Monat: September 2023

Was schief läuft

In der Flüchtlingsdebatte ist ständig davon die Rede, wie kompliziert alles sei. Warum reden wir nicht mal über das, was sich ändern ließe? Zum Beispiel, dass Asylbewerber an zehn Orten gleichzeitig Sozialhilfe beziehen

 Der Wirtschaftsredakteur Anton Rainer hat das Foto eines Plakats gepostet, an dem er während einer Fahrt durch Niedersachsen vorbeigekommen ist. Das Plakat steht an einem Kreisverkehr in der Lüneburger Heide. „EUR 11000“, steht darauf, „ab sofort“. Das Geld winkt jedem, der im nahe gelegenen Gut Thansen im Dorf Soderstorf als Koch oder als Servicekraft im Spätdienst anfängt. 5000 Euro gibt es als Begrüßungsprämie, noch einmal 6000 Euro dann als Bleibeprämie, wenn man drei Jahre dabei bleibt.

Wir hören in jeder zweiten Talkshow, wie dringend Deutschland Zuwanderer brauche. Man erklärt uns geduldig, welchen Gewinn die zusätzlichen Menschen für unserer Wirtschaft bedeuten würden. Die gute Nachricht ist: Jeden Tag kommen viele Menschen im arbeitsfähigen Alter über die Grenze. Jung, männlich, kräftig – so sieht in der Regel der Migrant aus, der es aus Afghanistan, Mali oder Syrien zu uns schafft.

Aber auf Gut Thansen kommt keiner an. Leider auch in den Betrieben in München, Hamburg und Frankfurt nicht so wie erwartet.

An einem Mangel an offenen Stellen kann es nicht liegen, dass es mit dem Aufschwung durch Migration nicht klappt. 1,7 Millionen offene Stellen melden die Arbeitsämter. Allein in der Gastronomie fehlen 40000 Servicekräfte.

Bei meinem Bäcker in Pullach hängen drei Stellenanzeigen. Gesucht werden eine Verkäuferin, eine Reinigungskraft und ein Bäcker. Für den Bäcker werden neben übertariflichem Gehalt Dienstwohnung und Dienstwagen geboten. Ich habe nicht nachgerechnet, was das an steuerwertem Vorteil bedeutet, aber mein Eindruck ist: Mit Gut Thansen kann mein Lokalbäcker durchaus mithalten.

Gut, nicht jeder mag um 3 Uhr morgens aufstehen, offensichtlich auch der Migrant aus Syrien nicht. Aber vielleicht um 12 Uhr? Hubert Aiwanger hat recht, wenn er sagt, dass man jedem in drei Stunden beibringen kann, wie man einen Wurstsalat an den Tisch bringt. Dazu bedarf es keiner Sprach- und Grammatikkenntnisse. Woran liegt es also, dass so viele Menschen in Deutschland Zuflucht suchen wie seit langem nicht mehr – aber sie im Arbeitsmarkt nicht ankommen?

Ich habe die vergangene Woche den Experten zugehört, die bei Anne Will und Markus Lanz aufgefahren wurden, um über die neue Flüchtlingskrise zu diskutieren. Es ist alles furchtbar kompliziert – das ist das Fazit, auf das sich jede Runde einigen kann. Es ist auch der Schluss, zu dem die Bundesregierung kommt.

Obergrenzen gehen nicht, weil dies das Asylrecht nicht zulässt. Abschiebungen scheitern daran, dass viele Staaten die Rücknahme verweigern. Auch die Rückführung in sogenannte sichere Herkunftsländer ist kein Weg, da den Grünen die sicheren Herkunftsländer nicht sicher genug sind. Und die Abweisung an der deutschen Grenze wiederum verbietet sich, weil das gegen europäische Regeln verstoßen würde.

Also einigt man sich darauf, dass die eigentliche Lösung darin bestehe, die Fluchtursachen zu beseitigen – Krieg, Armut und Klimakrise. Good luck, lässt sich da nur sagen. Wir sind ja nicht einmal in der Lage, die Klimakrise in Deutschland in den Griff zu bekommen. Ich dachte außerdem, wir wären darüber hinaus zu glauben, dass der Westen alles richten muss, weil es die Afrikaner nicht selbst hinbekommen. Aber ich bin ja auch kein Migrationsexperte.

Eigenartigerweise wird nie davon gesprochen, was sich relativ zügig ändern ließe, ohne dass man sich in Europa abstimmen muss. Eine Frage, die man diskutieren könnte, wäre zum Beispiel, weshalb es so viele Flüchtlinge nach Deutschland zieht. Italien ist auch wunderschön, Frankreich ebenfalls. Gemäßigtes Klima, gutes Essen, reichhaltige Kultur. Trotzdem wollen die meisten zu uns.

