Monat: April 2020

Der ewige Lockdown

Der Ausnahmezustand wurde gerade erst gelockert, und schon droht die Kanzlerin, die Deutschen wieder einschließen zu lassen, wenn sie sich nicht zu benehmen wissen. Das sei unausweichlich, sagt sie. Ist es das?

Der Chef des Kanzleramts, Helge Braun, hat der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” ein Interview gegeben. Darin führte er aus, wie er und die Kanzlerin auf die Lage im Land sehen. Oberstes Ziel sei es, die Zahl der Corona- Infizierten zu senken, sagte er. „Dahinter steht die Wirtschaft erst mal einen großen Schritt zurück.” In der Krise finde der Mensch zu sich selbst, heißt es. Das gilt im Zweifel auch für Parteien und Regierungen.

Wen meint der deutsche Kanzleramtschef, wenn er von „der Wirtschaft” spricht? Offensichtlich nicht Sie und mich, sonst hätte er ja davon gesprochen, dass wir alle für das Ziel, der Senkung des Krankenstands, zurücktreten müssten. Vielleicht denkt Helge Braun an das Geschwisterpaar Quandt und seine BMW-Anteile. Oder die Familienunternehmer, die ihn mit ihr en Sorgen bestürmen, weil ein Viertel vor dem Konkurs steht.

Mir ist der Satz nicht mehr aus dem Kopf gegangen. So sieht die Bundesregierung also auf Deutschland (oder vielleicht sollte man besser sagen, der entscheidungsrelevante Teil der Regierung): Hier stehen wir, der Staat, das Gemeinwesen, die Gesellschaft – dort steht die Wirtschaft, die nicht richtig dazugehört und auch nie richtig dazugehören wird. Es ist ein Denken, wie ich es aus dem Gemeinschaftskunde- Unterricht der Oberstufe erinnere. Der Gemeinschaftskunde- Lehrer hieß Randolf Retzlaff und war DKP-Mitglied, was mich insofern beeindruckte, als eine Mitgliedschaft in der DKP Ende der siebziger Jahre bei Lehrern noch ernste Konsequenzen nach sich ziehen konnte.

Ich habe mir den Lebenslauf von Helge Braun angesehen. In den Zeitungen steht, er sei Arzt. Das klingt vertrauenerweckend, gerade in der jetzigen Zeit. Ich würde allerdings eher davon absehen, mich bei ihm in Behandlung zu begeben.

Wenn ich es richtig sehe, hat Braun nie wirklich als Mediziner gearbeitet. Schon ein Jahr nach Abschluss des Studiums wechselte er als Abgeordneter in den Bundestag. Zwischenzeitlich war er noch mal wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni-Klinik in Gießen, vorübergehend hatte er sein Mandat verloren. 2009 kehrte er dann ins Parlament zurück, wo er seitdem für die CDU sitzt.

Man kann es auch anders ausdrücken: Die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen, die Helge Braun und seine Chefin verfügen, werden ihn selbst nie betreffen. Der Berufspolitiker wird niemals Kurzarbeitergeld beantragen müssen, er ist auch nicht von Arbeitslosigkeit bedroht. Seine Rente ist sicher, komme, was da wolle.

Ist es unfair, auf die Versorgungslage der politischen Entscheidungsträger hinzuweisen? Ich finde nicht. Wer nachts nicht in den Schlaf kommt, weil ihn die Schulden drücken, sieht anders auf die Lage der Wirtschaft als jemand, der weiß, dass ihm finanziell nichts passieren kann. Sehen Sie es mir nach, aber für mich bestimmt nach wie vor das Sein das Bewusstsein, da halte ich es mit meinem alten DKP-Lehrer Retzlaff.

Es gibt die Willkür der Macht. Es gibt die Arroganz der Macht. Es gibt auch die Arroganz der wohlmeinenden Macht. Wir sind in der ersten Woche seit der vorsichtigen Öffnung des Ausnahmezustands, und schon werden wir ermahnt, dass man uns die Freiheiten wieder entziehen müsse, wenn wir uns nicht stärker am Riemen reißen. „Wenn ihr euch nicht benehmt, schicke ich euch wieder in den Lockdown.” Das war die Botschaft der Kanzlerin ans Volk, nachdem sie sich zuvor schon in kleiner Runde über unsinnige „Lockerungsdiskussionsorgien” beklagt hatte.

