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Sagen, wie es ist

Wir werden regelmäßig über die Gefahr des antimuslimischen Rassismus belehrt. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, wenn jemand einen Migrationshintergrund hat

In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien Mitte Mai ein unerhörter Text, der bis heute erstaunliche Nachwirkungen zeitigt. Vor wenigen Tagen erst musste die Berliner Schulsenatorin bekennen, nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Wäre man nicht in Berlin, würde man an der Eignung der Frau zweifeln.

Der Text schildert das Schicksal des Berliner Lehrers Oziel Inácio-Stech, eines besonders engagierten Pädagogen, wie Kollegen bezeugen. Inácio-Stech unterrichtete an der Carl-Bolle-Grundschule im Berliner Bezirk Moabit Kinder mit besonderem Förderbedarf. Die Carl-Bolle-Grundschule gilt als Brennpunktschule, 95 Prozent der Schüler haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Es war der ausdrückliche Wunsch des Lehrers, an dieser Schule zu unterrichten. Er wollte die Welt ein Stück besser machen, wie er sagt.

Nach allem, was man weiß, war Inácio-Stech bei seinen Schülern anerkannt und beliebt. Das änderte sich schlagartig, als in einer Unterrichtsstunde die Frage aufkam, mit wem er denn verheiratet sei, und er wahrheitsgemäß sagte, mit einem Mann. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Inácio-Stech wurde beschimpft und bedroht. Schüler bezeichneten ihn als Schwuchtel. Er sei eine Familienschande und eine Schande für den Islam. Wohlgemerkt, wir reden nicht von 17-Jährigen, die vor Kraft nicht laufen können, sondern von Fünftklässlern.

Der Bericht war auch deshalb unerhört, weil er mit einem Tabu brach. Eine Reportage über einen schwulen Mann, dem muslimische Kinder das Leben zur Hölle machen? Das ist normalerweise nicht das, was man auf den Seiten der „Süddeutschen“ zu lesen bekommt. Wenn Probleme mit Zuwanderern aus Ländern wie dem Libanon oder Afghanistan geschildert werden, dann in der Regel so, dass man anschließend sagt: Nicht schön, aber die haben’s ja auch nicht leicht.

Der Text enthält eine zweite Geschichte, die beinah noch düsterer ist. Diese Geschichte handelt vom Versagen der Schulleitung. Man sollte meinen, dass der bedrängte Pädagoge sofort Hilfe bekam. Mobbing gilt im Schulalltag gemeinhin als schweres Vergehen. Aber nichts da. Tatsächlich wurde Inácio-Stech alleingelassen.

Mehr noch: Die Schulleitung bezichtigte ihn, Grenzen nicht gewahrt zu haben. Die Schule werde „von überdurchschnittlich vielen Kindern aus traditionellen Elternhäusern“ besucht, erklärte der Personalrat. Er möge sein pädagogisches Konzept bitte der „sozialen Ausgangsvoraussetzung“ an der Carl-Bolle-Grundschule anpassen.

Die Schulaufsicht belehrte ihn „vorsorglich“, dass man von ihm einen „professionellen Umgang mit Schülerinnen und Schülern“ erwarte. Dazu gehöre „die Vermittlung einer offenen und nicht diskriminierenden Weltanschauung“. Das klang so, als seien die Schüler belästigt worden, als ihr Lehrer bekannte, schwul zu sein – und nicht der Lehrer durch die Schüler.

Was bringt eine Schulleitung dazu, sich gegen eine Lehrkraft zu stellen, der erkennbar Unrecht geschah? In jedem Mobbing-Seminar würde man von Täter-Opfer-Umkehr sprechen. Der Fall hat inzwischen auch politische Weiterungen. Auf Nachfrage erklärte die Schulsenatorin, von den Vorgängen nichts gewusst zu haben, gleichlautend äußerte sich ihre Behörde. Ende letzter Woche, als diese Version nicht länger haltbar war, teilte sie in einer „persönlichen Erklärung“ mit, doch informiert gewesen zu sein.

Ich musste an den Fall der Grooming-Gangs denken, der in England hohe Wellen schlägt. In einer Reihe von englischen Kleinstädten konnten pakistanische Männer minderjährigen Mädchen über Jahre ungehindert nachstellen. Die Mädchen, oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen, wurden mit Drogen gefügig
gemacht und zu sexuellen Handlungen gezwungen. Alle Hinweise auf den systematischen Missbrauch versickerten bei den Behörden oder wurden aus Angst, als rassistisch zu gelten, ignoriert.

