Der ewige Lockdown

Der Ausnahmezustand wurde gerade erst gelockert, und schon droht die Kanzlerin, die Deutschen wieder einschließen zu lassen, wenn sie sich nicht zu benehmen wissen. Das sei unausweichlich, sagt sie. Ist es das?

Der Chef des Kanzleramts, Helge Braun, hat der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” ein Interview gegeben. Darin führte er aus, wie er und die Kanzlerin auf die Lage im Land sehen. Oberstes Ziel sei es, die Zahl der Corona- Infizierten zu senken, sagte er. „Dahinter steht die Wirtschaft erst mal einen großen Schritt zurück.” In der Krise finde der Mensch zu sich selbst, heißt es. Das gilt im Zweifel auch für Parteien und Regierungen.

Wen meint der deutsche Kanzleramtschef, wenn er von „der Wirtschaft” spricht? Offensichtlich nicht Sie und mich, sonst hätte er ja davon gesprochen, dass wir alle für das Ziel, der Senkung des Krankenstands, zurücktreten müssten. Vielleicht denkt Helge Braun an das Geschwisterpaar Quandt und seine BMW-Anteile. Oder die Familienunternehmer, die ihn mit ihr en Sorgen bestürmen, weil ein Viertel vor dem Konkurs steht.

Mir ist der Satz nicht mehr aus dem Kopf gegangen. So sieht die Bundesregierung also auf Deutschland (oder vielleicht sollte man besser sagen, der entscheidungsrelevante Teil der Regierung): Hier stehen wir, der Staat, das Gemeinwesen, die Gesellschaft – dort steht die Wirtschaft, die nicht richtig dazugehört und auch nie richtig dazugehören wird. Es ist ein Denken, wie ich es aus dem Gemeinschaftskunde- Unterricht der Oberstufe erinnere. Der Gemeinschaftskunde- Lehrer hieß Randolf Retzlaff und war DKP-Mitglied, was mich insofern beeindruckte, als eine Mitgliedschaft in der DKP Ende der siebziger Jahre bei Lehrern noch ernste Konsequenzen nach sich ziehen konnte.

Ich habe mir den Lebenslauf von Helge Braun angesehen. In den Zeitungen steht, er sei Arzt. Das klingt vertrauenerweckend, gerade in der jetzigen Zeit. Ich würde allerdings eher davon absehen, mich bei ihm in Behandlung zu begeben.

Wenn ich es richtig sehe, hat Braun nie wirklich als Mediziner gearbeitet. Schon ein Jahr nach Abschluss des Studiums wechselte er als Abgeordneter in den Bundestag. Zwischenzeitlich war er noch mal wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni-Klinik in Gießen, vorübergehend hatte er sein Mandat verloren. 2009 kehrte er dann ins Parlament zurück, wo er seitdem für die CDU sitzt.

Man kann es auch anders ausdrücken: Die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen, die Helge Braun und seine Chefin verfügen, werden ihn selbst nie betreffen. Der Berufspolitiker wird niemals Kurzarbeitergeld beantragen müssen, er ist auch nicht von Arbeitslosigkeit bedroht. Seine Rente ist sicher, komme, was da wolle.

Ist es unfair, auf die Versorgungslage der politischen Entscheidungsträger hinzuweisen? Ich finde nicht. Wer nachts nicht in den Schlaf kommt, weil ihn die Schulden drücken, sieht anders auf die Lage der Wirtschaft als jemand, der weiß, dass ihm finanziell nichts passieren kann. Sehen Sie es mir nach, aber für mich bestimmt nach wie vor das Sein das Bewusstsein, da halte ich es mit meinem alten DKP-Lehrer Retzlaff.

Es gibt die Willkür der Macht. Es gibt die Arroganz der Macht. Es gibt auch die Arroganz der wohlmeinenden Macht. Wir sind in der ersten Woche seit der vorsichtigen Öffnung des Ausnahmezustands, und schon werden wir ermahnt, dass man uns die Freiheiten wieder entziehen müsse, wenn wir uns nicht stärker am Riemen reißen. „Wenn ihr euch nicht benehmt, schicke ich euch wieder in den Lockdown.” Das war die Botschaft der Kanzlerin ans Volk, nachdem sie sich zuvor schon in kleiner Runde über unsinnige „Lockerungsdiskussionsorgien” beklagt hatte.

Sie hat es etwas anders gesagt. „Ein erneuter Shutdown wäre bei erneutem exponentiellem Wachstum unvermeidlich”, waren ihre Worte. „Unvermeidlich” ist ein typisches Merkel-Wort, sozusagen das epidemiologische Äquivalent zu „alternativlos”. Am Anfang ihrer Karriere hat sich für die Kanzlerin der Spitzname „Mutti” eingebürgert, das war immer schon Unsinn. Merkel ist keine Mutti. Sie ist die strenge Internatsleiterin, die aufpasst, dass keiner aus der Reihe tanzt. Sie kann dabei auch lächeln. Man sollte sich von ihrem Lächeln nur nicht täuschen lassen.