Sie hat es etwas anders gesagt. „Ein erneuter Shutdown wäre bei erneutem exponentiellem Wachstum unvermeidlich”, waren ihre Worte. „Unvermeidlich” ist ein typisches Merkel-Wort, sozusagen das epidemiologische Äquivalent zu „alternativlos”. Am Anfang ihrer Karriere hat sich für die Kanzlerin der Spitzname „Mutti” eingebürgert, das war immer schon Unsinn. Merkel ist keine Mutti. Sie ist die strenge Internatsleiterin, die aufpasst, dass keiner aus der Reihe tanzt. Sie kann dabei auch lächeln. Man sollte sich von ihrem Lächeln nur nicht täuschen lassen.

Wenn es nach Angela Merkel ginge, könnte der Ausnahmezustand ruhig noch etwas länger anhalten. Endlich kann sie so regieren, wie sie es für richtig hält. Es gibt keine lästigen Fraktionssitzungen mehr, in denen ohnehin die falschen Leute das große Wort führen. Es gibt keine Opposition, die den Namen verdient, und kein richtiges Parlament, auf das sie Rücksicht nehmen müsste. Stattdessen kann sie sich jetzt den ganzen Tag mit Wissenschaftlern austauschen, was ihr schon immer das Liebste war.

Pressekonferenzen unter Corona? Ein Spaziergang. Die Kanzlerin steht vorne am Pult, die Journalisten einzeln vor ihr aufgereiht in sicherem Abstand. Wenn doch mal einer eine kesse Frage wagt, sagt sie: Sorry, aber wir tun nur das, was uns die Wissenschaft sagt. Ich verstehe Merkel, wenn sie nicht darüber nachdenken möchte, den Ausnahmezustand zu schnell zu beenden.

Die Kanzlerin wird allenthalben für ihre umsichtige, sachliche Art gerühmt. Das Gedächtnis ist in der Krise zum Glück kurz. Es ist vier Wochen her, dass ihr Gesundheitsminister vor die Presse trat und von der „Ruhe vor dem Sturm” sprach. Dann hieß es, die Situation sei beherrschbar geworden. Jetzt hören wir, dass die Lage extrem fragil sei, ja dass uns das Schlimmste möglicherweise erst bevorstehe.

Ich weiß nicht, wie man solches Vorgehen in der Psychologie nennt. Schocktherapie? Manche Menschen stumpfen allerdings ab, wenn sie in kurzer Zeit zu viele schlechte oder widersprüchliche Nachrichten erhalten. Die Psychologen sprechen in dem Fall von Desaster Fatigue.

Wie wäre es zur Abwechslung damit: Statt den Bürgern damit zu drohen, sie alle wieder einzuschließen, könnte man dafür sorgen, dass die naheliegenden Dinge funktionieren, die Entwicklung einer Daten-App zum Beispiel. Wir wissen aus Südkorea und Taiwan, dass die Zusammenführung von Bewegungsdaten bei der Beherrschung der Pandemie eine zentrale Rolle spielt.

Nach allem, was man lesen kann, gerät der Versuch hierzulande gerade zum Desaster. Die beteiligten Wissenschaftler zerstreiten sich über Details des Datenschutzes und tragen ihre Händel auf Twitter aus, darunter auch die Experten des bundeseigenen Helmholtz-Zentrums. Dazu habe ich noch kein Wort der Kanzlerin gehört. Dabei würde eine Ermahnung hier möglicherweise segensreich wirken, wer weiß.

Unvermeidlich? Das wird man noch sehen. Seuchenschutz bietet den Autoritäten zum Schutz der Allgemeinheit weitreichende Handhabe. Der Seuchenschutz erlaubt zum Beispiel, einem Hühnerbauern unter Missachtung sämtlicher Freiheits- und Eigentumsrechte sofort den Betrieb dichtzumachen, wenn sich Anzeichen eines Grippe- Ausbruchs bei seinem Federvieh zeigen. Jetzt hat man über Nacht 83 Millionen Deutsche in den Hühnerstall gesteckt und die Tür verrammelt. Das ist auch rechtspolitisch ein einzigartiges Experiment.

Wenn man die Kommentare von Verfassungsrichtern liest, spürt man in jeder Zeile das Unbehagen angesichts der dürftigen Rechtsgrundlage. Die langjährige Richterin am Bundesverfassungsgericht, Gertrude Lübbe-Wolff, hat in einem Beitrag für die FAZ darauf hingewiesen, dass alle freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, die einen Ausbruch des Virus lediglich in die Zukunft verlegen, sinnend damit auch rechtswidrig seien. „Aktionen, mit denen drohende katastrophische Entwicklungen im Wesentlichen nur vom März in spätere Monate verschoben würden, sind nicht zu rechtfertigen”, schrieb sie.

Die einzige Lösung, die demnach der Verfassung entspräche, wäre ein Shutdown, der das Virus zum Verschwinden bringt. Der nächste Shutdown müsste also sehr, sehr lange andauern. Deshalb mein Rat: Verärgern Sie die Kanzlerin nicht. Ziehen Sie sich die Maske an und halten ordentlich Abstand!