Eine naheliegende Vermutung ist, dass es einen Zusammenhang mit den finanziellen Standortbedingungen gibt. Die Polizei in Berlin hat vor ein paar Tagen nähere Angaben zu den drei Drogendealern veröffentlicht, die in Verdacht stehen, im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg eine junge Frau vergewaltigt zu haben. Der Hauptverdächtige, ein Mann aus Somalia, kommt auf zehn Aliasnamen, wie man bei der Gelegenheit erfuhr, ein zweiter Mittäter auf vier.

Warum lauter Aliasnamen? Ganz einfach, sagte ein Bekannter, der sich mit dem Thema auskennt. Mit jeder Identität lasse sich ein weiteres Mal Sozialhilfe beziehen. Man gibt bei der Aufnahme einfach an, dass man seinen Pass verloren hat. Dann nennt man einen erfundenen Namen und erhält eine entsprechende Aufenthaltsgestattung. Dieses Papier gilt als Passersatz, das auf jeder Behörde akzeptiert wird.

Es wird offenbar auch nicht näher nachgeforscht. Mein Bekannter erinnerte an den Fall des rechtsradikalen Bundeswehroffiziers Franco A., der sich als Syrer ausgab, um seine wahre Identität zu verschleiern. Wenn ein Soldat, der nicht im entferntesten wie ein Syrer aussieht oder redet, als Syrer durchgeht, dann ahnt man, was alles möglich ist.

Bei der Recherche bin ich auf einen Vorschlag aus dem Innenministerium gestoßen, nach dem alle Kommunen Zugang zu einem digitalen Zentralregister erhalten sollen. Eine naheliegende Idee. Niemand im Ministerium rechnet allerdings damit, dass es bald etwas wird. „Auf Grundlage der beiden Diskussionsentwürfe erfolgt nun ein intensiver Erörterungsprozess mit Ländern und Kommunen“, heißt es vorsorglich in dem Papier.

Meine Frau sagt, den Flüchtlingen könne man keinen Vorwurf machen. Jeder reagiert auf die Anreize, die der Staat setzt. Sie kommt aus der Finanzindustrie, in ihrer Welt spricht man von Incentivierung. Das Wort kommt von Incentiv, Ansporn.

Bei einer vierköpfigen Flüchtlingsfamilie summieren sich die staatlichen Leistungen derzeit auf 1400 Euro. Die Leute vom Flüchtlingsrat halten das für skandalös wenig. Für jemanden, der aus einem Dorf in Mali oder Nigeria stammt, klingt es vermutlich eher wie das Paradies auf Erden.

Es gibt den harten Kern, der grundsätzlich etwas gegen Ausländer hat. Diese Leute träumen von einem reinen Deutschland, was immer das sein mag. Vermutlich so eine Art germanisches Disneyland, in dem jeden Abend bei Met und Schweinshaxe deutsches Liedgut erklingt.

Aber das ist eine Minderheit. Die meisten haben nichts gegen Zuzug von außen. Sie sind froh, dass sie nicht mit den Germania-Fans allein gelassen werden. Dass die Deutschen Rassisten seien, halte ich für eine Unterstellung, die vor allem von Leuten am Leben gehalten wird, die ihr Geld damit verdienen, dass sie gegen Rassismus kämpfen. Wäre ich im Anti-Rassismus-Geschäft, würde ich auch behaupten, wie vorurteilsbeladen die deutsche Gesellschaft sei.

Was die Mehrheit allerdings erwartet, ist, dass die Zuwanderer sich dann nützlich machen, wenn sie hier sind. Man kann auch sagen: Sie nehmen die Politiker beim Wort, die ihnen sagen, wie sehr Deutschland von Einwanderung profitieren würde.

Vielleicht muss man doch noch einmal die Größenordnungen nennen, von denen wir reden. Im vergangenen Jahr lagen die asylbezogenen Ausgaben bei 22 Milliarden Euro. Rechnet man die Gelder für die Bekämpfung von Fluchtursachen heraus, ist man immer noch bei 13 Milliarden Euro an asylbedingten Kosten.

Dazu kommt das Bürgergeld für alle, die eine Arbeitsgenehmigung haben. 50 Milliarden geben wir dieses Jahr insgesamt für diese Lohnersatzleistung aus, knapp die Hälfte der Bürgergeld-Bezieher sind inzwischen Ausländer. Das heißt, Leute, die nie in die Sozialkassen eingezahlt haben, erhalten alles zusammen gerechnet 37 Milliarden Euro an staatlichen Transfers. Davon ist nicht einmal bei den striktesten Verfechtern offener Grenzen die Rede.

