Schlagwort: Migration

»Deutschland ist voll«

Wir wissen, wie man im rot-grünen Lager über das Stadtbild denkt (alles in Ordnung). Aber wie denken Menschen, von denen es auf den Demonstrationen heißt, sie müssten vor Friedrich Merz geschützt werden?

Nach der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen führte eine Redakteurin von „Stern TV“ eine Straßenumfrage unter Migranten zu ihrer politischen Haltung durch. Einer der Interviewten war ein junger Mann, der aus dem offenen Wagenfenster seines Mercedes bereitwillig Auskunft gab, Erscheinung und Akzent ließen auf einen türkischen Migrationshintergrund schließen. Es entspann sich folgender Dialog:

„Wen hast du gewählt?“

„AfD.“

„AfD?“

„Kanaken raus.“

„Aber mal ehrlich, hast du die AfD gewählt?“

„Natürlich.“

„Warum?“

„Warum nicht?“

„Und was gefällt dir an dem Wahlprogramm der AfD?“

„Kanaken raus.“

„Na, das meinst du ja nicht ehrlich. Du hast doch selbst Migrationshintergrund.“

„Ich bin hier geboren und aufgewachsen.“

„Und deine Eltern. Willst du, dass die rausmüssen?“

„Nee, die sind auch deutsche Staatsbürger. Ich meinte jetzt nur die Leute, die komplett Scheiße bauen.“

„Und findest du, es ist ein Widerspruch, dass du Migrationshintergrund hast und die AfD gewählt hast?“

„Nein. Hat jeder seine eigene Meinung.“

Einem ähnlichen Austausch konnten einige Monate zuvor bereits Zuschauer des WDR-Magazins „Westpol“ beiwohnen, die Szene fand ebenfalls über soziale Medien schnell Verbreitung. In dem Fall trat ein Redakteur des WDR auf zwei Männer an einer Dönerbude zu, um sie in ein Gespräch über die Spaltung der Gesellschaft zu verwickeln.

Früher sei mehr Zusammenhalt gewesen, eröffnete der Redakteur das Interview. Das Ruhrgebiet sei doch mal so weltoffen gewesen – Deutsche, Italiener, Türken: alle eine große Familie. Ob sie nicht auch der Meinung seien, dass die Dinge in die falsche Richtung liefen. „Ja, richtig“, stimmte einer der beiden Männer, die sich als Türken zu erkennen gaben, umgehend zu.

Kurze Pause. „Jetzt sind keine Deutschen mehr hier. Jetzt hast du nur Ausländer.“ Betrübter Blick. „Ist leider so“, pflichtete der andere Mann, traurig mit dem Kopf nickend, bei. „Ich bin Türke. Ich lebe seit 1974 hier in Deutschland. Muss ich ehrlich sagen: Schluss! Die Grenzen, die müssen zubleiben. Ist zu voll! Deutschland ist voll. Jetzt allgemein. Sie müssen zumachen, die Grenzen.“ Man konnte förmlich sehen, wie dem braven WDR-Mann beinah das Mikrofon aus der Hand fiel.

Wir wissen, wie man im rot-grünen Lager über das Stadtbild denkt (alles in Ordnung). Wir wissen auch, wie die Mehrheit der Deutschen die von Friedrich Merz angestoßene Diskussion sieht (Merz hat recht). Aber wie denken Menschen, von denen es auf den Demonstrationen heißt, sie müssten vor dem Kanzler geschützt werden?

Glaubt man den führenden Medienorganen, dann herrscht in der migrantischen Szene Beklemmung und Bestürzung. Uns werden Stimmen wie der Lungenfacharzt Cihan Celik präsentiert, der sich sorgt, was man jetzt wohl über ihn denkt, wenn er den Arztkittel abgelegt hat. Es wird von Polizisten und Krankenschwestern berichtet, die nicht mehr wissen, ob sie noch mitgemeint sind, wenn von Deutschland die Rede ist. Wir kennen diese Stimmen.
Wir vernehmen sie regelmäßig, wenn es um Fragen der Einwanderung geht. Aber wie repräsentativ sind sie?

Nehmen nur Deutsche ohne Migrationshintergrund eine Veränderung des Stadtbildes wahr? Bedauern nur diese Deutschen, dass Weihnachtsmärkte inzwischen besser gesichert sind als die russische Botschaft? Stören nur sie sich daran, wenn immer mehr Messerverbotszonen ausgewiesen werden, um die Zahl der Angriffe in den Griff zu bekommen? Lesen nur sie die Kriminalitätsstatistik, wonach der Anteil von Ausländern an schweren Straftaten überdurchschnittlich steigt?