Wenn es nach Angela Merkel ginge, könnte der Ausnahmezustand ruhig noch etwas länger anhalten. Endlich kann sie so regieren, wie sie es für richtig hält. Es gibt keine lästigen Fraktionssitzungen mehr, in denen ohnehin die falschen Leute das große Wort führen. Es gibt keine Opposition, die den Namen verdient, und kein richtiges Parlament, auf das sie Rücksicht nehmen müsste. Stattdessen kann sie sich jetzt den ganzen Tag mit Wissenschaftlern austauschen, was ihr schon immer das Liebste war.

Pressekonferenzen unter Corona? Ein Spaziergang. Die Kanzlerin steht vorne am Pult, die Journalisten einzeln vor ihr aufgereiht in sicherem Abstand. Wenn doch mal einer eine kesse Frage wagt, sagt sie: Sorry, aber wir tun nur das, was uns die Wissenschaft sagt. Ich verstehe Merkel, wenn sie nicht darüber nachdenken möchte, den Ausnahmezustand zu schnell zu beenden.

Die Kanzlerin wird allenthalben für ihre umsichtige, sachliche Art gerühmt. Das Gedächtnis ist in der Krise zum Glück kurz. Es ist vier Wochen her, dass ihr Gesundheitsminister vor die Presse trat und von der „Ruhe vor dem Sturm” sprach. Dann hieß es, die Situation sei beherrschbar geworden. Jetzt hören wir, dass die Lage extrem fragil sei, ja dass uns das Schlimmste möglicherweise erst bevorstehe.

Ich weiß nicht, wie man solches Vorgehen in der Psychologie nennt. Schocktherapie? Manche Menschen stumpfen allerdings ab, wenn sie in kurzer Zeit zu viele schlechte oder widersprüchliche Nachrichten erhalten. Die Psychologen sprechen in dem Fall von Desaster Fatigue.

Wie wäre es zur Abwechslung damit: Statt den Bürgern damit zu drohen, sie alle wieder einzuschließen, könnte man dafür sorgen, dass die naheliegenden Dinge funktionieren, die Entwicklung einer Daten-App zum Beispiel. Wir wissen aus Südkorea und Taiwan, dass die Zusammenführung von Bewegungsdaten bei der Beherrschung der Pandemie eine zentrale Rolle spielt.

Nach allem, was man lesen kann, gerät der Versuch hierzulande gerade zum Desaster. Die beteiligten Wissenschaftler zerstreiten sich über Details des Datenschutzes und tragen ihre Händel auf Twitter aus, darunter auch die Experten des bundeseigenen Helmholtz-Zentrums. Dazu habe ich noch kein Wort der Kanzlerin gehört. Dabei würde eine Ermahnung hier möglicherweise segensreich wirken, wer weiß.

Unvermeidlich? Das wird man noch sehen. Seuchenschutz bietet den Autoritäten zum Schutz der Allgemeinheit weitreichende Handhabe. Der Seuchenschutz erlaubt zum Beispiel, einem Hühnerbauern unter Missachtung sämtlicher Freiheits- und Eigentumsrechte sofort den Betrieb dichtzumachen, wenn sich Anzeichen eines Grippe- Ausbruchs bei seinem Federvieh zeigen. Jetzt hat man über Nacht 83 Millionen Deutsche in den Hühnerstall gesteckt und die Tür verrammelt. Das ist auch rechtspolitisch ein einzigartiges Experiment.

Wenn man die Kommentare von Verfassungsrichtern liest, spürt man in jeder Zeile das Unbehagen angesichts der dürftigen Rechtsgrundlage. Die langjährige Richterin am Bundesverfassungsgericht, Gertrude Lübbe-Wolff, hat in einem Beitrag für die FAZ darauf hingewiesen, dass alle freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, die einen Ausbruch des Virus lediglich in die Zukunft verlegen, sinnend damit auch rechtswidrig seien. „Aktionen, mit denen drohende katastrophische Entwicklungen im Wesentlichen nur vom März in spätere Monate verschoben würden, sind nicht zu rechtfertigen”, schrieb sie.

Die einzige Lösung, die demnach der Verfassung entspräche, wäre ein Shutdown, der das Virus zum Verschwinden bringt. Der nächste Shutdown müsste also sehr, sehr lange andauern. Deshalb mein Rat: Verärgern Sie die Kanzlerin nicht. Ziehen Sie sich die Maske an und halten ordentlich Abstand!

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