Ich will ja nicht mäkelig erscheinen, aber bislang sieht es nicht so aus, als ob die Rechnung aufginge, wonach jeder Flüchtling der Wirtschaftskraft des Landes zugutekommt. Wenn wir schon nicht darüber reden wollen, wie sich die Grenzen besser kontrollieren ließen, wäre das nicht vielleicht ein Thema?

© Silke Werzinger

Im Büro mit Nancy Faeser

Die Bundesregierung hat sich den Schutz der Arbeitnehmer vor zu viel Stress, Druck und übergriffigen Chefs auf die Fahnen geschrieben. Wie blöd, dass sich ausgerechnet die Bundesinnenministerin als deutsche Mobbing-Queen entpuppt

Stellen Sie sich vor, Ihr Chef will Sie loswerden. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil: Die Beurteilungen fielen immer zufriedenstellend aus. Sie sind auch nicht durch Illoyalität oder Obstruktion aufgefallen. Dennoch erreicht Sie aus heiterem Himmel der Anruf eines engen Mitarbeiters Ihres Chefs, dass man auf Ihre Dienste in Zukunft verzichten möchte.

Sie haben Familie, Sie sind nicht mehr der Jüngste. Der Anruf macht Ihnen Angst. Das ist ja auch der Zweck. „Wir können die Sache geräuschlos erledigen“, sagt der Mitarbeiter. „Sie willigen ein, Ihren Posten zu räumen, dafür werden wir an anderer Stelle etwas für Sie finden. Oder Sie legen sich quer. Dann wird’s schmutzig, dann können wir für nichts mehr garantieren. Das Ganze kann sich in dem Fall auch über Monate hinziehen. Es ist Ihre Zeit, es sind Ihre Nerven. Überlegen Sie’s sich.“

Das Schöne an Politik ist, dass sie manchmal so lebensnah sein kann. Auch der Politiker ist mitunter nur Mensch, mit all seinen Stärken und Schwächen – wobei die Schwächen, wie im wirklichen Leben, überwiegen.

Die Chefin in dieser Geschichte heißt Nancy Faeser, der Mann, den sie unbedingt loswerden wollte, Arne Schönbohm, Leiter des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik. Die Bundesinnenministerin gegen den Chef einer kleinen Bundesbehörde, das ist die Ausgangslage. Bis heute ist nicht ganz klar, was Faeser gegen ihren Cybersicherheitschef hatte, aber irgendwann im Frühsommer vergangenen Jahres fiel der Entschluss, sich seiner zu entledigen.

Wir wissen auch, wie es weiterging. Im April und Mai 2022 telefonierte die Staatssekretärin im Innenministerium Juliane Seifert mit dem ZDF-Comedian Jan Böhmermann. Worum es in den Gesprächen ging? Hass im Netz. Kein einziges Wort über den in Ungnade gefallenen Behördenleiter! So versichern es beide.

Im Oktober tauchte Schönbohm dann im Zentrum einer Böhmermann-Sendung auf, als „Cyberclown“, der Kontakte zu einem Verein unterhalte, der von russischen Agenten unterwandert sei. Zehn Tage später war der Mann seinen Job los. Durch die ZDF-Satire-Sendung sei das Vertrauen nachhaltig beschädigt, ganz unabhängig von der Stichhaltigkeit der Vorwürfe. So steht es wörtlich in einem Schreiben des Ministeriums: „Unabhängig davon, wie stichhaltig diese sind und ob diese sich im Ergebnis als zutreffend erweisen, ist in der öffentlichen Meinung ein Vertrauensverlust eingetreten, der eine weitere Amtsführung unmöglich macht.“

Das Tragische und das Komische gehen mitunter Hand in Hand. Selbstverständlich ist Nancy Faeser entschieden gegen jede Form des Mobbing – sie gehört schließlich einer Partei an, die sich den Schutz aller Arbeitnehmer auf die Fahnen geschrieben hat. Wenn es etwas gibt, was Sozialdemokraten nicht leiden können, dann übergriffige Chefs. Deshalb ist die SPD auch unbedingt dafür, die Vier-Tage-Woche einzuführen, um Druck und Stress am Arbeitsplatz zu reduzieren. Je weniger Chefs zu sagen haben, desto besser. Wer an dieser Stelle nicht lacht, dem ist nicht mehr zu helfen.

Normalerweise wäre die Sache hier im Sande verlaufen, das muss man dazu sagen. Pech für Faeser, dass sich der geschasste Behördenleiter nicht einfach in sein Schicksal fügen wollte. Statt klein beizugeben, wie man es in der Ministeriumsspitze erwartet hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine.

