es wurde sehr still im Raum. Der Sitzungsleiter, ein Herr Frehse aus der Grundsatzabteilung des Innenministeriums, guckte betreten in seine Papiere und regte dann eine Kaffeepause an. Wie ich später erfuhr, stammte die Professorin aus einer Gastarbeiterfamilie aus dem Wedding, der Vater Arbeiter in einer Schokoladenfabrik, die Mutter ebenfalls am Band, vier Mädchen, alle Abitur, sie die jüngste Professorin, die bis dato in Deutschland einen Lehrstuhl erhalten hatte.

Ich hätte es spannend gefunden, mehr darüber zu erfahren, wie sie es geschafft hatte, sich nach oben zu kämpfen. Aber dazu kam es nicht. Beim nächsten Mal war sie nicht mehr dabei.

Was kann man tun? Es hilft nichts, fürchte ich, wir müssen noch einmal ans Bürgergeld ran. Solange wir Menschen in Aussicht stellen, dass sie genau so viel Geld haben werden, wenn sie nicht arbeiten, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie sich gegen Arbeit entscheiden.

Ich weiß, die armen Kinder! Das ist das Argument, das unweigerlich kommt, wenn man über die Höhe der Sozialhilfe redet: Wollt ihr denn die armen Kinder im Stich lassen?

Die Wahrheit ist: Die Zahl bedürftiger Kinder hat sich dramatisch reduziert, und zwar seit 2015 um ein Drittel. Dass die Zahl der minderjährigen Hartz IV-Empfänger dennoch bei zwei Millionen stagniert, liegt daran, dass die Ankunft von Flüchtlingsfamilien den Rückgang im Inland überlagert.

Es ist ohnehin ein Irrglaube, dass mehr staatliche Hilfe mehr Chancengleichheit bedeuten würde. Jeder Sozialarbeiter kann einem sagen, wo das zusätzliche Geld bleibt: Nicht in Büchern und Filzstiften. Ich weiß, das klingt furchtbar klischeehaft, aber das Klischee ist ja auch deshalb Klischee, weil es einen wahren Kern hat.

Wir erwarten Dankbarkeit. Wir denken, dass unsere Großzügigkeit mit Wohlverhalten vergolten wird. Wenn der arme Migrant schon nicht arbeitet, weil er sich durchgerechnet hat, dass es sich nicht lohnt, soll er sich im Gegenzug wenigstens unauffällig verhalten.

Aber so läuft das nicht. Wir braven Deutschen können uns nicht vorstellen, dass uns unsere Nachsicht als Dummheit ausgelegt wird. In der Welt zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße wird ein Staat, der sich an der Nase herum führen lässt, nicht bewundert, sondern verachtet.

Wer dem Faulenzer Geld gibt, obwohl der über zwei gesunde Hände verfügt, gilt nicht als vernünftig, sondern als deppert. Leute wie Katrin Göring-Eckardt sind hier eine Lachnummer, über die man den Kopf schüttelt. Wer sich ausnutzen lässt, hat es nicht besser verdient – das ist die Logik der Straße. Im Zweifel haut man ihm noch einen über den Kopp, weil Schwäche verachtet wird. Und definitiv als schwach gilt, wer sich an der Nase herumführen lässt.

Vielleicht sollten wir etwas arabischer werden. Wenn schon Einwanderung, dann richtig. Ich habe eine Vorstellung davon, wie ein Deutsch-Araber auf jemand reagieren würde, der ihn auszunutzen versucht. Sagen wir es so: Die Antwort wäre so handfest, die könnte man auf keinem Grünen-Parteitag posten.

© Sören Kunz