Rhetorik der Angst

Es gibt ein neues Wort für Leute, die jetzt zu viel Freiheit verlangen. Man spricht von Corona-Leugnern. Darunter fallen auch alle, die die Zahlen der Regierung in Zweifel ziehen. Oder die Einhaltung von Verfassungsrechten anmahnen

Neunzig Prozent der Deutschen sind mit den von der Politik verfügten Ausgangsbeschränkungen einverstanden, hat eine Umfrage ergeben. Mich hat diese Zahl aufhorchen lassen. Sie hat mich auch ein wenig erschreckt. Wann hatten wir in Deutschland zuletzt Zustimmungswerte von 90 Prozent? Das haben nicht einmal Bismarck oder der „Führer“ geschafft, soweit ich das sehe, geschweige denn eine demokratisch gewählte Regierung.

Neunzig Prozent sind also dafür, dass man in Bayern zwischenzeitlich kein Buch in der Öffentlichkeit lesen durfte, ohne dass man in Konflikt mit der Ordnungsmacht geriet? Dass jeder, der in Brandenburg in einem Kanu auf einen See hinauspaddelt, angehalten und zurück ans Ufer eskortiert wird? Dass man in Hamburg nur noch zu sechst um ein Grab stehen darf, weil das die gesetzlich vorgeschriebene Größe der Trauergemeinschaft ist?

Wahrscheinlich ist es eine Déformation professionnelle, aber immer, wenn die Mehrheiten zu groß werden, bekomme ich ein Gefühl der Beklemmung. Mir wird unheimlich, wenn sich zu viele Leute einig sind. Ich würde nicht so weit gehen, aus Prinzip das Gegenteil zu vertreten. Es wäre kindisch, nur aus Trotz eine abweichende Position einzunehmen. Aber ich finde, man sollte sich zumindest auf die Möglichkeit einstellen, dass man die Dinge auch ganz anders sehen kann. Das erweitert den Horizont. Manchmal verhindert es sogar Fehlentscheidungen.

Im Augenblick läuft die Diskussion so: Alle schauen auf die Kanzlerin. Wenn die Kanzlerin sagt, dass es zu früh sei, über eine Lockerung des Ausnahmezustands nachzudenken, lautet der Konsens, dass es zu früh sei, über Lockerungen nachzudenken. Wenn die Kanzlerin zu erkennen gibt, dass sie es für angebracht hält, über eine graduelle Rückkehr zur Normalität zu reden, heißt es, eine graduelle Rückkehr sei möglich. Aber Vorsicht: nicht zu viel auf einmal davon!

Schon offene Freude über gute Nachrichten trägt einem Tadel ein. Als vergangene Woche der Bonner Virologe Hendrik Streeck Zahlen präsentierte, denen zufolge die Pandemie weniger tödlich verläuft als befürchtet, konnte man lang und breit lesen, warum die Studie womöglich nicht allen wissenschaftlichen Standards genüge. Es gibt geradezu eine Lust an der düsteren Zahl. Wer auf die sinkende Kurve der Neuinfektionen verweist, wird ermahnt, dass er falsche Hoffnungen wecke. Hoffnung sei schädlich, heißt es. Wenn die Leute Hoffnung hätten, würden sie nachlässig.

Wir verfügen über ganze Enzyklopädien zum mündigen Bürger, in jeder Sonntagsansprache gebührt ihm der Ehrenplatz. Aber wenn es ernst wird, vertraut die Politik doch lieber auf die schwarze Pädagogik. Mit dem Menschen im Lockdown verhält es sich wie mit einem trockenen Alkoholiker: eine Unvorsichtigkeit, und alles, was in mühsamer Arbeit erreicht wurde, ist verloren.

Oder wie es die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli formulierte: „Jede Lockerung setzt voraus, dass wir bleibende Einschränkungen absolut befolgen. Freiheit kommt in kleinen Schritten zurück oder gar nicht. Jede Party jetzt wirft uns alle zurück.“ Deshalb können Lockerungen auch nur auf Bewährung zugestanden werden. Wenn sich die Bevölkerung der Freiheiten nicht würdig erweist, die man ihr gewährt, ist es schnell wieder vorbei mit der Großzügigkeit. Dann heißt es eben: oder gar nicht!

Es gibt schon ein neues Wort für Leute, die zu viel Freiheit auf einmal verlangen. Man spricht von Corona-Leugnern. Niemand bestreitet die Existenz des Virus, nicht einmal der Corona-Leugner. Das ist mit dem Wort auch nicht gemeint. Gemeint sind Leute, die im Kopf Party machen, indem sie die Zahlen der Regierung in Zweifel ziehen. Oder auf Widersprüche in der Argumentation hinweisen. Oder wie die Schriftstellerin Juli Zeh die Einhaltung von Verfassungsrechten anmahnen.