In der Öffentlichkeit dominiert der Typus des Migranten, der bereits die Frage nach der Herkunft für eine Entgleisung hält und jeden Hinweis auf ein problematisches Verhalten unter Flüchtlingen als Angriff auf sich selbst. Für den Vertreter dieser Welt ist Deutschland nicht Heimat, sondern Albtraum, wie der Titel eines bekannten Buches lautet, eine im Kern rassistische Gesellschaft, die jeden, der als anders gelesen wird, wie das dort heißt, ausgrenzt und abwertet. Die Stadtbild-Debatte gilt als Beweis, dass alles noch viel schlimmer ist, als man angenommen hat.

Es spricht einiges dafür, dass man insbesondere in der türkisch-deutschen Community sehr viel differenzierter auf die Lage in deutschen Städten schaut, als die Berichterstattung vermuten lässt. Auch Türken lesen Zeitung. Auch Türken wissen, dass die Pali-Freunde, die auf den Straßen „Yallah Yallah Intifada“ krakeelen, nur deshalb so viel Zeit zum Rabatz haben, weil die Hälfte von Bürgergeld lebt. Auch sie sehen die Tunichtgute, die unter fadenscheinigsten Gründen Asyl beantragen und dann nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als sich dickezutun.

Umgekehrt schauen diese Leute auf die Demonstrationen, die in ihrem Namen stattfinden, und wissen, dass sie nichts, aber auch gar nichts mit den höheren Töchtern verbindet, die ihren Protest vor der CDU-Zentrale ausleben. Nur in Deutschland bringen es die besseren Stände fertig, für Vielfalt zu demonstrieren und dabei so einheitlich auszusehen, dass man meinen könnte, sie demonstrierten für eine Gesellschaft weiß wie ein Bettlaken.

Es war immer ein Missverständnis, Migranten umstandslos den Linken zuzuordnen. Bei der ersten Generation von Einwanderern mag es noch eine sentimentale Hinwendung zur Sozialdemokratie gegeben haben. Aber davon ist nicht mehr viel übrig. Wer Geschlechtertrennung und Kopftuch bevorzugt, dem sind rot-grüne Herzensanliegen wie der Kampf für mehr Transrechte und die Zerschlagung aller patriarchalen Strukturen eher schnuppe.

In Wahrheit hat sich in der migrantischen Welt ein Milieu erhalten, das allem Hohn spricht, was man auf linken Parteitagen als Errungenschaft feiert. Der Muskeltorso, den man in endlosen Stunden im Gym geformt hat, korrespondiert dabei mit der Sportwagen-Silhouette, die man praktischerweise gleich auf dem Gehweg parkt. Wenn von toxischem Verhalten die Rede ist, ob in Verbindung mit Männlichkeit oder der Bewegung im Stadtbild, wird das eher als Kompliment denn als Vorwurf verstanden.

Keine Ahnung, an wen die SPD denkt, wenn sie jetzt das Catcalling unter Strafe stellen will, wie Hinterherpfeifen heute heißt. Den Bauarbeiter jedenfalls, der die Lippen spitzt, wenn er eine hübsche Frau sieht, gibt es so nur noch im Film. Nach Lage der Dinge werden es eher junge, muslimisch gelesene Männer sein, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und nur in Ausnahmen Torben und Malte aus dem Kiezcafé.

Vielleicht liegt die wahre Herablassung darin, zu meinen, dass man besser als jeder Deutschtürke weiß, wie man sich als Zuwanderer fühlt. Zu glauben, man kenne alle Migranten, weil man zufällig über den Text eines Arztes gestolpert ist, der das schreibt, was man selber denkt: Das ist jedenfalls sehr viel rassistischer als die Frage, woher jemand stammt.

 

Kleine Paschas

65 Prozent der Schulleiter berichten von Fällen, in denen Lehrkräfte von Schülern bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Was geschieht an deutschen Schulen?

In einem Text über die Bergius-Schule in Berlin-
Friedenau bin ich an einem Satz hängen geblieben, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Bergius-
Schule hat es zu überregionaler Bekanntheit gebracht, seit sich das Lehrerkollegium in einem Brandbrief an die Schulaufsicht wandte.

