Schlagwort: Politik

Trump beim Gillamoos

Es heißt, dass der Fall Aiwanger die politische Kultur in Deutschland nachhaltig verändern werde. Das glaube ich auch – allerdings anders, als Aiwangers Kritiker meinen

 In einer Geschichte über Hubert Aiwanger stand, dass die Freien Wähler im Landtag nicht unbeliebt seien, auch er nicht. Mit Katharina Schulze, der Spitzenkandidatin der Grünen, würde er sich sogar duzen.

Wenn man liest, was seit Tagen über Aiwanger geschrieben wird, muss man denken, der Himmel über dem Freistaat sei eingestürzt. Von einer „Schande für Bayern“, spricht Florian von Brunn, der Vorsitzende der bayerischen SPD. Dass Markus Söder seinen Wirtschaftsminister in der Regierung belasse, sei ein „negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland“. An anderer Stelle las ich, dass die Affäre geeignet sei, der politischen Kultur nachhaltigen Schaden zuzufügen.

Ich glaube auch, dass der Fall Aiwanger die politische Kultur verändern wird, nur anders als die Kritiker meinen. Bei vielen Menschen werden die vergangenen zwei Wochen die Vorbehalte verstärken, die sie ohnehin gegenüber Politik und Medien haben.

Viele Politiker meinen, dass es ihnen als Führungsstärke ausgelegt wird, wenn sie bei Verfehlungen anderer besonders markig auftreten. Ich habe da meine Zweifel. Wenn sich der Kanzler hinstellt und die Erinnerungslücken beim bayerischen Wirtschaftsminister geißelt, dann sagt sich doch der eine oder andere: Ziemlich dicke Backen für jemanden, der sich nicht einmal daran erinnern kann, was er vor sechs Jahren als Hamburger Bürgermeister mit dem wichtigsten Banker der Stadt besprochen hat, trotz Outlook-Kalender und Sekretariat.

Die Bereitschaft, jeden unter den Bus zu schubsen, sobald Vorteile winken, wird eher als eklig empfunden. Jeder kennt diesen Typus, der immer auf der Höhe der Zeit ist, zur Not auch zulasten anderer. Gut, kann man sagen: Wer ist schon Florian von Brunn, der SPD-Mann, der bei der Landtagswahl mit der Fünf-Prozent-Hürde kämpft? Andererseits: Seine Zitate stehen in jeder Zeitung.

Politik ist ein eigenartiges Geschäft. Die gleichen Leute, die das Blaue vom Himmel versprechen (bezahlbare Mieten! Kitaplatz für alle Kinder!) und auch sonst keine Gelegenheit auslassen, sich als Samariter zu inszenieren, kennen umgekehrt keine Gnade, wenn sie Schwäche wittern. Negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland? Da fällt mir aber aus den letzten 75 Jahren einiges ein, das noch infrage käme.

Die Bürger haben ein untrügliches Gespür für Verlogenheit. Das beginnt mit der Behauptung, nicht das, was einer als 17-Jähriger getan habe, sei entscheidend, sondern, wie er sich später dazu verhalte. Nehmen wir für einen Moment an, Aiwanger hätte zugegeben, das schreckliche Flugblatt geschrieben zu haben. Seine Karriere wäre augenblicklich zu Ende gewesen.

Auch am Wort Kampagne haben seine Gegner Anstoß genommen. So dürfe man nicht reden, das sei Rechtspopulismus. Nennen wir es Herdentrieb, wenn das besser klingt. Oder was wäre das angemessene Wort dafür, dass alle mehr oder weniger in dieselbe Richtung schreiben?

Die Wähler sind, anders als man in vielen Redaktionen denkt, nicht blöd, nicht einmal in Niederbayern. Die Leute verfolgen nicht alle Windungen des politischen Geschäfts. Aber ob einem übel mitgespielt wird, jedenfalls übler, als es angebracht wäre, das bekommen sie schon mit.

Dazu kommt, dass sie instinktiv zurückscheuen, wenn sich alle zu einig sind. Journalisten neigen dazu, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, wenn sich das Opfer ihrer Berichterstattung nicht in das ihm zugedachte Schicksal fügt. Damit befördern sie allerdings den Eindruck, parteilich zu handeln, was wiederum die Zweifel an ihrer Lauterkeit verstärkt.

Wir haben das auf dem Höhepunkt der Wulff-Affäre gesehen. Obwohl die Mehrheit der Deutschen der Meinung war, dass er sich falsch verhalten habe, fand eine ebenso deutliche Mehrheit, dass die Medien sich auf unzulässige Weise gegen den Bundespräsidenten zusammengerottet hatten. Es gibt im Volk eine viel größere Bereitschaft, zu verzeihen, als man sich das in den tonangebenden Kreisen vorstellen kann. Gott Lob, muss man sagen.