Auf dem Journalismus liegt naturgemäß ein besonderes Augenmerk. Mit einem der landesweit bekanntesten Corona-Leugner, dem Publizisten Jakob Augstein, habe ich vergangene Woche einen Podcast gestartet. Er heißt „The Curve“, nach der Ansteckungskurve, die es zu senken gilt.

Ich hatte alle mögliche Kritik erwartet: dass wir zu oberflächlich seien, zu unoriginell, zu wenig ernsthaft angesichts des ernsten Themas. Aber der Einwand, der kam, war viel grundsätzlicher. Er lautete, dass wir uns als Journalisten mit einem Thema befassen würden, das man besser den Experten überlassen sollte. Das Argument wurde ausgerechnet von einem der bekanntesten Medienkritiker des Landes, Stefan Niggemeier, vorgetragen. Ich hätte verstanden, wenn ein Mediziner oder ein Mathematiker den Einwand formuliert hätte. Aber ein Journalist?

Die Rhetorik der Angst kennt keine Fragen, nur Antworten. Ihr Sujet ist das Absolute, ihre Grammatik die der Verfügung. Wer abwägt oder nach der Verhältnismäßigkeit d er an geordneten Maß – nahmen fragt, setzt sich dem Vorwurf aus, es mit d er Mor al nicht so genau zu nehmen. Er wolle wohl Wirtschaftsdaten gegen Menschenleben aufrechnen, heißt es dann. Dabei müsste man aus meiner Sicht im Gegenteil viel mehr fragen und abwägen.

Es werden jetzt verschiedene Modelle erwogen. Eines sieht vor, dass man alles tut, um die Alten und Schwachen zu schützen. Das klingt christlich. Aber hat jemand die Alten und Schwachen gefragt, ob sie wirklich alle den maximalen medizinischen Schutz wollen? Ist es nicht vorstellbar, dass viele Menschen ab einem gewissen Alter finden, dass ein Leben in der Selbstisolation es nicht wert ist, dass man dafür nahezu alles an sozialer Begegnung opfert?

An dieser Stelle erlaube ich mir eine ganz persönliche Einschätzung. Am Mittwoch vergangener Woche ist mein Vater in einem Altenheim in Hamburg gestorben. Er war 90 Jahre alt. Das Ende hatte sich seit einigen Wochen angekündigt, dennoch blieb meinem Bruder und mir keine Gelegenheit mehr, uns von ihm zu verabschieden.

Das Altenheim lässt seit März keine Verwandtenbesuche mehr zu, um die Bewohner nicht zu gefährden. Nur für meine Mutter wurde eine Ausnahme gemacht. Ich bin dafür dankbar. Auch wenn mein Vater in den letzten Monaten nicht mehr alles mitbekam, was um ihn herum geschah, so spürte er doch, wenn jemand von uns im Raum war. Es würde mich sehr quälen, wenn ich wüsste, dass er völlig vereinsamt gestorben wäre.

Ich habe Verständnis für die Quarantänebestimmungen.

Natürlich frage ich mich manchmal, ob eine Verlängerung des Lebens um einige Wochen oder Monate den Preis wert ist, den man dafür entrichten muss. Aber so ist es nun einmal entschieden worden. Außerdem sind nicht alle im Heim so alt, wie mein Vater es war. Jeder trifft für sich eine andere Risikoabwägung.

Ich habe nur einen Wunsch. Ich will nicht mehr hören, dass ich gut reden hätte. Meine Familie hat ihren Preis für die Einhaltung der Corona-Regeln bezahlt, würde ich sagen. Ich weiß im Gegensatz zu manchen, die auf der Kanzel stehen und über den Wert des Lebens predigen, was es heißt, wenn der Schutz desselben absolut gesetzt wird.

Umfragen sind trügerisch. Angeblich wünscht sich eine Mehrheit, dass die Ausgangsbeschränkungen bis in den Mai hinein verlängert werden. 16 Prozent hätten sogar gern noch strengere Regeln. Gleichzeitig zeigt die Auswertung der Bewegungsdaten von Handys, dass immer mehr Bürger die Ausgangsbeschränkungen missachten oder umgehen.

Mein Eindruck ist, dass viele denken, der Staat werde es schon richten. Wenn sich herumzusprechen beginnt, dass auch der eigene Arbeitsplatz in Gefahr ist, wird die Regierung plötzlich daran gemessen werden, was sie zur Rettung der Wirtschaft getan hat. Wir haben das in der Flüchtlingskrise gesehen: Dieselben Leute, die gestern noch die Willkommenskultur begrüßten, sind morgen oft die Ersten, die eine striktere Grenzpolitik fordern.