Erst verlangte er ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst, um zu erfahren, was er sich eigentlich hatte zu Schulden kommen lassen (Ergebnis nach monatelanger Untersuchung: nichts). Später wird er noch das ZDF verklagen, das ihn mit einer schlampigen Recherche um seinen Job gebracht hatte.

Also Krisensitzung bei der Chefin. Die Ministerin: in höchstem Maße ungehalten. Wie es sein könne, dass nicht mehr gegen den renitenten Mitarbeiter vorliege? Was man ihr vorgelegt habe, sei viel zu dünn. Die klägliche Antwort des zum Rapport angetretenen Unterabteilungsleiters: Man habe jeden Stein umgedreht, auch alle Abteilungen und relevanten Behörden abgefragt. Es lasse sich einfach nichts Belastbares finden.

Wo ein Wille ist, da sollte ein Weg sein – wofür regiert man schließlich das Land? Anweisung Faeser: Noch einmal das Bundesamt für Verfassungsschutz kontaktieren und alles an Geheimunterlagen zusammentragen lassen, was sich finden lässt. Das ist keine Spekulation, wie der eine oder andere jetzt vielleicht denkt. So geht es aus einem Aktenvermerk hervor, den der arme Unterabteilungsleiter nach dem Treffen mit der Ministerin anfertigte.

Ach so: Und bitte die Unterlagen außerhalb des Dienstweges dem Ministerbüro zukommen lassen, haben wir uns da verstanden? Auch das steht im Aktenvermerk. Wenn es jemand gibt, der sich den Titel als bundesdeutsche Mobbing-Queen verdient hat, dann unsere Innenministerin. Diese Auszeichnung wird ihr so schnell keiner nehmen.

Die SPD hat kein Glück mit ihren Frauen an der Spitze. Erst der Ausfall von Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin, nun die Personal-Affäre bei Faeser. Bevor jemand sich verleitet sieht, falsche Schlüsse zu ziehen, einigen wir uns vielleicht darauf: Frauen sind auch nicht die besseren Chefs.

Es gibt ja eine Theorie, wonach viel Schlimmes in der Welt verhindert werden könnte, wenn Frauen mehr zu sagen hätten. Nach der Finanzkrise hieß es zum Beispiel, es wäre nie zum Kollaps gekommen, wenn die Hedgefonds-Abteilungen nicht so männlich wären, weil Frauen risikoaverser seien. Frauen gelten auch als pragmatischer, lösungsorientierter und überhaupt friedlicher – kurz: als die besseren Vorgesetzten.

Diese Theorie hatte immer schon erhebliche Löcher. Wer hat bei der RAF geschossen? Wenn es darauf ankam: meist die Frauen. Mir fallen auf Anhieb auch eine Reihe von Frauen als Regierungschefinnen ein, die durchaus in der Lage waren, Schlimmes anzustellen, wie zum Beispiel einen Krieg vom Zaun zu brechen (Thatcher, Falklandinseln).

Nicht einmal die Sache mit der Finanzkrise hält bei genauerer Betrachtung stand. Wie viele Frauen saßen im Verwaltungsrat der pleitegegangenen Credit Suisse? Ich traue mich kaum, es zu sagen: Es waren sieben von zwölf, also die Mehrheit. Schwamm drüber, die UBS hat die Zeche beglichen. Aber teuer war es trotzdem.

Möglicherweise hänge ich einer überkommenen Form des Feminismus an. Abseits traditioneller Höflichkeitsregeln gehe ich davon aus, dass man Frauen nicht anders behandeln sollte, nur weil sie Frauen sind. Das gilt allerdings in alle Richtungen, also auch, was die Besetzung von Posten angeht. Hieß es nicht außerdem immer, dass es ein Zeichen unaufgeklärten Denkens sei, wenn man noch an die Existenz von Geschlechterunterschieden glaube? Dass Frauen weniger hierarchiebesessen seien als Männer, hört sich für mich jedenfalls stark nach Klischee an.

Was sagt Nancy Faeser zu allem? Man müsse später noch einmal darüber reden, wie Akten in ihrem Haus geführt würden. Zu Deutsch: Es kann doch nicht wahr sein, dass alles, was ich anordne, schriftlich festgehalten wird. Aber so ist der deutsche Beamte: Wenn man ihn anweist, etwas zu tun, was er als problematisch empfindet, legt er vorsorglich eine Aktennotiz an. Nicht, dass es am Ende noch heißt, er habe eigenmächtig gehandelt!

Ich kann den Mann aus der Personalabteilung verstehen. Bevor ich beim Verfassungsschutz anrufen würde, ob man auch wirklich, wirklich nichts an belastendem Material übersehen habe, hätte ich auch lieber eine Rückversicherung in der Schublade. Man ist ja im Bundesinnenministerium so schnell seinen Job los, wie man weiß.