Wie die Lehrer es schilderten, vergeht kein Tag ohne Beleidigungen und Bedrohungen. Auf dem Schulhof werden Böller gezündet und sowohl Schüler als auch Pausenaufsicht mit gefüllten Wasserflaschen beworfen. Regelmäßig muss die Polizei erscheinen, um die Lage zu beruhigen. Nach Bekanntwerden des Briefes machte ein Vorfall die Runde, bei dem sich ein Siebtklässler vor Jugendlichen, die ihn mit Messern und Schlagringen verfolgten, in einen angrenzenden Supermarkt flüchtete.

Zu den großen Defiziten der Schule gehöre die mangelnde Kooperation der Eltern, lautete der Satz, der mir in einer der Reportagen, die sich an den Lehrerbrief anschlossen, auffiel. Er habe Elternabende mit drei Teilnehmern erlebt, wurde ein Elternvertreter zitiert.

Ich habe mich dann an ein Gespräch erinnert, das ich vor einem halben Jahr mit einem Bekannten führte, der seine Kinder auf einem Gymnasium in Ottobrunn, einem sozial ebenfalls eher heterogenen Vorort von München, hat. Dort bietet sich ein ähnliches Bild: Die deutschen Eltern erscheinen fast alle zum Elternabend, um sich mit den Lehrkräften über den Schulalltag auszutauschen. Von den Eltern, die über einen sogenannten Migrationshintergrund verfügen, ist weit und breit nichts zu sehen.

Was ist da los? Ist es ihnen egal, wie ihre Kinder abschneiden? Haben Sie keine Zeit, den Elternabend zu besuchen? Sind sie verhindert?

Eigenartigerweise wird so gut wie nie über die Eltern gesprochen, wenn es um die deutsche Bildungsmisere geht. Wenn ein deutsches Elternpaar kein Interesse am Fortkommen seiner Kinder zeigt, löst das kritische Nachfragen aus. Wenn ein türkisches oder arabisches Elternpaar unsichtbar bleibt, wird darüber vornehm hinweggesehen. Oder es heißt entschuldigend: „Die haben sicher andere Probleme.“ Doch welche Probleme könnten das sein?

Die Befunde zum Bildungsstand sind verheerend. Bei den Pisa-Ergebnissen liegt Deutschland inzwischen eher auf dem Niveau eines Dritte-Welt-Landes als auf dem einer entwickelten Industrienation. Ein Viertel der Schüler kann 
auch nach Abschluss der neunten Klasse keinen geraden deutschen Satz schreiben. Jeder Dritte versagt beim Lösen einfacher Mathematikaufgaben.

Auf der Suche nach einer Erklärung, landet man schnell bei der sich verändernden Zusammensetzung der Schülerschaft. 40 Prozent der Kinder kommen heute aus Migrantenfamilien. In Kita und Schule sind wir das Einwanderungsland Nummer eins unter den OECD-Nationen, wie es der Bildungsredakteur der „Zeit“, Martin Spiewak, in einem aufschlussreichen Report über die pädagogische Ratlosig­keit angesichts der Vielfalt im Klassenzimmer festhielt. ­Leider ziehen wir daraus bis heute keine Schlüsse für den Bildungsauftrag. Wir tun einfach so, als ob alles so laufen würde wie vor 20 Jahren, als das deutsche Gymnasium noch der Goldstandard war.

Gibt es hervorragend ausgebildete Ärzte und Ingenieure, deren Eltern aus der Türkei, dem Libanon oder Syrien stammen? Natürlich gibt es die. Das Problem ist nur: Der Anteil ist gemessen am Bevölkerungsanteil viel zu gering.

Es sind in der Regel auch die Mädchen, die Karriere machen, nicht die Jungen. Ich sehe das Geschlechtergefälle in meinem Beruf. Im Journalismus setzen sich immer mehr Migrantenkinder durch, sie gewinnen Preise und besetzen Ressortleiterposten. Aber sie heißen so gut wie nie Omar oder Mustafa, sondern fast ausschließlich Fatma, Özlem und Ferda.

Woran das liegt? Ich würde vermuten 
am Elternhaus. Man soll ja nicht von „kleinen Paschas“ reden. Nennen wir sie deshalb „kleine Prinzchen“. Wenn ein 
Junge merkt, dass man ihm alles durchgehen lässt, weil er ein Junge ist, erlahmt die Leistungsbereitschaft. Wie soll es anders sein? Selbstverständlich sind es 
auch nie die Mädchen, sondern fast im
mer die Jungen, die wie an der Bergius-Schule über Tische und Bänke gehen.