Wie tödlich ist das Virus?

Die Regierung sagt, sie folge bei ihren Entscheidungen zum Ausnahmezustand der Zahl der Neuinfektionen. Das klingt wissenschaftlich und rational. Leider weiß nur niemand, wie viele Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infiziert sind

Es sei zu früh, über eine Lockerung des Ausnahmezustands nachzudenken, hat die Bundeskanzlerin gesagt. Ist es zu früh? Und wann wäre der richtige Zeitpunkt gekommen? Angela Merkel hat einen Hinweis gegeben, was sie für opportun hält. Sie hat gesagt, dass man über eine schrittweise Rückgabe der Freiheitsrechte an den Bürger nachdenken könne, wenn sich die Zahl der Neuinfektionen nur noch alle zwölf Tage verdoppeln würde. Besser sei im Abstand von 14 Tagen. Vor drei Wochen, als die Regierung den Ausnahmezustand über Deutschland verhängte, lag die Verdoppelungsrate bei vier Tagen. Anfang der Woche war man bei zehn angekommen.

Zwölf Tage klingt nach einem Wert, an dem man sich orientieren kann, etwas Greifbarem, woran sich Erfolg oder Misserfolg der angeordneten Maßnahmen messen lassen. Die Zahl nimmt den Entscheidungen der Regierung die Willkürlichkeit, deshalb hat sie Kanzleramtschef Helge Braun noch einmal ausdrücklich wiederholt. Seht her, soll das heißen: Wir handeln streng rational und im Einklang mit dem, was die Forschung uns sagt.

Das klingt beruhigend. Man sollte nur nicht den Fehler machen, genauer nachzufragen, wie die Zahlen, auf denen die Entscheidungen der Regierung basieren, zustande kommen. Ich lese fast alles, was man zu dem Thema finden kann. Ich sehe mir jeden Tag die Reproduktionsraten des Virus an. Ich will alles wissen und verstehen. Aber je mehr ich lese, desto mehr Fragen stellen sich mir. Man sollte meinen, dass die Wissenschaft den Verlauf der Pandemie mit jedem Tag genauer einschätzen kann, aber selbst über Grundsätzliches herrscht nach wie vor Unklarheit. Die Wahrheit ist: Je näher man herantritt, desto uneinheitlicher wird die Stimme der Forschung.

Nehmen wir die Fallzahl, die man im Kanzleramt zur entscheidenden Größe erkoren hat. Als ich diese Zeilen schreibe, haben sich knapp 100 000 Menschen in Deutschland am Corona-Virus angesteckt. Das ist d er Wert, den das Robert Koch-Institut nennt. Das Exakte erweckt immer Vertrauen. Mathematik ist immun gegen Meinungen, Vorlieben o der Interessen, das macht sie so überzeugend. Doch das, was uns als Zahl der Infizierten genannt wird, ist nicht die Zahl derjenigen, die sich mit dem Virus angesteckt haben. Es sind die Infizierten, von denen man weiß, dass sie infiziert sind. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Tatsächlich lässt sich aus der Tatsache, dass die Zahl der Infizierten steigt, noch nicht einmal ein Rückschluss auf die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus ziehen. Es spricht einiges dafür, dass sich die Geschwindigkeit beschleunigt, wenn die Zahl der erkannten Virusträger stark zunimmt. Aber genau weiß man es nicht, weil ständig die Bezugsgrößen geändert werden. Oder man die Kontrolle verschärft.

Mitte März vervierfachte sich binnen zwei Wochen die Zahl der vom Covid-19-Virus Befallenen. In derselben Zeit hatten allerdings die Gesundheitsämter ihre Testkapazitäten deutlich ausgeweitet, wie aus einer dieser Tage veröffentlichten Auswertung hervorgeht. Außerdem war man dazu übergegangen, den Kreis der Getesteten noch stärker auf Leute zu beschränken, bei denen es ein en begründeten Verdacht gab, dass sie sich mit dem Coronavirus angesteckt hatten. Beides hat einen erheblichen Einfluss auf die Fallzahlen. Es ist wie mit der Kriminalitätsstatistik: Je mehr Polizei man auf die Straße schickt, desto mehr Kriminalität findet man. Das ist nahezu unweigerlich so.

Ein Kollege berichtet mir von seinem Bruder, der in Süddeutschland einen großen Handwerksbetrieb unterhält. Der Bruder hat 15 Angestellte. Fünf sind erkrankt, vermutlich an Corona. Alle zeigen die typischen Symptome, aber wirklich weiß man es nicht. Der Bruder hat sich testen lassen, nachdem er nichts mehr roch. Er hatte Chlorreiniger bestellt, um seine Werkstatt zu säubern, und dachte erst, sie hätten ihn beschwindelt und ihm Wasser verkauft, bis er darauf kam, dass der Geruchsverlust ein Symptom der neuen Krankheit sein könnte.