© Michael Szyszka

Mit dem Dealer auf Du und Du

Wäre Deutschland wie Kreuzberg, wären wir verloren. Warum, um Gottes Willen, hat man sich sogar nach Meinung der „FAZ“ als Politiker unmöglich gemacht, wenn man das laut sagt?

 Friedrich Merz hat gesagt, Kreuzberg sei nicht Deutschland. Riesenaufregung im besorgten Teil der Republik. Mein langjähriger Ressortleiter beim „Spiegel“ Stefan Kuzmany hat eine Philippika verfasst, warum sich Merz damit endgültig unmöglich gemacht habe.

Merz betreibe das Geschäft der Ausgrenzung, so ein Mann dürfe nie Kanzler werden! Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal über einen Politiker empört habe. Aber sicher nicht, weil er sich im Bierzelt wohler fühlt als in der „Spiegel“-Redaktion. Das war ja der Nachsatz bei Merz: „Gillamoos ist Deutschland“. Die Rede fand in Bayern statt.

Selbst die „Frankfurter Allgemeine“ schäumte. Merz fantasiere sich ein Deutschland herbei, das es so gar nicht gebe. Ein Deutschland ohne Kriminalität, kleine Paschas, Graffiti an den Fassaden, Shisha-Bars, dafür mit Fachwerkatmosphäre und ausschließlichem Verzehr von einheimischen Gerichten.

Merz hatte zwar kein Wort über Paschas, Graffiti und Shisha-Bars verloren. Wenn ich mir seinen Lebenszuschnitt anschaue, bezweifle ich auch, dass er ein Fan des Fachwerkhauses ist. Das alles fand ausschließlich im Kopf des „FAZ“-Autors statt. Der Text war auch nicht von einem der jungen Rücksichtsvollen verfasst, die inzwischen sogar die „Frankfurter Allgemeine“ bevölkern, sondern einem der Herausgeber, dem Feuilletonchef Jürgen Kaube.

Wenn Männer in gesetztem Alter nach links steuern, gibt es nach meiner Erfahrung zwei Erklärungen: Sie wollen sich qua journalistischem Draufgängertum ihrer Jugendlichkeit versichern. Oder sie haben eine deutlich jüngere Frau kennengelernt, der sie imponieren müssen.

Keine Ahnung, was bei Kaube zutrifft. Ich will ihm um Gottes willen nicht zu nahe treten. Vermutlich ist er seit Langem in erster Ehe glücklich verheiratet und hat noch nie einen Gedanken aufs Alter verschwendet. Ich habe nur beim Blick auf Wikipedia gesehen, dass er mein Jahrgang ist, was mir zu oben stehender Spekulation Anlass gab.

Treue Leser meiner Kolumne wissen, dass mich Zweifel plagen, was den Parteichef der CDU angeht. Das beginnt schon damit, dass ich sofort wegschalten muss, wenn ich ihn im Fernsehen reden höre. Bei meiner Frau stellen sich die Nackenhaare auf, wenn jemand mit dem Messer über den Teller kratzt. Bei mir haben Merz-Interviews diesen Effekt. Ich kann die Mischung aus Besserwisserei und unterdrücktem Beleidigtsein, die jeden seiner Auftritte durchzieht, nur schwer ertragen.

Dennoch halte ich die Aufregung für gaga. Kreuzberg ist nicht Deutschland? Na gottlob nicht, würde ich sagen. Die Aussichten sind ohnehin düster. Die EU-Kommission hat gerade festgestellt, dass Deutschland beim Wachstum das Schlusslicht in Europa ist. Alle legen zu, nur wir werden ärmer. Wenn Deutschland wie Kreuzberg wäre, könnten wir komplett einpacken.

Ich habe mal eine Kolumne geschrieben, die hieß: „Berlin, das Venezuela Deutschlands“. Das war als Gag gemeint. Dann musste ich feststellen, wie seherisch die Überschrift war. Sie müssen in Berlin keinen Hunger leiden. Aber sobald man auf den Staat angewiesen ist, und sei es nur, um ein Auto oder eine Wohnung anzumelden, ist es vorbei. Da ist es sogar in Südamerika besser. Da kann man wenigstens mit ein paar Scheinen nachhelfen, um die Sache zu befördern.

Wenn Berlin Venezuela ist, dann ist Kreuzberg unser Caracas. Das Epizentrum der organisierten Verantwortungslosigkeit, das schwarze Loch staatlichen Handelns.

Das perfekte Beispiel für das Versagen ist das Ringen um den Görlitzer Park. Der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner hat vergangene Woche zu einem Krisengipfel geladen, weil die Dinge selbst für Berliner Verhältnisse außer Kontrolle geraten sind.