Migration ist nicht gleich Migration, auch das gehört zum Bild. Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule 
in München besucht. In seiner Jahrgangsstufe waren Kinder aus Russland, der Ukraine, Israel, den Niederlanden. Schüler ohne Migrationshintergrund sind die Ausnahme. Ein Mädchen tut sich bis heute mit dem Lesen schwer, sie hat Legasthenie. Alle andern haben selbstverständlich keine Probleme beim Diktat. Auch Futur 1 und Futur 2 bilden sie mühelos.

Sind die Klassenkameraden meines Sohnes intelligenter als ihre muslimischen Altersgenossen? Das glaube ich nicht. Wenn die Lehrerin zum Elternabend bittet, sind alle da, auch die Eltern der Kinder, die orthodox aufwachsen. Selbstverständlich achtet jeder darauf, dass die Hausaufgaben erledigt sind und die Kleinen nicht den ganzen Tag ihre Köpfe über das iPad beugen.

Man zeige mir eine einzige muslimische Grundschule in Deutschland, deren Schüler regelmäßig bei Leistungswettbewerben unter den Top-zehn-Prozent landen, und ich schweige forthin für immer.
Alle wissen, dass es wahr ist. Deshalb setzt ja zum Beginn des Schuljahres in vielen Großstädten auch eine stille Völkerwanderung aus Vierteln ein, in denen der Migrantenanteil besonders hoch 
ist. Nicht weil die Eltern von Finn und 
Louisa nicht wollen, dass ihr Sohn 
oder ihre Tochter neben Omar und 
Fatima sitzen. Sondern weil sie genau wissen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter erhebliche Nachteile erleiden, wenn die Hälfte der Klasse aus Kindern besteht, die 
auch nach Abschluss der vierten Klasse kaum lesen und schreiben können.

Vor zwei Wochen hat das Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden herausgegeben, wie sich Lehrer bei Attacken zu Wehr setzen können. Es ist ein Dokument der Kapitulation. „Entfernen Sie sich aus der Gefahrenzone“, lautet ein Ratschlag. „Verlassen Sie das Gesichtsfeld des Angreifers, vermeiden Sie jede Eskalation.“

Wie bei der Gelegenheit zu erfahren war, berichten 65 Prozent der Schulleiter von Fällen, in denen Lehrkräfte bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Das sind irre Zahlen. Man sollte meinen, dass sie die Schlagzeilen dominieren, aber niemand scheint Notiz zu nehmen.

Ich habe die Osterferien wie jedes Jahr in Marokko verbracht. Was mir immer auffällt, wenn ich dort bin: wie höflich die Kinder sind. Hier käme kein 14-Jähriger auf die Idee, sich gegenüber einer Lehrkraft unziemlich zu verhalten oder gar die Hand gegen sie zu erheben. Und wenn er es tut, dann weiß er, was ihm blüht.

Was also ist zu tun? Der Bildungsredakteur Spiewak verweist auf Hamburg, wo man den Lehrplan angepasst hat. Deutsch wird jeden Tag in Gruppen geübt, im Chor, zu zweit, allein still vor sich hin. Deutsch ist nicht alles, aber ohne Deutschkenntnisse ist alles nichts.

Vermutlich müssen wir auch dazu kommen, dass man die Eltern stärker in die Pflicht nimmt. Wer nicht zum Elternabend erscheint, erhält eine Aufforderung von der Schule. Wer darauf nicht reagiert, bekommt Besuch vom Schulleiter. Und dort, wo ein Jugendlicher seine ­Lehrer bedroht hat, schaut die Polizei vorbei. Gefährder­ansprache nennt man das im Polizeijargon.

Die kleine Völkerwanderung, die sich jedes Jahr zum Schulbeginn in deutschen Großstädten vollzieht, gibt es mittlerweile auch im größeren Maßstab. 276 000 Bürger haben im vergangenen Jahr Deutschland den Rücken gekehrt, weil sie ­fanden, dass der Staat zu wenig bietet für das Geld, das er einem abnimmt.

Wir sollten Sorge tragen, dass sich der Trend nicht beschleunigt. Es sind nämlich in der Regel nicht die Müh­seligen und Beladenen, die das Land verlassen, sondern die Cleveren und Gutausgebildeten.

© Michael Szyszka

Der Tabubruch

Erst spricht Cem Özdemir darüber, wie seine Tochter von migrantischen Männern begafft und angegangen wird. Dann berichtet Kevin Kühnert über Anfeindungen durch muslimische Männergruppen. Bricht ein Damm?