Ebenfalls positiv getestet: ein Mitarbeiter, den es so heftig erwischt hat, dass er ins Krankenhaus musste. Für die andern gilt: Selbstdiagnose und Selbstquarantäne. Auch die Familienangehörigen, die vermutlich ebenfalls infiziert sind, haben nie einen Arzt gesehen. Das heißt, in diesem Fall haben wir: zwei positiv Getestete sowie mutmaßlich zehn bis zwölf Menschen, die sich mit Covid-19 angesteckt haben, die aber nie in einer Statistik auftauchen werden, schon gar nicht in der des Robert Koch-Instituts.

Es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass die Zahl der tatsächlich Infizierten deutlich unterschätzt wird. Aus Dänemark kam Anfang der Woche die Nachricht, dass man in 27 von 1000 Blutproben, die man einer Stichprobe unterzog, Antikörper entdeckt hat. Die Stichprobe gilt als repräsentativ genug, um daraus einen Rückschluss auf den Durchseuchungsgrad der dänischen Bevölkerung zu ziehen.

Rechnet man die Zahl auf Deutschland hoch, würde das bedeuten, dass in Wahrheit bereits über zwei Millionen Bürger infiziert sind. Das wäre dann das 22-Fache der offiziell ausgewiesenen Zahl. Da beide Länder beim Verlauf der Pandemie nicht weit auseinanderliegen, ist die Annahme nicht so unplausibel. Man weiß, dass gut die Hälfte der Infizierten keine Symptome zeigt und den Virus deshalb unwissentlich weiterträgt. Das macht Sars- CoV-2, wie das Virus korrekt heißt, ja auch so flink.

Was bedeutet das für die Sterberate? Enorm viel. Es bedeutet zum Beispiel, dass die Letalität des Virus möglicherweise deutlich geringer ist als von vielen Experten vermutet. Auch wenn die Zahl derjenigen, die am Virus sterben, der Zahl der Neuinfektionen deutlich hinterherhinkt, läge die Todesrate eben nicht, wie derzeit von der WHO angegeben, bei 3,4 Prozent, sondern eher zwischen 0,1 und 0,5 Prozent.

Einer der Epidemiologen, die schon lange vermuten, dass das Virus weniger tödlich verläuft als angenommen, ist John Ioannidis von der Stanford University. Ioannidis verweist auf zwei Beispiele, die seine Argumentation stützen. Das eine ist die „Diamond Princess“, die im Februar wegen eines Corona- Ausbruchs zwei Wochen lang vor der Küste Japans festlag. Das Kreuzfahrtschiff ist ein nahezu perfektes Studienmodell, da hier eine geschlossene Gesellschaft dem Virus ausgesetzt war.

Von den insgesamt 3711 Passagieren erkrankten 697, was einer Infektionsrate von 20 Prozent entspricht. Sieben starben an den Folgen der Infektion, die Mortalität lag damit bei einem Prozent. Stellt man in Rechnung, dass die „Diamond Princess“ sehr viele ältere Passagiere an Bord hatte, und unterstellt stattdessen die normale Altersstruktur einer Gesellschaft wie den USA, sinkt die Letalitätsrate der Rechnung des Stanford-Virologen weiter, und zwar auf einen Wert zwischen 0,025 und 0,625 Prozent.

Ein anderes Beispiel, das Ioannidis anführt, ist Island, wo sich die Bevölkerung einem freiwilligen Test unterzog, der nahe an eine zufallsbasierte Stichprobe herankommt. Aus den Daten geht hervor, dass sich zum Erhebungstag 3500 Isländer, also rund ein Prozent der Bevölkerung, mit dem Virus angesteckt hatten. Bis zum 30. März war, neben einem Touristen, eine Isländerin an Covid-19 gestorben. Inzwischen sind, ausweislich der weltweiten Statistik der Johns-Hopkins-Universität, vier Tote hinzugekommen. Auch hier liegt die Sterblichkeitsrate also nicht dramatisch viel höher als bei einer schweren Grippewelle.

Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, ich wüsste es besser als die Virologen des Robert Koch-Instituts. Ich habe Philosophie und Literaturgeschichte studiert, nicht Medizin. Ich will Sie nur dafür sensibilisieren, dass die aus Berlin kommenden Zahlen eine Gewissheit ausstrahlen, die keine ist.

