„Sagen, was ist“, hat „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein seinen Redakteuren mit auf den Weg gegeben. Heute verfährt die Redaktion lieber nach dem Motto: „Sagen, was sein soll“. Dabei kommt es zu haarsträubenden Fehlern
Der Brief, der die Meinung der „Spiegel“-Redaktion über Friedrich Merz zusammenfasst, ist 22 Zeilen lang. Er findet sich auf den letzten Seiten des Heftes, wo die Zuschriften der Leser abgedruckt sind.
Peter Krizan aus dem bayrischen Neuötting berichtet dort von einem desaströsen Auftritt des heutigen Kanzlerkandidaten an der Universität St. Gallen. Vor 20 Jahren habe Merz eine Vorlesung als Honorarprofessor gegeben, die so blamabel verlaufen sei, dass der Auftritt von der renommierten Hochschule als Schande empfunden worden sei. Unter den Studenten sei es zu Tumulten gekommen. Die Universitätsleitung habe sich gezwungen gesehen, sich vorzeitig von Merz zu trennen, um das ramponierte Image wiederherzustellen. Quite a story, wie der Engländer sagen würde.
Leider stimmt an der Geschichte nichts. Merz war nie zu Vorlesungen in St. Gallen; er hat schon gar nicht Wirtschaftswissenschaften unterrichtet, weder in der Schweiz noch anderswo. Merz ist Jurist, wie man leicht ergoogeln kann. Der Leserbriefschreiber, ein pensionierter Verfahrenstechniker, existiert, das immerhin. Aber alles andere entspringt der Fantasie.
Wie Krizan der „Süddeutschen“ berichtete, hatte er sich erinnert, dass sein Sohn in St. Gallen studiert und von einem Auftritt des CDU-Politikers erzählt habe. Weil der Sohn gerade nicht greifbar gewesen sei, habe er ChatGPT befragt, was die KI zu dem Vorfall wisse, worauf ihm obige Geschichte präsentiert worden sei, die er wiederum als Leserbrief nach Hamburg an den „Spiegel“ geschickt habe. Naja, habe er sich gedacht, die haben ja einen Faktencheck, die werden das schon überprüfen. Umso größer dann sein Erstaunen, als der Brief unverändert im „Spiegel“ erschien.
Ich habe 30 Jahre für den „Spiegel“ gearbeitet. Ich hatte dort eine prima Zeit. Anders, als viele vermuteten, wurde ich auch nicht weggemobbt. Der damalige Chefredakteur hat mir glaubhaft versichert, dass er meinen Wechsel aufrichtig bedauere, als ich zu Burda ging. Aber wenn ich heute das Blatt lese, erkenne ich es kaum wieder.
Der Redaktion steht eine Dokumentation zur Seite, die ihresgleichen sucht. Jeder Text geht durch mehrere Hände, auch die Leserbriefe. Wie kann es also sein, dass ein Brief, der Behauptungen enthält, die jeder Plausibilität entbehren, seinen Weg ins Heft findet? Tumulte an einer Uni, weil BWL-Studenten mit der Qualität einer Vorlesung nicht einverstanden sind – und das ausgerechnet in der Schweiz? Da lachen ja die Hühner, wie man so schön sagt.
Der Quatsch fällt niemandem auf, weil er das Bild bedient, das man sich bis in die Chefredaktion von der CDU und ihrem Kandidaten gemacht hat. Hätte es sich um Robert Habeck gehandelt, wäre ein solcher Brief gleich in der Ablage Papierkorb gelandet. Aber bei Merz scheint alles möglich. Das ist wie beim Fall Relotius: Auch da versagten alle Sicherheitskontrollen, weil die Geschichten perfekt der Erwartungshaltung der Redaktion entsprachen.
„Sagen, was ist“, steht an einer Wand im Atrium des Verlagsgebäudes an der Hamburger Ericusspitze, ein Satz des Gründers Rudolf Augstein, mit der er seine Redakteure verpflichten wollte, über den politischen Gestaltungswillen die Wirklichkeit nicht zu vergessen. Tempi passati. „Sagen, wie es sein soll“, lautet das Motto, dem sich die Redaktion heute verpflichtet fühlt.
Damit man mich nicht missversteht: Es gibt wunderbare Kollegen beim „Spiegel“. Immer wieder findet man auch Geschichten, die es in dieser Qualität nur dort gibt. Aber es ist ein Glücksspiel geworden, ob sich der Kauf des Heftes lohnt. Oft herrscht nur gähnende Ödnis.
„Es ist bitter zu sehen, wie die ‚Zeit‘ jetzt regelmäßig den ‚Spiegel‘ abkocht“, schrieb ich neulich einem Kollegen, der wie ich inzwischen woanders arbeitet. „Mir liegt das Blatt immer noch am Herzen, und ich leide wirklich mit, dass es jetzt oft so abgehängt wirkt“, schrieb er zurück.