Ein Minister schreibt einen Text zu einem wahlentscheidenden Thema. Er berichtet über persönliche Erlebnisse. Er schildert, wie ihn seine 18-jährige Tochter mit Erfahrungen, die ganz andere sind als seine, zum Nachdenken gebracht hat. Es ist ein ruhiger, abgewogener Text, der um die richtigen Worte ringt. Dann bricht der Sturm los.

Der Politiker wird als Rassist und Sexist beschimpft, ein namhafter Professor nennt ihn „ein Gesicht der völkischen Wende“. Man bezichtigt den Minister, den Rechtsruck in Deutschland zu verstärken und damit die Angst von Millionen von Migranten.

Was ist sein Verbrechen, was hat der Mann geschrieben? Er hat sich das Recht herausgenommen, darauf hinzuweisen, dass es beim Thema Einwanderung nicht nur ein Problem mit Rechtsradikalen gibt, die keine Fremden dulden wollen, sondern auch mit jungen muslimischen Männern, die Deutschland und seine Regeln verachten.

„Meine Tochter macht im nächsten Jahr ihr Abitur. Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden“, schrieb der Autor, Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, in einem Gastbeitrag für die „FAZ“.

„Gegen solche Übergriffe hat sie sich, wie viele Frauen, das sprichwörtliche dicke Fell zugelegt. Doch ich spüre, wie sie das umtreibt. Und wie enttäuscht sie ist, dass nicht offensiver thematisiert wird, was dahintersteckt: die patriarchalen Strukturen und die Rolle der Frau in vielen muslimisch geprägten Ländern.“

An der Aufregung über diese Zeilen lässt sich ermessen, welcher Tabubruch es ist, wenn ein Politiker aus der Phalanx derjenigen ausschert, die sagen, dass nie die Zuwanderer, sondern immer nur die Mehrheitsgesellschaft das Problem sei. Schon die Überschrift empfanden viele als Provokation. „Sprache, Arbeit und Gesetzestreue“, stand über dem Text. Das reichte, um Özdemir vorzuwerfen, er stelle sich nach rechts, wie es in einem Kommentar in der „taz“ anklagend hieß.

Ja, was denn sonst, möchte man rufen: Ist es etwa nicht wünschenswert, wenn die Leute, die dauerhaft bei uns leben wollen, die deutsche Sprache erlernen, einer geregelten Arbeit nachgehen und sich an die Gesetze halten? Aber so kann man das offenbar nur außerhalb der engen „taz“-Welt sehen.

Ich dachte, wir wären weiter. Ich ging davon aus, es gäbe inzwischen auch im linken Lager ein Problembewusstsein. Ich habe mich wohl getäuscht.

Bloß nicht genauer hinsehen, lautet die Devise, sonst hilft man den Falschen. Was nicht ins Weltbild passt, wird zum „Narrativ“ erklärt, also zur Fiktion. Die Offenheit von Leuten wie Özdemir bediene „rechte Narrative“, lautet ein gängiger Vorwurf. Wo alles zur Erzählung wird, löst sich die Wirklichkeit auf – was den Erzählfluss stört, lässt man einfach unter den Tisch fallen. Das ist ja der Vorteil der Fiktion, sie folgt dem Willen des Erzählers.

Das Verrückteste dabei ist: Die Leute, für die man sich in die Bresche wirft, haben es vor allem auf Menschen abgesehen, die im Zweifel grün wählen. Wen verachtet der syrische Scharia-Anhänger am meisten? Den katholischen Reaktionär, der findet, dass der eigentliche Platz einer Frau bei den Kindern sei? Eher nicht. Es ist kein Zufall, dass sich der Täter von Solingen ein Volksfest aussuchte, das als „Festival der Vielfalt“ beworben wurde. Nichts hassen islamistische Messermänner mehr als Vielfalt, also genau das, worauf man im rot-grünen Milieu so stolz ist.

Ich glaube, man kann diese Verdrängung nur psychopathologisch erklären. Aus der Forschung kennt man auch das Phänomen von Frauen, die sich in Verbrecher verlieben. Je schlimmer die Tat, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter im Gefängnis Liebesbriefe erhält.

Worauf man sich hingegen jederzeit einigen kann: dass Männer an sich ein Problem seien. So flötet es aus dem Blätterwald. So erklärt es die Familienministerin, wenn sie dazu Stellung nehmen soll, dass ein Syrer in Essen insgesamt 31 Menschen verletzte, weil er über die Trennung von seiner Frau nicht hinwegkam. Wäre man Spötter, würde man sagen, dass es eher selten vorkommt, dass Yannick und Finn zur Machete greifen. Aber schon so eine Anmerkung ist geeignet, einen in Teufelsküche zu bringen.