Wir werden regelmäßig über die Gefahr eines antimuslimischen Rassismus belehrt. Eine eigene Meldestellen-Infrastruktur ist pausenlos damit beschäftigt, offene und verborgene Diskriminierung aufzuspüren. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, weil jemand über einen Migrationshintergrund verfügt.

Ich glaube, die meisten Menschen sind durchaus in der Lage zu differenzieren. Wenn sie vom Fehlverhalten Einzelner hören, folgt daraus nicht automatisch, dass sie alle in Mithaftung nehmen. Das ist übrigens die Definition von Rassismus: vom Verhalten einiger Missetäter auf die gesamte Gruppe zu schließen.

Aber viele Journalisten trauen ihren Lesern dieses Differenzierungsvermögen nicht zu. Deshalb werden große Anstrengungen unternommen, dem Publikum die Herkunft vorzuenthalten. Das trägt mitunter kuriose Züge. Dann ist vage von einer Hochzeitsgesellschaft die Rede, die mit einem Autokorso die A 8 blockiert habe. Was denken sich die Redakteure, die solche Meldungen absetzen? Dass die Leser nicht eins und eins zusammenzählen können? Unter Deutschstämmigen ist der Autokorso als Ausdruck der Begeisterung eher ungebräuchlich.

Die „Spiegel“-Redakteurin Anna Clauß hat im Februar ebenfalls einen unerhörten Text veröffentlicht. „Neulich überkam es mich wieder. Dieses Unbehagen Migranten gegenüber. Gefolgt von einem Schreck über das plötzlich aufgetauchte rechtskonservative Gedankengut in meinem Kopf“, so fängt der Text an.

Clauß schilderte dann, dass der muslimische Freund ihres Sohnes nicht zum Kindergeburtstag erschienen sei. Seine Eltern hätten es auch nicht für nötig befunden abzusagen. Es folgte eine Beobachtung aus der Kita, wo die Leitung Schweinefleisch vom Speiseplan genommen habe, und das Bekenntnis, konservativer zu denken, seit der Sohn mit Paschasprüchen aus der Grundschule nach Hause komme und der Mutter vorhalte, sie sei „ehrlos“.

Weil wir beim „Spiegel“ sind, endete der Text mit einem Loblied auf die Bereicherung durch fremde Kulturen. Auf der nächsten Redaktionskonferenz war trotzdem die Hölle los. Clauß wurde vorgeworfen, Vorurteile gegen Minderheiten zu befördern. Ein besonders aufgeregter Redakteur verstieg sich zu der Anklage, sie würde das Leben von migrantischen Menschen gefährden.

Ein paar Kollegen versicherten ihr später, sie sähen es wie sie, aber die Botschaft war gesetzt: Wer sich öffentlich so äußert wie Clauß, muss damit rechnen, vor versammelter Mannschaft gekielholt zu werden. Deshalb ist auch im „Spiegel“ so selten von Problemen die Rede, die sich nicht mit einem grünen Sozialprogramm aus der Welt schaffen lassen.

Ich bin sicher, dass viele Leser den inkriminierten Text ganz anders gelesen haben. Sie haben ihn als Bestätigung verstanden, dass sie mit ihrem Blick auf die Welt nicht allein stehen. Das Unbehagen, von dem Clauß schrieb, erfüllt viele Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt gehen.

Was ist zu tun? Mein Vorschlag wäre: sagen, wie es ist. Eine Gesellschaft, die es vorzieht, unangenehme Dinge auszublenden, wahrt oberflächlich den Frieden. Aber das endet wie in jeder dysfunktionalen Familie: Irgendwann kommt das Verdrängte hoch, und dann wird es sehr schnell sehr hässlich.

Kleine Paschas

65 Prozent der Schulleiter berichten von Fällen, in denen Lehrkräfte von Schülern bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Was geschieht an deutschen Schulen?

In einem Text über die Bergius-Schule in Berlin-
Friedenau bin ich an einem Satz hängen geblieben, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Bergius-
Schule hat es zu überregionaler Bekanntheit gebracht, seit sich das Lehrerkollegium in einem Brandbrief an die Schulaufsicht wandte.