Die Bürgermeisterin von Kreuzberg hatte allerdings bei einer Pressekonferenz vorsorglich deutlich gemacht, was alles nicht geht: also keine nächtliche Schließung, nicht mehr Polizei, auf keinen Fall Zäune oder Videoüberwachung. Selbst der Vorschlag, die Büsche zu beschneiden, damit die Dealer ihre Drogen nicht mehr so leicht verstecken können, scheint einigen im Rathaus irgendwie suspekt.

Man will schließlich niemanden ausschließen, auch nicht den Dealer. „Keine Gruppe soll ausgeschlossen werden“, gab die frühere Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann vor Jahren die Linie vor, der man sich in Kreuzberg bis heute verpflichtet fühlt. „Heute ist es die Dealergruppe, die rausgeschickt wird. Was ist morgen? Wer darf morgen nicht in den Park rein? Und wer darf übermorgen nicht in den Park rein? Und wer bestimmt das eigentlich.“ So läuft das: Ein unfreundliches Wort zum Dealer und schon landet man beim Gillamoos.

Ein Vorwurf an Merz lautete, dass sein Satz fremdenfeindlich gewesen sei, weil in Kreuzberg auch ganz viele Migranten leben würden. Es stimmt, ein Drittel der Einwohner kommt von außerhalb. Deshalb funktioniert das Viertel ja auch halbwegs. Wäre Kreuzberg auf die linken Hipster angewiesen, die erst um 11 Uhr aus dem Bett finden, gäbe es nicht mal den berühmten Latte macchiato. Ich fürchte allerdings, wenn man die Migranten fragen würde, für wen sie eher stimmen würden, für Friedrich Merz oder Monika Herrmann, dann fiele das Votum ziemlich eindeutig aus.

Sprechen wir für einen Moment vom normalen Deutschland. Ich weiß, „normal“ ist auch so ein Begriff, der mit Vorsicht zu genießen ist. Anderseits kommt nicht einmal der hipste Hipster umhin anzuerkennen, dass viele Deutsche anders leben, anders sprechen und anders denken als er. Wäre es anders, würde ja seine ganze linke Hipsterexistenz keinen Sinn ergeben.

Das normale Deutschland sind Orte wie Tuttlingen oder Oggersheim, jene als Provinz verspottete Welt, in der man zum Muttertag noch Blumen schenkt, Gendern für eine exotische Sportart hält und nichts Verwerfliches an Gardinen und Häkeldeckchen findet. In dieser Welt sagt übrigens auch niemand: Patchwork, das habe ich mir für meine Beziehung immer gewünscht.

Die Überraschung ist jedes Mal wieder groß, wenn sich das normale Deutschland zu Wort meldet. Im März waren die Berliner zur Klimawahl aufgerufen. Wochenlang war die ganze Stadt voller Plakate: Berlin klimaneutral bis 2030. Großes Konzert am Wahlwochenende am Brandenburger Tor mit allen Musikbands des guten Herzens. Es gab nicht einmal eine Gegenkampagne. Und was passierte dann? Dann wurde selbst das Mindestquorum von 25 Prozent der Wahlberechtigten verfehlt.

Die Randbezirke seien schuld, hieß es anschließend zur Erklärung. „Randbezirke“ ist der deutsche Bible Belt. Da, wo die Minderbemittelten leben, die ihr Herz noch an Autos, Grillfleisch und Schnittblumen hängen.

Die alten Linken verstanden noch etwas von Dialektik, also der Fähigkeit, in Gegensätzen zu denken. Ich habe kürzlich eine Geschichte über die beiden Erfinder des Partykrachers „Layla“ gelesen. Der eine ist Lagerist, der andere Elektriker. Das Geheimnis eines guten Partyhits sei ganz einfach, erklärten die Zwei: Eine eingängige Melodie und einen Text, den man auch mit zwei Promille noch mitsingen kann. Dass es Layla zum Protestsong des Jahres gebracht hat, hat allerdings auch die zwei jungen Männer aus Stuttgart überrascht.

Das Lied ist auf jeder Kirmes der Renner. Beim Oktoberfest wird es mit Sicherheit ganz oben auf der Wunschliste stehen. Ihren Riesenerfolg verdanken die Erfinder nicht ihrem umwerfenden Talent, sondern der Mithilfe der Grünen. Hätten sie sich in einer Reihe von Städten nicht in den Kopf gesetzt, die Aufführung des Songs zu untersagen, hätte „Layla“ vermutlich nie diese Popularität erreicht.