Mir ist die Verurteilungsbereitschaft in der Politik immer schon suspekt gewesen. Sie bleibt ja auch nicht auf eine politische Richtung beschränkt. Vor eineinhalb Jahren verlor eine junge Fernsehmoderatorin ihren Job, weil sie als 20-Jährige an einer antisemitischen Demo teilgenommen hatte. In dem Fall erhob sich der Empörungssturm im rechten Lager. Es wird leicht vergessen, dass es auch die eigenen Leute erwischen kann. Wer gestern den Kopf des politischen Gegners gefordert hat, kann morgen nicht auf Nachsicht hoffen, wenn es ihn selbst trifft.

Nemi El-Hassan, so heißt die junge Frau, sollte Moderatorin bei Quarks, der Wissenschaftssendung des WDR, werden. Dann tauchten Bilder auf, die sie mit Kopftuch bei einem Al-Quds-Aufmarsch zeigten. Die Bilder waren neun Jahre alt, die Frau hatte inzwischen Medizin studiert und das Kopftuch abgelegt. Sie versicherte glaubhaft, wie furchtbar sie inzwischen jede Form des Antisemitismus finde. „Der Mensch, der ich heute bin, hat nichts mehr mit dem Menschen von damals zu tun“, sagte sie. Es half alles nichts: Erst verschob der WDR den Start der Moderation, dann zog der Sender sein Angebot zurück.

Mir hat die Moderatorin leidgetan. Es gibt für mich einen Unterschied zwischen Straftaten und Meinungsdelikten. Niemand sollte wegen Dingen, die er mal gesagt hat oder geschrieben hat, noch Jahre später erledigt werden können. Da sollten andere Verjährungsfristen gelten.

Aiwanger hat sich jetzt entschieden, den Trump zu geben. Bei seinen Auftritten im Bierzelt ist nicht mehr von den eigenen Verfehlungen die Rede, nur noch von den Feinden, die ihn beinahe erledigt hätten. Viele finden das degoutant. Sie erwarten, dass der Minister Reue zeigt.

Das wäre sicher wünschenswert. Aber es macht etwas mit Menschen, wenn man sie in die Enge treibt. Es verleitet sie selten zu Großmut und Einsicht. Aiwanger wird nie vergessen, wie sein politisches Überleben am seidenen Faden hing. Diese politische Nahtoderfahrung wird ihn im Zweifel kalt und hart machen, wenn das nächste Mal seine Duzkollegin von den Grünen, die fröhliche Frau Schulze, am Pranger steht.

Möglicherweise bin ich deshalb so nachsichtig, weil ich weiß, wie schnell man sich als Heranwachsender hinreißen lässt. Ich war in der zwölften Klasse, als ich mit zwei Spraydosen bewaffnet über den Zaun meiner Schule stieg, um ans Oberstufengebäude in mannshohen Lettern zu schreiben: „Isolationshaft ist Folter. Befreit die politischen Gefangenen der RAF“.

Das gab Ärger. Ich erinnere mich noch genau, wie mich der Schulleiter in sein Zimmer zitierte, um mich einem quälenden Verhör zu unterziehen. Wie er auf mich als Verdächtiger kam? Ganz einfach: Niemand hatte im Gemeinschaftskundeunterricht die Klappe so weit aufgerissen wie ich.

Was mich rettete, war der Umstand, dass mein Vater Elternratsvorsitzender war. Vor die Wahl gestellt, die Untersuchung mit kriminalistischen Mitteln voranzutreiben oder die Sache auf sich beruhen zu lassen, entschied sich die Schulleitung für Letzteres. Das ersparte mir nicht nur einen Verweis, sondern auch die Begleichung der Rechnung. Mit der Entfernung meiner Sprühparole war ein städtischer Reinigungstrupp eine Woche lang beschäftigt.

Wie wäre es aus gegebenem Anlass mit einer Amnestie für Jugendsünden, sozusagen als prophylaktische Anti-Trump-Maßnahme? In dem Zusammenhang könnte man auch Nemi El-Hassan eine zweite Chance geben. Wenn Aiwanger Wirtschaftsminister bleiben kann, warum dann nicht auch eine junge Frau, die sich für ihre spätpubertären Ansichten entschuldigt hat, als WDR-Moderatorin wieder aufnehmen?