Der einzige Weg, sich über die Tödlichkeit des Coronavirus Klarheit zu verschaffen, führt über Stichproben. In regelmäßigen Abständen wird eine repräsentative Gruppe von Menschen untersucht, ob sie sich angesteckt hat. Dann vergleicht man das Ergebnis mit den bereits vorliegenden Zahlen. Nur so lassen sich einigermaßen verlässliche Prognosen treffen.

In München ist jetzt erstmals ein solcher Feldversuch initiiert worden. Mit ersten Ergebnissen wird im Mai gerechnet, deutlich nach den Osterferien.

Brauchen wir einen Untersuchungsausschuss?

Regelmäßig werden Katastrophenschutzübungen abgehalten. Ganze Stäbe sind in den Ministerien mit dem Ernstfall beschäftigt. Und jetzt bricht alles zusammen, weil vergessen wurde, genug OP-Masken zur Seite zu legen?

Ich habe am vergangenen Wochenende „The Looming Tower“ auf Amazon gesehen. Di e Serie handelt von den Agenten bei CIA und FBI, die es in der Hand gehabt hätten, die Anschläge vom 11. September zu verhindern, die sich aber gegenseitig so misstrauten, dass sie lieber einander bekämpften als den Feind aus den afghanischen Bergen.

In der letzten Folge der Serie sitzt Richard Clarke, der oberste Sicherheitsberater des Präsidenten, vor der Untersuchungskommission, die das Versagen aufarbeiten soll. Vor ihm waren lauter Leute an der Reihe, die beteuerten, dass sie alles getan hätten, um die Katastrophe abzuwenden. „Your government failed you. Those entrusted with protecting you failed you. And I failed you“, beginnt Clarke seine Zeugenaussage: „Die Regierung hat Sie im Stich gelassen. Diejenigen, die mit Ihrem Schutz beauftragt sind, haben Sie im Stich gelassen. Ich habe Sie im Stich gelassen.“

Wird es auch bei uns in zwei Jahren eine Untersuchungskommission geben, die der Frage nachgeht, wie es dazu kommen konnte, dass Deutschland so schlecht auf die Corona-Krise vorbereitet war? Wird dann jemand aus der Regierung dort sitzen, der bekennt, dass man nicht das getan hat, was man hätte tun müssen?

Wir hören, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben. Wir kennen inzwischen alle die Zahl der Intensivbetten und der Beatmungsgeräte, an die die Unglücklichen angeschlossen werden, die keine Luft mehr bekommen. Wir lesen, dass ganze Stationen freigeräumt wurden, um sich auf den Ansturm der Infizierten vorzubereiten.

Aber wenn man den Berichten aus Praxen und Krankenhäusern glauben kann, dann werden die Menschen in der ersten Welle nicht sterben, weil es an Beatmungsgeräten und Intensivbetten fehlt. Sie werden sterben, weil es nicht genug Atemschutzmasken, Kittel und Handschuhe für die Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger gibt, um sich zu schützen.

Was kostet eine einfache Maske? Zu normalen Zeiten drei bis sechs Cent im Einkauf. Ein Kittel, wie man ihn im Umgang mit Patienten benötigt, ist etwas teurer, aber er kostet ebenfalls nichts im Vergleich mit einem Beatmungsgerät, wie es die Firma Drägerwerk nun im Akkord herstellt. Man kann das böse Ironie nennen: Das beste Gesundheitssystem der Welt geht in die Knie, weil jemand vergessen hat, rechtzeitig genug Schutzmasken zur Seite zu legen.

Es ist nicht so, dass man nicht hätte gewarnt sein können. Regelmäßig werden in Deutschland Katastrophenschutzübungen abgehalten. In den Innen- und Gesundheitsministerien sind ganze Stäbe damit betraut, für den Ernstfall zu planen. Im Jahr 2010 spielten 3000 Experten durch, was passiert, wenn Deutschland von einer verheerenden Grippewelle getroffen wird. „Wir gehen davon aus, dass diese Pandemie früher oder später kommt“, sagte damals der Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, Christoph Unger.

Was haben die Verantwortlichen in der Regierung gedacht, wie eine Pandemie verläuft? Dass sich immer nur so viele Menschen anstecken, wie es die Bestände erlauben? Oder dass es ein Land nach dem anderen trifft, sodass man jederzeit genug in China nachbestellen kann? Einige meinen, jetzt zeige sich, wie kaputtgespart das Gesundheitssystem sei. Die Gesundheitsausgaben haben sich seit 1992 von 159 Milliarden Euro auf 387 Milliarden im Jahr 2018 verdoppelt, das sind mehr als eine Milliarde Euro am Tag. Kaputtsparen stelle ich mir anders vor.