Ich mag mich täuschen, aber ich habe den Eindruck, dass abseits des „Spiegel“ und des Feuilletons der „FAZ“ ein Umdenken begonnen hat. Bei der SPD gibt es an verantwortlicher Stelle wieder Leute, die sich fragen, ob es wirklich so schlau ist, jeden Unsinn mitzumachen, den man bei den Jusos oder der Grünen Jugend ersinnt. Dass man froh sein kann, dass Deutschland nicht Kreuzberg ist, ist ein Satz, den sie auch in vielen SPD-Ortsvereinen unterschreiben können.

© Sören Kunz

Trump beim Gillamoos

Es heißt, dass der Fall Aiwanger die politische Kultur in Deutschland nachhaltig verändern werde. Das glaube ich auch – allerdings anders, als Aiwangers Kritiker meinen

 In einer Geschichte über Hubert Aiwanger stand, dass die Freien Wähler im Landtag nicht unbeliebt seien, auch er nicht. Mit Katharina Schulze, der Spitzenkandidatin der Grünen, würde er sich sogar duzen.

Wenn man liest, was seit Tagen über Aiwanger geschrieben wird, muss man denken, der Himmel über dem Freistaat sei eingestürzt. Von einer „Schande für Bayern“, spricht Florian von Brunn, der Vorsitzende der bayerischen SPD. Dass Markus Söder seinen Wirtschaftsminister in der Regierung belasse, sei ein „negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland“. An anderer Stelle las ich, dass die Affäre geeignet sei, der politischen Kultur nachhaltigen Schaden zuzufügen.

Ich glaube auch, dass der Fall Aiwanger die politische Kultur verändern wird, nur anders als die Kritiker meinen. Bei vielen Menschen werden die vergangenen zwei Wochen die Vorbehalte verstärken, die sie ohnehin gegenüber Politik und Medien haben.

Viele Politiker meinen, dass es ihnen als Führungsstärke ausgelegt wird, wenn sie bei Verfehlungen anderer besonders markig auftreten. Ich habe da meine Zweifel. Wenn sich der Kanzler hinstellt und die Erinnerungslücken beim bayerischen Wirtschaftsminister geißelt, dann sagt sich doch der eine oder andere: Ziemlich dicke Backen für jemanden, der sich nicht einmal daran erinnern kann, was er vor sechs Jahren als Hamburger Bürgermeister mit dem wichtigsten Banker der Stadt besprochen hat, trotz Outlook-Kalender und Sekretariat.

Die Bereitschaft, jeden unter den Bus zu schubsen, sobald Vorteile winken, wird eher als eklig empfunden. Jeder kennt diesen Typus, der immer auf der Höhe der Zeit ist, zur Not auch zulasten anderer. Gut, kann man sagen: Wer ist schon Florian von Brunn, der SPD-Mann, der bei der Landtagswahl mit der Fünf-Prozent-Hürde kämpft? Andererseits: Seine Zitate stehen in jeder Zeitung.

Politik ist ein eigenartiges Geschäft. Die gleichen Leute, die das Blaue vom Himmel versprechen (bezahlbare Mieten! Kitaplatz für alle Kinder!) und auch sonst keine Gelegenheit auslassen, sich als Samariter zu inszenieren, kennen umgekehrt keine Gnade, wenn sie Schwäche wittern. Negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland? Da fällt mir aber aus den letzten 75 Jahren einiges ein, das noch infrage käme.

Die Bürger haben ein untrügliches Gespür für Verlogenheit. Das beginnt mit der Behauptung, nicht das, was einer als 17-Jähriger getan habe, sei entscheidend, sondern, wie er sich später dazu verhalte. Nehmen wir für einen Moment an, Aiwanger hätte zugegeben, das schreckliche Flugblatt geschrieben zu haben. Seine Karriere wäre augenblicklich zu Ende gewesen.

Auch am Wort Kampagne haben seine Gegner Anstoß genommen. So dürfe man nicht reden, das sei Rechtspopulismus. Nennen wir es Herdentrieb, wenn das besser klingt. Oder was wäre das angemessene Wort dafür, dass alle mehr oder weniger in dieselbe Richtung schreiben?

Die Wähler sind, anders als man in vielen Redaktionen denkt, nicht blöd, nicht einmal in Niederbayern. Die Leute verfolgen nicht alle Windungen des politischen Geschäfts. Aber ob einem übel mitgespielt wird, jedenfalls übler, als es angebracht wäre, das bekommen sie schon mit.

Dazu kommt, dass sie instinktiv zurückscheuen, wenn sich alle zu einig sind. Journalisten neigen dazu, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, wenn sich das Opfer ihrer Berichterstattung nicht in das ihm zugedachte Schicksal fügt. Damit befördern sie allerdings den Eindruck, parteilich zu handeln, was wiederum die Zweifel an ihrer Lauterkeit verstärkt.