© Silke Werzinger

Im Reich des Schattens

Wir sind Meister darin, politische Modewörter zu erfinden. Statt von Schwachen redet man heute von „Vulnerablen“. Aber wenn es darauf ankommt, ist niemand in der Politik zu erreichen, wie das Schicksal der Schattenfamilien zeigt

Ich habe das Wort „Schattenfamilie“ zum ersten Mal gehört, als ich auf Twitter die Kommentare unter einem Beitrag von mir zu den Corona-Maßnahmen durchsah. Ein Leser fragte mich, ob ich nicht einmal über das Schicksal dieser Familien schreiben wolle. Das sei doch ein lohnendes Thema. Er könne mir da die wildesten Geschichten erzählen.

Das Wort leitet sich von „Schattenkind“ ab. So bezeichnet man ein Kind, das einen Geschwisterteil hat, der behindert ist oder an einer chronischen Krankheit leidet und deshalb die meiste Aufmerksamkeit der Eltern erhält. Schattenfamilien sind demnach Familien, die im Schatten eines solchen Sorgenkinds leben.

Der Begriff hat sich in der Pandemie etabliert. Viele Menschen fürchten sich vor Ansteckung, weil sie unsicher sind, wie ihr Körper auf das Virus reagiert. Aber die Sorge ist noch einmal eine ganz andere, wenn man ein Kind in der Familie hat, dessen Herz, Lunge oder Niere nicht richtig funktioniert, womit die Wahrscheinlichkeit, ernsthaft zu erkranken, exponentiell steigt.

Kleine Kinder sind auch schwerer zu isolieren. Ein erwachsener Mensch folgt der Einsicht, wenn er sich entscheidet, seine Kontakte zu reduzieren. Aber ein Fünfjähriger?

Der Vater, der mich anschrieb, hat eine Tochter, die mit Spina bifida zur Welt kam, einer Fehlbildung der Wirbelsäule, die ihr das Gehen sehr erschwert. Er arbeitet als Statistiker, wie er mir bei einem der Gespräche erzählte, die sich aus unserem Kontakt auf Twitter ergaben. Am Anfang der Pandemie war er erleichtert, als es hieß, dass im Wesentlichen Kinder mit Lungenproblemen ein erhöhtes Risiko hätten, schwer an Covid zu erkranken. Aber dann sah er Datensätze aus Amerika, wonach auch Kinder mit Spina bifida stark gefährdet sind.

Wie kann man sich gegen ein Virus schützen, das draußen grassiert? Wenn jeder Kontakt potenziell tödlich ist, bleibt nur, die Außenwelt auszuschließen. Wie viele Familien, in denen ein Kind chronisch krank ist, ging auch die Familie von Sebastian Mathis – so heißt der Vater, mit dem ich sprach – in die Selbstisolation. Das Wort Schattenfamilie ist durchaus wörtlich zu nehmen.

Man kann sich also die Erleichterung von Eltern wie Mathis vorstellen, als die erste Impfung zugelassen wurde. Die Impfung war für Kinder zwar nicht freigegeben, aber gerade bei behinderten Kindern werden viele Medikamente im sogenannten Off-Label-Use verschrieben.

Kinderärzte scheuen das Haftungsrisiko, das gilt zumal bei unerprobten Behandlungsmethoden. Aber auch da gab es eine Lösung. Alles, was es brauchte, war eine Änderung im Infektionsschutzgesetz. Zwei Zeilen, die es den Ärzten erlauben würden, Impfungen auf ausdrücklichen Wunsch der betroffenen Eltern vorzunehmen.

Mathis schrieb alle an, die Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die gesundheitspolitischen Sprecher der Parteien, Karl Lauterbach, das Gesundheitsministerium. Es wäre so einfach gewesen: eine Erklärung von offizieller Stelle, dass man die Schutzimpfung für den speziellen Kreis behinderter oder chronisch kranker Kinder empfehle. Aber niemand fühlte sich zuständig. Aus dem Gesundheitsministerium erhielt Mathis nicht mal eine Antwort. Mit jeder Woche, die ins Land ging, wuchs seine Verzweiflung und sein Zorn.

Wir reden gerne von den Schwächsten der Gesellschaft, denen man helfen müsse. Wir sind große Meister darin, neue Worte zu erfinden, die unser Mitgefühl ausdrücken sollen. Statt von Behinderten sprechen wir jetzt von den Vulnerablen. Das klingt gleich doppelt so sensibel. Aber wer wissen will, wie es abseits der Talkshows aussieht, dort, wo sich das reale Leben abspielt, auch das beschissene reale Leben, der muss nur mit Menschen wie Sebastian Mathis reden.