Das seien Stereotype, heißt es. Klar, was sonst? Aber es ist das Wesen eines Stereotyps, dass es eben nicht ganz falsch ist. Wäre es ganz falsch, hätte es sich nicht etablieren können. Selbstverständlich träumen nicht alle afghanischen Männer von einer Frau als Haussklavin. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie davon träumen, ist erkennbar höher als bei Jungs, die einem normalen deutschen Mittelschichtshaushalt entstammen.

Wer nicht genau hinsehen mag, dem fällt auch nichts ein, was man besser machen kann. Entsprechend unbeholfen fallen die Empfehlungen aus. Die Männer sollten in sich gehen und an sich arbeiten, stand neulich allen Ernstes in einem viel beachteten Text im „Spiegel“. Ich dachte erst, das sei Satire – bis ich feststellte, dass die Autorin das wirklich so meinte.

In sich gehen und an sich arbeiten? Ich sehe den jungen Talahon vor mir, wie er sich sagt: „Ich habe diesen aufrüttelnden Text im ‚Spiegel‘ gelesen. Ich weiß jetzt, welches Unglück ich und meine Geschlechtsgenossen über den weiblichen Teil der Welt bringen. Ich muss wirklich mal an mir und meiner toxischen Männlichkeit arbeiten.“ So wird es kommen, da bin ich ganz sicher.

Besonders unnachsichtig reagiert das Milieu auf Abweichler aus den eigenen Reihen. In einem verrückten Twist geht es jetzt auch gegen migrantische Frauen, die sich die Nachstellungen durch muslimische Männer nicht länger gefallen lassen wollen. Die Studentin Ninve Ermagan hat beschrieben, auf welche Ablehnung sie stößt, wenn sie von unangenehmen Erfahrungen berichtet. Das ist umso verblüffender, wenn man bedenkt, wie ungnädig gerade im linken Milieu normalerweise auf jede Grenzüberschreitung im Geschlechterverhältnis reagiert wird. Aber in diesem Fall: grenzenlose Toleranz.

Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, weiß, vor wem er sich vorsehen muss und vor wem nicht. Schwulen Männern zum Beispiel muss man nicht lange erklären, wo es angeraten ist, sich in der Öffentlichkeit besser unauffällig zu verhalten.

Der Illustrator dieser Kolumne lebt in Köln-Kalk, einem stark migrantisch geprägten Viertel. Er hat sich vorgenommen, die Sehgewohnheiten zu ändern, wie er sagt, das sei sein Beitrag zur Vielfalt. Also zieht er sich hin und wieder Strumpfhose an und stöckelt durch sein Quartier, vorbei an den Döner-Läden und Shisha-Bars. Bislang ist nichts passiert. Ein paar spöttische Bemerkungen, das war’s. Aber wir waren uns einig, dass es Mut braucht, so aufgetakelt durch die Gegend zu staksen.

Mal sehen, wie lange der Schweige-Damm hält. Wenige Tage nach Cem Özdemir meldete sich der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zu Wort. Dabei kam die Sprache auch auf die Anfeindungen, denen er als schwuler Mann von muslimischen Männergruppen ausgesetzt ist. „Natürlich ist der Großteil der Muslime in meinem Wahlkreis nicht homophob. Aber die, die es sind, schränken meine Freiheit ein und haben kein Recht darauf. Und darüber werde ich nicht aus taktischen Gründen schweigen.“

Mag sein, dass Kühnert offen sprach, weil er wusste, dass er ein paar Tage später von allen Ämtern zurücktreten würde. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, dass er einfach die Nase voll hatte, weiter aus Rücksicht auf die Krakeeler am linken Rand den Mund zu halten.

Wenn man sich zweimal überlegen muss, ob man mit seinem Partner Hand in Hand durch die Stadt geht, ist das nicht mehr das Land, für das man als Politiker angetreten war. Wie Cem Özdemir in der „FAZ“ schrieb: Etwas hat sich verändert.

© Michael Szyszka

„Ihr spinnt ja wohl völlig?“

Vergessen Sie alles, was Sie über den richtigen Umgang mit Migranten gelernt haben. Fragen Sie ruhig, wo jemand herkommt. Was Sie tun und sagen, ist ohnehin falsch und kann gegen Sie ausgelegt werden

Wie nennt man einen Deutschen, dessen Familie seit Urzeiten in Deutschland lebt? Eingeborener, Kartoffel, Biodeutscher? Die „Zeit“ hat sich für „Urdeutscher“ entschieden. Riesenfehler!