Wir haben das auf dem Höhepunkt der Wulff-Affäre gesehen. Obwohl die Mehrheit der Deutschen der Meinung war, dass er sich falsch verhalten habe, fand eine ebenso deutliche Mehrheit, dass die Medien sich auf unzulässige Weise gegen den Bundespräsidenten zusammengerottet hatten. Es gibt im Volk eine viel größere Bereitschaft, zu verzeihen, als man sich das in den tonangebenden Kreisen vorstellen kann. Gott Lob, muss man sagen.

Mir ist die Verurteilungsbereitschaft in der Politik immer schon suspekt gewesen. Sie bleibt ja auch nicht auf eine politische Richtung beschränkt. Vor eineinhalb Jahren verlor eine junge Fernsehmoderatorin ihren Job, weil sie als 20-Jährige an einer antisemitischen Demo teilgenommen hatte. In dem Fall erhob sich der Empörungssturm im rechten Lager. Es wird leicht vergessen, dass es auch die eigenen Leute erwischen kann. Wer gestern den Kopf des politischen Gegners gefordert hat, kann morgen nicht auf Nachsicht hoffen, wenn es ihn selbst trifft.

Nemi El-Hassan, so heißt die junge Frau, sollte Moderatorin bei Quarks, der Wissenschaftssendung des WDR, werden. Dann tauchten Bilder auf, die sie mit Kopftuch bei einem Al-Quds-Aufmarsch zeigten. Die Bilder waren neun Jahre alt, die Frau hatte inzwischen Medizin studiert und das Kopftuch abgelegt. Sie versicherte glaubhaft, wie furchtbar sie inzwischen jede Form des Antisemitismus finde. „Der Mensch, der ich heute bin, hat nichts mehr mit dem Menschen von damals zu tun“, sagte sie. Es half alles nichts: Erst verschob der WDR den Start der Moderation, dann zog der Sender sein Angebot zurück.

Mir hat die Moderatorin leidgetan. Es gibt für mich einen Unterschied zwischen Straftaten und Meinungsdelikten. Niemand sollte wegen Dingen, die er mal gesagt hat oder geschrieben hat, noch Jahre später erledigt werden können. Da sollten andere Verjährungsfristen gelten.

Aiwanger hat sich jetzt entschieden, den Trump zu geben. Bei seinen Auftritten im Bierzelt ist nicht mehr von den eigenen Verfehlungen die Rede, nur noch von den Feinden, die ihn beinahe erledigt hätten. Viele finden das degoutant. Sie erwarten, dass der Minister Reue zeigt.

Das wäre sicher wünschenswert. Aber es macht etwas mit Menschen, wenn man sie in die Enge treibt. Es verleitet sie selten zu Großmut und Einsicht. Aiwanger wird nie vergessen, wie sein politisches Überleben am seidenen Faden hing. Diese politische Nahtoderfahrung wird ihn im Zweifel kalt und hart machen, wenn das nächste Mal seine Duzkollegin von den Grünen, die fröhliche Frau Schulze, am Pranger steht.

Möglicherweise bin ich deshalb so nachsichtig, weil ich weiß, wie schnell man sich als Heranwachsender hinreißen lässt. Ich war in der zwölften Klasse, als ich mit zwei Spraydosen bewaffnet über den Zaun meiner Schule stieg, um ans Oberstufengebäude in mannshohen Lettern zu schreiben: „Isolationshaft ist Folter. Befreit die politischen Gefangenen der RAF“.

Das gab Ärger. Ich erinnere mich noch genau, wie mich der Schulleiter in sein Zimmer zitierte, um mich einem quälenden Verhör zu unterziehen. Wie er auf mich als Verdächtiger kam? Ganz einfach: Niemand hatte im Gemeinschaftskundeunterricht die Klappe so weit aufgerissen wie ich.

Was mich rettete, war der Umstand, dass mein Vater Elternratsvorsitzender war. Vor die Wahl gestellt, die Untersuchung mit kriminalistischen Mitteln voranzutreiben oder die Sache auf sich beruhen zu lassen, entschied sich die Schulleitung für Letzteres. Das ersparte mir nicht nur einen Verweis, sondern auch die Begleichung der Rechnung. Mit der Entfernung meiner Sprühparole war ein städtischer Reinigungstrupp eine Woche lang beschäftigt.

Wie wäre es aus gegebenem Anlass mit einer Amnestie für Jugendsünden, sozusagen als prophylaktische Anti-Trump-Maßnahme? In dem Zusammenhang könnte man auch Nemi El-Hassan eine zweite Chance geben. Wenn Aiwanger Wirtschaftsminister bleiben kann, warum dann nicht auch eine junge Frau, die sich für ihre spätpubertären Ansichten entschuldigt hat, als WDR-Moderatorin wieder aufnehmen?

© Silke Werzinger