Man kann auch nicht erwarten, dass ein Land Tausende Intensivbetten nur für den Fall bereithält, dass man es mit einem Virus zu tun bekommt, bei dem sich die Zahl der Infizierten alle drei Tage verdoppelt. Aber dass genug Kleidung für das medizinische Personal auf Lager ist: Darauf sollte man eigentlich vertrauen können. Wir schreiben jedem Kreditinstitut vor, wie viel Eigenkapital es bereithalten muss, um für eine Krise gewappnet zu sein. Ist es zu viel verlangt, Krankenhäuser aufzufordern, sich einen Vorrat an Schutzmaterial anzulegen, der über zwei Wochen hinausreicht?

Die Bettelbriefe der Ärztekammern schwanken zwischen Wut und Verzweiflung. In Spanien sind sie jetzt dazu übergegangen, sich aus Müllsäcken Schutzkittel zu schneidern. In Italien wird geprobt, ob man OP-Masken mehrfach benutzen kann, wenn man sie desinfiziert. Man kann einen Trost darin sehen, wenn man will, dass es anderen nicht anders geht. Aber ich hatte ehrlich gesagt gedacht, dass wir besser gerüstet seien. Hieß es nicht immer, die Lage bei uns sei mit der in Italien und Spanien nicht zu vergleichen?

Wenn man nach einem Symbol der Krise sucht, dann ist es der Mundschutz. Ich habe mich ausführlicher mit dem Thema beschäftigt, seit ich vor drei Wochen eine Empfehlung des Robert Koch-Instituts sah, in der vom Tragen abgeraten wurde. Erstens würden Masken bei Nichterkrankten nichts bringen, stand da, und zweitens bräuchte man sie im Krankenhaus, wo Pfleger und Ärzte engen Kontakt mit Infizierten hätten. Meine Frau, der ich davon erzählte, fand das einen seltsamen Widerspruch. Ihre Reaktion war, im Internet zu schauen, ob man nicht noch etwas bestellen könne.

Ein anderes Argument lautete, Masken würden im Alltag nicht funktionieren, weil die meisten Menschen nicht wüssten, wie man sie richtig aufsetzt. Auch das ist nicht besonders überzeugend, wenn man darüber nachdenkt. Die meisten Menschen wissen augenscheinlich auch nicht genau, wie man sich gescheit die Hände wäscht. Trotzdem kommt niemand auf die Idee zu sagen: Okay, dann lasst es doch. Stattdessen stellt man überall Hinweisschilder auf und erklärt den Leuten, wie sie unter dem zweifachen Absingen von Kinderliedern befriedigende Waschergebnisse erzielen.

Auch die Masken-Forschung macht Fortschritte, wenn ich es richtig sehe. Der neueste Kenntnisstand sagt: Ja, ein einfacher Mundschutz hilft nicht zuverlässig, aber etwas Schutz ist immer noch besser als keiner. Noch zwei Wochen, und auch wir stehen vor der Entscheidung, ob man Maskentragen in der Öffentlichkeit nicht zur Pflicht machen sollte. Leider wird es eine weitgehend akademische Diskussion sein, wenn es nicht gelingt, die Heimproduktion anzukurbeln. Kleiner Tipp: Offenbar eignen sich Kaffeefilter ganz hervorragend, wenn man sie mit einem Gummiband am Kopf befestigt.

Wir haben im Bundestag schon aus den nichtigsten Gründen Untersuchungsausschüsse eingesetzt. Wir haben einen Untersuchungsausschuss mit der Klärung der Frage betraut, warum unter Rot-Grün in der deutschen Botschaft in Kiew zu viele Visa ausgegeben wurden. Wir beschäftigen seit Monaten einen Untersuchungsausschuss, weil man im Verteidigungsministerium bei der Vergabe von Beratungsaufträgen die Ausschreibungsrichtlinien nicht ganz korrekt eingehalten hat. Damit verglichen, wäre ein Untersuchungsausschuss zur Corona-Krise eine lohnende Sache.

Ein Untersuchungsausschuss gibt auch Gelegenheit, Missverständnisse aufzuklären. Man könnte zum Beispiel Außenminister Heiko Maas befragen, warum er im Februar 14 Tonnen an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln nach China liefern ließ, ohne vorher einmal in den Keller zu gucken, was dann noch übrig sein würde. Auf eine Anfrage des Recherchenetzwerks „Correctiv“, wie sich dies auf die Lagerbestände in Deutschland ausgewirkt habe, teilte das Auswärtige Amt Anfang März mit, dass die Bundesregierung grundsätzlich dafür Sorge trage, „dass Spenden im humanitären Bereich keinen negativen Einfluss auf die Versorgungssituation in Deutschland haben“.

Diese Erklärung darf man als überholt betrachten.