Lange hat es nicht mehr so bei den Kollegen in Hamburg reingeregnet. Was sie sich nicht alles anhören mussten: Sie seien von allen guten Geistern verlassen. Sie würden rechte Strömungen befeuern. Typischer Entsetzensschrei: „Ihr spinnt ja wohl völlig!“

Was die „Zeit“ geschrieben hatte? Diese drei Zeilen auf Twitter: „Integration war gestern: Deutschland ist das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt und die Urdeutschen dürften auf absehbare Zeit zu einer numerischen Minderheit unter vielen werden. Und nun?“

Okay, es war nicht nur das Wort „Urdeutsche“. Es war auch die Bebilderung des Tweets: drei junge, bärtige Männer im BMW-Cabrio, erkennbar nichtdeutschen Ursprungs, der Mann am Steuer mit Handy in der Hand. Wobei: Was heißt schon „erkennbar nichtdeutschen Ursprungs“? Da beginnt das Problem. Irgendwie sind wir ja alle Zuwanderer. Kaum jemand wird seine Ahnenreihe auf Arminius zurückführen können. Und kamen nicht sogar die Vorfahren von Arminius aus Afrika? Eben.

So schallte es jetzt auch den Redakteuren in Hamburg entgegen. Und überhaupt: Die Übernahme der deutschen Gesellschaft durch junge Migranten, das sei doch exakt der Plot jeder rechten Verschwörungstheorie.

Krisensitzung beim Social-Media-Team der „Zeit“. Dann Korrektur: Statt der drei jungen Männer nun das Foto von zwei ukrainischen Frauen. Sieht doch gleich viel freundlicher aus, haben sie sich vermutlich in Hamburg gedacht. Nix da, das Netz kann erbarmungslos sein: „Was zur Hölle, ‚Zeit‘?“, lautete die Reaktion.

Also neuer Versuch. Dieses Mal ein anderer Text. „Früher vertraute Heimat – dann kamen die Anderen. Die Homogenität der 1950er ist bis heute Fixpunkt vieler Einwanderungsdebatten. Dabei gehört Migration seit Jahrhunderten zu Deutschland.“ Welche Homogenität die Redakteure denn meinten, wurde daraufhin gefragt: „Millionen ermordeter Juden, Millionen Displaced Persons, Millionen Vertriebene. An welche ‚vertraute Heimat‘ denken Sie?“

Dritter Anlauf, Kniefall. „Die Wortwahl war missverständlich. Der Text handelt davon, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland statistisch bald nicht mehr in der Minderheit sein könnten.“ Also habe man sich entschieden, den Tweet zu löschen. Kommentar der aufgebrachten Mitleser dieses Mal: „Es wird nicht besser. Jeder hier in Deutschland hat eine ‚Einwanderungsgeschichte‘. Bei den einen liegt sie zwei, bei den anderen zweihundert Jahre zurück.“

Wir sind beim Thema Migration auf der Stufe des „Mindfuck“ angelangt. Wenn schon eine Redaktion, in der nur Leute arbeiten, die garantiert die besten Ansichten und Absichten haben, in Teufelsküche kommt, weil sie sich nicht korrekt genug ausdrückt, wie sollen sich dann erst Leute zurechtfinden, die nicht den lieben langen Tag darüber nachdenken können, wie sich das Verhältnis von Urdeutschen, sorry, von Kartoffeln zu Nichtkartoffeln am besten beschreiben lässt?

„Kartoffel“ geht übrigens, falls Sie jetzt stutzen, das ist von höchster Stelle geklärt. Als die Beauftragte der Bundesregierung für Antidiskriminierung Ferda Ataman noch Kolumnistin beim „Spiegel“ war, hat sie einen Text geschrieben, warum das Wort in Ordnung sei. Auch das gehört zu den überraschenden Wendungen der Debatte.

Manchmal habe ich den Verdacht, es geht bei allem darum, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Migrationsexperten am Laufen zu halten. Ich habe neulich mit einem Kollegen darüber gesprochen, womit all diese Nervensägen ihr Geld verdienen, die offenbar nichts anderes zu tun haben, als andere bei einem Fehltritt zu erwischen. Täusch dich nicht, sagte er, der Bedarf an Beratern, die einem sagen können, wie man durch die Untiefen der neuen Willkommenskultur kommt, ist riesig. Ich würde mir keine Vorstellungen machen, wie groß der Markt für sogenannte Diversity-Trainings sei.