Wie die Lehrer es schilderten, vergeht kein Tag ohne Beleidigungen und Bedrohungen. Auf dem Schulhof werden Böller gezündet und sowohl Schüler als auch Pausenaufsicht mit gefüllten Wasserflaschen beworfen. Regelmäßig muss die Polizei erscheinen, um die Lage zu beruhigen. Nach Bekanntwerden des Briefes machte ein Vorfall die Runde, bei dem sich ein Siebtklässler vor Jugendlichen, die ihn mit Messern und Schlagringen verfolgten, in einen angrenzenden Supermarkt flüchtete.

Zu den großen Defiziten der Schule gehöre die mangelnde Kooperation der Eltern, lautete der Satz, der mir in einer der Reportagen, die sich an den Lehrerbrief anschlossen, auffiel. Er habe Elternabende mit drei Teilnehmern erlebt, wurde ein Elternvertreter zitiert.

Ich habe mich dann an ein Gespräch erinnert, das ich vor einem halben Jahr mit einem Bekannten führte, der seine Kinder auf einem Gymnasium in Ottobrunn, einem sozial ebenfalls eher heterogenen Vorort von München, hat. Dort bietet sich ein ähnliches Bild: Die deutschen Eltern erscheinen fast alle zum Elternabend, um sich mit den Lehrkräften über den Schulalltag auszutauschen. Von den Eltern, die über einen sogenannten Migrationshintergrund verfügen, ist weit und breit nichts zu sehen.

Was ist da los? Ist es ihnen egal, wie ihre Kinder abschneiden? Haben Sie keine Zeit, den Elternabend zu besuchen? Sind sie verhindert?

Eigenartigerweise wird so gut wie nie über die Eltern gesprochen, wenn es um die deutsche Bildungsmisere geht. Wenn ein deutsches Elternpaar kein Interesse am Fortkommen seiner Kinder zeigt, löst das kritische Nachfragen aus. Wenn ein türkisches oder arabisches Elternpaar unsichtbar bleibt, wird darüber vornehm hinweggesehen. Oder es heißt entschuldigend: „Die haben sicher andere Probleme.“ Doch welche Probleme könnten das sein?

Die Befunde zum Bildungsstand sind verheerend. Bei den Pisa-Ergebnissen liegt Deutschland inzwischen eher auf dem Niveau eines Dritte-Welt-Landes als auf dem einer entwickelten Industrienation. Ein Viertel der Schüler kann 
auch nach Abschluss der neunten Klasse keinen geraden deutschen Satz schreiben. Jeder Dritte versagt beim Lösen einfacher Mathematikaufgaben.

Auf der Suche nach einer Erklärung, landet man schnell bei der sich verändernden Zusammensetzung der Schülerschaft. 40 Prozent der Kinder kommen heute aus Migrantenfamilien. In Kita und Schule sind wir das Einwanderungsland Nummer eins unter den OECD-Nationen, wie es der Bildungsredakteur der „Zeit“, Martin Spiewak, in einem aufschlussreichen Report über die pädagogische Ratlosig­keit angesichts der Vielfalt im Klassenzimmer festhielt. ­Leider ziehen wir daraus bis heute keine Schlüsse für den Bildungsauftrag. Wir tun einfach so, als ob alles so laufen würde wie vor 20 Jahren, als das deutsche Gymnasium noch der Goldstandard war.

Gibt es hervorragend ausgebildete Ärzte und Ingenieure, deren Eltern aus der Türkei, dem Libanon oder Syrien stammen? Natürlich gibt es die. Das Problem ist nur: Der Anteil ist gemessen am Bevölkerungsanteil viel zu gering.

Es sind in der Regel auch die Mädchen, die Karriere machen, nicht die Jungen. Ich sehe das Geschlechtergefälle in meinem Beruf. Im Journalismus setzen sich immer mehr Migrantenkinder durch, sie gewinnen Preise und besetzen Ressortleiterposten. Aber sie heißen so gut wie nie Omar oder Mustafa, sondern fast ausschließlich Fatma, Özlem und Ferda.

Woran das liegt? Ich würde vermuten 
am Elternhaus. Man soll ja nicht von „kleinen Paschas“ reden. Nennen wir sie deshalb „kleine Prinzchen“. Wenn ein 
Junge merkt, dass man ihm alles durchgehen lässt, weil er ein Junge ist, erlahmt die Leistungsbereitschaft. Wie soll es anders sein? Selbstverständlich sind es 
auch nie die Mädchen, sondern fast im
mer die Jungen, die wie an der Bergius-Schule über Tische und Bänke gehen.