Früher hat man sich beim „Spiegel“ lustig gemacht, dass die „Zeit“ am Donnerstag die Geschichten kommentierte, die zuvor im „Spiegel“ gestanden hatten. Heute ist es genau umgekehrt. Wie die FDP den Ampel-Bruch vorbereitete oder die Grünen einen der ihren mit erfundenen Me-Too-Vorwürfen erledigten, liest man zuerst in der „Zeit“. Im „Spiegel“ folgt dann die Nachbereitung in der „Lage am Morgen“ – oder eine „Analyse“ der Vorgänge aus der Feder der stellvertretenden Berliner Büroleiterin Maria Fiedler.
Nichts gegen gepfefferte Kommentare. Aber selbst die wirken heute oft seltsam blutleer, weil kaum noch jemand aus der Reihe tanzt. Natürlich sind die Grünen, bei allen Fehlern, die Partei der Wahl. Selbstverständlich ist Trump verachtenswert und Musk noch verachtenswerter und die Sorge um die Demokratie und den liberalen Westen das, was uns alle bewegen muss.
Weil das auf Dauer kein abendfüllendes Programm ist, verlegt sich die Redaktion darauf, dieselben Gegner einfach noch einmal zu vermöbeln. Wenn ich mich nicht verzählt habe, gab es nach der Abstimmung über die Migrationspläne der CDU allein sechs Kommentare, weshalb Merz einen desaströsen Fehler begangen habe. Dass mitunter die Korrekturhinweise unter den Kommentaren fast so lang sind wie der Kommentar selbst, weil sich die Kommentatoren in ihrem Eifer über alle möglichen Fakten hinweggesetzt haben? Geschenkt. Es geht ja gegen die Richtigen.
Ginge es nur um den „Spiegel“, könnte man sagen: Nun ja, der „Spiegel“ halt. Aber ich sehe hier einen Trend. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es mit der Selbstabschottung eines journalistischen Milieus zu tun, das alles, was der eigenen Meinung widerspricht, einfach ausblendet – oder zum Werk von Feinden erklärt, denen man aus höheren Gründen trotzen müsse.
Wie sich die Dinge verschoben haben, sieht man bei dem, was für preiswürdig gehalten wird – und was nicht. Man kann aus der journalistischen Jurypraxis geradezu ein Gesetz ableiten: Wenn sich Teile der Berichterstattung als fragwürdig oder unwahr herausstellen, erhöht das eher die Chance auf eine Auszeichnung.
Wer erhielt den renommierten „Stern“-Preis für die „Geschichte des Jahres 2022“? Der „Spiegel“ für seinen Artikel „Warum Julian Reichelt gehen musste“ – und dabei blieb es auch, als sich wesentliche Vorwürfe der Hauptbelastungszeugin als frei erfunden erwiesen. Wer bekam die Auszeichnung für die „Geschichte des Jahres 2024“? Die „Süddeutsche“ für den Ursprungstext über den Fall Aiwanger, von dem selbst der „SZ“-Chefredakteur in einer Redaktionskonferenz gesagt hatte, das man das so im Nachhinein nicht hätte machen sollen.
Wer sind die „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2024“?: Das Team des Recherchenetzwerks „Correctiv“, dessen aufsehenerregende Reportage über die Remigrationspläne der AfD vor den Gerichten so zerpflückt wurde, dass man die Redaktion gerichtsfest der Unwahrheit bezichtigen darf. Funfact: Am Tag, als das „Medium Magazin“ die „Correctiv“-Mannschaft als Vorbild für die Branche auszeichnete, erklärte das Landgericht Berlin II die Bezeichnung „dreckige Lüge“ für den von ihr publizierten „Geheimplan“ als zulässig.
Wird sich etwas ändern? Ich habe wenig Hoffnung. Am Montag entschuldigte sich der „Spiegel“ bei seinen Lesern für den Abdruck des fehlerhaften Leserbriefs. Man habe ihn „depubliziert“. Das ist das Wort, auf das man sich redaktionsintern geeinigt hat. Es klingt nicht nur ungleich vornehmer als „gelöscht“ oder „entfernt“. In ihm schwingt auch die Suggestion mit, bei der Löschung handele es sich um eine souveräne Entscheidung der Redaktion.
Selbstverständlich saß die stellvertretende Chefredakteurin Melanie Amann, die am Wochenende die Depublizierung verfügt hatte, am Sonntag schon wieder bei „Caren Miosga“ – als „die einzig Unparteiische hier an diesem Tisch“, wie die Talkshow-Moderatorin die „Spiegel“-Frau vorstellte. Unparteiisch? Da muss nicht nur der „Spiegel“-Abonnent herzhaft lachen. Anderseits gilt bei Miosga jeder als unparteiisch, der sein Kreuz links der Mitte macht. Parteiisch sind immer die andern. So schließt sich der Kreis.
Weil nichts Konsequenzen hat, auch die haarsträubendsten Fehler nicht, gibt es auch keine Veranlassung, etwas zu ändern. Das Vertrauen der Leser erodiert, aber das ist ein anderes Thema. Damit beschäftigt man sich dann auf Podien, in denen man das sinkende Vertrauen in die Demokratie beklagt.
© Sören Kunz