Wenn wir irgendwann auf die Pandemie zurückblicken werden, dann auch darauf, dass sie ziemlich schonungslos offengelegt hat, wer sich auf die Fürsorge der Politik verlassen kann und wer nicht. Am besten geschützt waren Menschen ab 65, die rüstigen Rentner, für die jeder Lockdown eine lästige, aber letztlich tolerable Einschränkung bedeutete. Kinder und Jugendliche hingegen rangieren auf der politischen Aufmerksamkeitsskala weit hinten. Ganz unten stehen Familien mit behinderten oder kranken Kindern, wie man jetzt weiß.

Im Sommer hatten Mathis und seine Mitstreiter endlich einen Arzt gefunden, der sich bereit erklärte, das Klagerisiko einzugehen und unter der Hand zu impfen. Zehntausend Kinder haben sie über die Monate vermittelt. Dass es da jemanden gebe, der helfen könne, verbreitete sich unter den Schattenfamilien wie ein Lauffeuer.

Seit Dezember sind Impfstoffe gegen Corona für Kinder ab fünf Jahren zugelassen. Jetzt beginnt das Spiel von vorn. Diesmal geht es um die Kinder unter fünf. Ich höre den Schrei der Impfgegner, die sagen, dass es unverantwortlich sei, so kleine Kinder zu impfen. Aber wer eine Tochter oder einen Sohn mit Trisomie 21 oder Spina bifida hat, der beurteilt das Risiko anders als ein Elternteil, dessen Kind eine Ansteckung mutmaßlich ohne große Folgen wegstecken wird.

Ich habe schon länger den Verdacht, dass diejenigen, die am eifrigsten mit Begriffen wie Solidarität hantieren, damit in Wahrheit am wenigsten am Hut haben. Der „Zeit“-Redakteur Bernd Ulrich schrieb einmal: „Auf jedem Armen sitzen zehn andere, die in seinem Namen Solidarität einklagen.“ Treffender kann man es nicht sagen.

Das Bekenntnis gegen Rassismus, Sexismus und Ausgrenzung ist ein Fashion-Item, ein Anstecker, den man sich anheftet, um zu zeigen, dass man dazugehört. Früher stellte man sein neues Auto aus, um andere zu beeindrucken. Heute hinterlässt man auf LinkedIn einen Eintrag, dass man es auch ganz wichtig findet, dass BIPoC zu ihrem Recht kommen, und wie schlimm es sei, dass es noch Hunger und Armut gibt.

In der „Süddeutschen Zeitung“ habe ich vergangene Woche ein Interview mit dem Arzt Gerhard Trabert gelesen, den die Linkspartei als Kandidat bei der Wahl zum Bundespräsidenten ins Rennen schickt. Ich war versucht, mich lustig zu machen. Der Mann hat keine Chance. Warum also gegen Steinmeier antreten?

Aber dann las ich, wie er sich seit Jahren um die medizinische Versorgung von Obdachlosen bemüht. Weil Menschen, die auf der Straße leben, so gut wie nie zum Arzt gehen, hat er sein Auto zur mobilen Praxis umgebaut und fährt damit in den Wald, zu Tiefgaragen und Domplätzen, wo Obdachlose leben.

Mir imponiert so jemand tausendmal mehr als die Siemens-Managerin, die mit Genderstern und Anti-Rassismus-Statements posiert. Ich teile nicht Traberts Sicht auf die Welt, natürlich nicht. Ich glaube keinen Augenblick, dass sich das Los armer Menschen verbessern würde, wenn wir alle nur noch die Hälfte verdienten. Aber ich habe großen Respekt vor jemandem, der seine Zeit der Aufgabe widmet, anderen zu helfen, anstatt über Solidarität nur zu reden.

Neulich hat Sebastian Mathis einen kleinen Sieg errungen. In der Behindertentoilette der Inklusionsschule, die seine Tochter besucht, steht jetzt ein Lüftungsgerät. Er hat auch dafür lange gekämpft. Diese Toiletten seien Virenhöllen, erklärte er mir, kleine, fensterlose Räume, in denen die Kinder nicht nur sauber gemacht werden, sondern in denen sie auch Nahrung zu sich nehmen, wenn sie über eine Sonde ernährt werden. Wenn es einen perfekten Ort gibt, um sich anzustecken, dann hier.

Als er sich beklagte, sagte man ihm, er habe doch ein Attest, das es ihm erlaube, seine Tochter aus der Schule zu nehmen. Das erklären die gleichen Leute, sagt er, die sonst keine Gelegenheit auslassen, darauf hinzuweisen, wie wichtig Inklusion sei. Der Widerspruch fällt ihnen nicht einmal auf.

Anfang Dezember nahmen Journalisten die Zustände an der Schule zum Anlass zu fragen, wo eigentlich die Gesundheitssenatorin sei. Zwei Tage später kamen Handwerker und installierten den Apparat.

©Sören Kunz