Migration ist nicht gleich Migration, auch das gehört zum Bild. Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule 
in München besucht. In seiner Jahrgangsstufe waren Kinder aus Russland, der Ukraine, Israel, den Niederlanden. Schüler ohne Migrationshintergrund sind die Ausnahme. Ein Mädchen tut sich bis heute mit dem Lesen schwer, sie hat Legasthenie. Alle andern haben selbstverständlich keine Probleme beim Diktat. Auch Futur 1 und Futur 2 bilden sie mühelos.

Sind die Klassenkameraden meines Sohnes intelligenter als ihre muslimischen Altersgenossen? Das glaube ich nicht. Wenn die Lehrerin zum Elternabend bittet, sind alle da, auch die Eltern der Kinder, die orthodox aufwachsen. Selbstverständlich achtet jeder darauf, dass die Hausaufgaben erledigt sind und die Kleinen nicht den ganzen Tag ihre Köpfe über das iPad beugen.

Man zeige mir eine einzige muslimische Grundschule in Deutschland, deren Schüler regelmäßig bei Leistungswettbewerben unter den Top-zehn-Prozent landen, und ich schweige forthin für immer.
Alle wissen, dass es wahr ist. Deshalb setzt ja zum Beginn des Schuljahres in vielen Großstädten auch eine stille Völkerwanderung aus Vierteln ein, in denen der Migrantenanteil besonders hoch 
ist. Nicht weil die Eltern von Finn und 
Louisa nicht wollen, dass ihr Sohn 
oder ihre Tochter neben Omar und 
Fatima sitzen. Sondern weil sie genau wissen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter erhebliche Nachteile erleiden, wenn die Hälfte der Klasse aus Kindern besteht, die 
auch nach Abschluss der vierten Klasse kaum lesen und schreiben können.

Vor zwei Wochen hat das Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden herausgegeben, wie sich Lehrer bei Attacken zu Wehr setzen können. Es ist ein Dokument der Kapitulation. „Entfernen Sie sich aus der Gefahrenzone“, lautet ein Ratschlag. „Verlassen Sie das Gesichtsfeld des Angreifers, vermeiden Sie jede Eskalation.“

Wie bei der Gelegenheit zu erfahren war, berichten 65 Prozent der Schulleiter von Fällen, in denen Lehrkräfte bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Das sind irre Zahlen. Man sollte meinen, dass sie die Schlagzeilen dominieren, aber niemand scheint Notiz zu nehmen.

Ich habe die Osterferien wie jedes Jahr in Marokko verbracht. Was mir immer auffällt, wenn ich dort bin: wie höflich die Kinder sind. Hier käme kein 14-Jähriger auf die Idee, sich gegenüber einer Lehrkraft unziemlich zu verhalten oder gar die Hand gegen sie zu erheben. Und wenn er es tut, dann weiß er, was ihm blüht.

Was also ist zu tun? Der Bildungsredakteur Spiewak verweist auf Hamburg, wo man den Lehrplan angepasst hat. Deutsch wird jeden Tag in Gruppen geübt, im Chor, zu zweit, allein still vor sich hin. Deutsch ist nicht alles, aber ohne Deutschkenntnisse ist alles nichts.

Vermutlich müssen wir auch dazu kommen, dass man die Eltern stärker in die Pflicht nimmt. Wer nicht zum Elternabend erscheint, erhält eine Aufforderung von der Schule. Wer darauf nicht reagiert, bekommt Besuch vom Schulleiter. Und dort, wo ein Jugendlicher seine ­Lehrer bedroht hat, schaut die Polizei vorbei. Gefährder­ansprache nennt man das im Polizeijargon.

Die kleine Völkerwanderung, die sich jedes Jahr zum Schulbeginn in deutschen Großstädten vollzieht, gibt es mittlerweile auch im größeren Maßstab. 276 000 Bürger haben im vergangenen Jahr Deutschland den Rücken gekehrt, weil sie ­fanden, dass der Staat zu wenig bietet für das Geld, das er einem abnimmt.

Wir sollten Sorge tragen, dass sich der Trend nicht beschleunigt. Es sind nämlich in der Regel nicht die Müh­seligen und Beladenen, die das Land verlassen, sondern die Cleveren und Gutausgebildeten.

© Michael Szyszka