So gesehen trifft es sich gut, dass alles, was man eben gelernt hat, morgen schon obsolet sein kann. Das ist wie mit dem eingebauten Verfallsdatum bei Glühbirnen: Nach dem Diversitätskurs ist vor dem Diversitätskurs.

Waren wir uns nicht zum Beispiel einig, dass man Menschen nicht mehr fragt, wo sie herkommen? Ich erinnere mich, wie sich über Elke Heidenreich ein Empörungssturm entlud, weil sie in einer Talkshow erzählt hatte, dass sie selbstverständlich Taxifahrer, die so aussähen, als kämen die Eltern nicht aus Wuppertal oder Wanne-Eickel, danach fragen würde, wo sie herkämen. Tagelang tobte das Twitter-Gewitter.

Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman hat selbst ein Buch dazu geschrieben, wie leid sie es sei, immer wieder auf ihre Herkunft angesprochen zu werden. „Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!“, heißt es. Und nun? Nun empfiehlt dieselbe Frau Unternehmenschefs, eine „Bestandsaufnahme“ bei den Angestellten zu machen, wo wer herkomme.„Häufig wird Diversität noch mit Frauenförderung gleichgesetzt“, erläuterte sie ihren Vorschlag im „Handelsblatt“. „Vielfalt heißt aber auch, Menschen mit unterschiedlicher sexueller Identität, Religion oder Herkunft in den Blick zu nehmen.“

Der kleine Text in der „Zeit“ hat auch deshalb so viel Empörung ausgelöst, weil er auf eine Wirklichkeit hinwies, die normalerweise ausgeblendet wird. Wenn die Grünen an Einwanderung denken, dann denken sie an die junge Frau mit Migrationshintergrund, die eine Kolumne in der „taz“ unterhält und bei der Böll-Stiftung beredt über den latenten Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft referiert.

„Deutschland wird sich ändern, und zwar drastisch, und ich freue mich darauf“, lautet ein berühmter Satz von Katrin Göring-Eckardt. Ich frage mich inzwischen, für wen die Veränderung wohl drastischer ausfällt: für die deutsche Mehrheitsgesellschaft oder für die Grünen. Ob Katrin Göring-Eckardt schon mal einen Fuß nach Neukölln gesetzt hat? Oder an den Ku’damm, wo sich die Jugend trifft, für die das Auto nicht Untergangssymbol, sondern Freiheitsversprechen ist?

Peter Richter hat in der „Süddeutschen“ gerade eine Meditation über die jungen Männer mit Vollbart angestellt, deren Maskulinität mit der muskulösen Silhouette ihrer Sportwagen korrespondiert. „Immer lautet die Regel nach dem Einparken: erst mal zehn, zwanzig Meter mit breiten Beinen weggehen, dann umdrehen, mit hoch erhobenem Schlüssel, klick, unter Auforgeln aller Lampen den AMG per Funk abschließen, anschließend noch ein wenig mit seligen Blicken über Kotflügel und Diamond-Grill streicheln.“

Auch Bräuche wie das Wagenrennen oder das lustvolle Drehen hochtouriger Boliden auf der Autobahn zum Auftakt einer Hochzeitsfeier sind kaum mit den strengen CO₂-Vorgaben der „Letzten Generation“ vereinbar. Richter schließt seine Betrachtung mit der zutreffenden Beobachtung ab, dass die Autoenthusiasten vom Ku’damm um einiges diverser aufgestellt sein dürften als die recht homogen rötlich blonden Vertreter der Klimaszene.

Ich bin viel in arabischen Ländern unterwegs gewesen, ich mag die Menschen dort. Man findet noch einen Familienzusammenhalt, eine Höflichkeit gegenüber Fremden und einen Respekt vor dem Alter, die bei uns weitgehend verloren gegangen zu sein scheinen. Ich habe auch kein Problem mit offensiv zur Schau gestellter Männlichkeit. Ich fürchte nur, dass in Deutschland nicht alle auf diese eher traditionelle Welt vorbereitet sind.

Mein Rat: Vergessen Sie alles, was Sie über den richtigen Umgang mit Migranten gelernt haben. Fragen Sie ruhig, wo jemand herkommt. Die meisten Menschen, die nicht im Diversity-Geschäft sind, finden nichts dabei und geben gerne Auskunft.

Fleischhauer Kolumne Heft 24 2023

© Michael Szyszka