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Der Zwergenkanzler

Er wäre so gerne ein Großer. Manchmal steht Olaf Scholz vor dem Spiegel und übt heimlich Helmut-Schmidt-Gesten. Aber er ist nicht mal ein Schmidtchen, wie die vergangenen Tage gezeigt haben

Der unglücklichste Kanzler war Ludwig Erhard. Als er das Amt übernahm, hielt er sich für den richtigen Mann am richtigen Platz. Der Aufstieg Deutschlands vom niedergebombten Ruinenstaat zum bewunderten Wirtschaftsriesen verband sich mit seinem Namen. „Vater des Wirtschaftswunders“ nannten sie ihn.

Aber kaum im Kanzleramt eingezogen, wendete sich das Schicksal. Erhard war zu freundlich und zu konziliant für das Amt. Die Menschen machten Witze über ihn und den Bonner Kanzlerbungalow, das „Palais Schaumbad“ mit dem Mini-Schwimmbecken in der Mitte. Wofür, fragten die Zeitgenossen, braucht ein Nichtschwimmer einen Pool? Dazu kam der Spott des Erst- und Altkanzlers Konrad Adenauer, der keine Gelegenheit ausließ, seinen Nachfolger mit fiesen Kommentaren zu piesacken.

An zweiter Stelle der gescheiterten Kanzler steht Kurt Georg Kiesinger. Ein feinsinniger Mann, der nachts, wenn ihn die Schlafstörung heimsuchte, gerne im Badezimmer Gedichte las. Aber auch er war ein Mann des Übergangs. Kiesinger gilt heute als eher mediokre Gestalt. Am ehesten ist noch die Ohrfeige in Erinnerung, die ihm die Journalistin Beate Klarsfeld aus Empörung über seine NSDAP-Mitgliedschaft verpasste.

Wo steht Olaf Scholz, wo sieht er sich selbst? Dass es für die erste Reihe nicht reicht, dämmert ihm möglicherweise selbst, auch wenn er sich grundsätzlich für den Klügsten und Weitsichtigsten im Raum hält. Adenauer, Brandt, Kohl – das sind Namen aus einer anderen Liga. Wer es mit ihm sehr gut meint, wird ihm einen Platz im Mittelfeld zuweisen, neben Angela Merkel und Gerhard Schröder.

Die Historiker dürften weitaus ungnädiger urteilen. Wenn Scholz nicht noch auf den allerletzten Meter ein Husarenstück gelingt, wird er als glücklosester Kanzler aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Ein Zwergenkanzler, der vor der Wirklichkeit die Augen verschloss und die Dinge treiben ließ – und dann Führung beweisen wollte, als es zu spät war.

Mich verbindet mit der SPD eine lange, sentimentale Geschichte. Ich hielt sie immer für eine im Kern anständige Partei, glücklos mitunter, sicher, in ihren Ansprüchen nicht selten vermessen, ja hochtrabend, aber am Ende, wenn es darauf ankam, doch verlässlich.

Auch davon muss ich mich trennen. Der Kanzler erweist sich als rachsüchtiger Kleingeist, der ein Temperament erst entdeckt, wenn es um ihn selbst geht. Alles hat er an sich abperlen lassen: die Nöte des deutschen Mittelstands; die desaströsen Lageberichte des deutschen Heeres; die zunehmend verzweifelten Hilferufe der Ukraine, deren Jugend im Kampf für die Freiheit Europas verblutet.

Aber als ihm sein Finanzminister die Gefolgschaft aufkündigte, kannte er plötzlich kein Halten mehr. Ein „schlechter Mensch“ sei dieser Lindner, unseriös, egoistisch, skrupellos, ein Politiker, mit dem man nicht einen Tag länger zusammenarbeiten könne. So steigerte er sich in eine Suada der Erregung.

Leider sind die anderen Leute, die in der SPD den Ton angeben, nicht besser. Lars Klingbeil: ein Parteisoldat, der den Parteiegoismus unter seinem jungenhaften Charme verbirgt. Die unvermeidliche Saskia Esken, die noch dann die Lauterkeit der Sozialdemokratie beschwören würde, wenn sie morgen Nord Stream 2 wiedereröffneten. Und natürlich Rolf Mützenich, der Fraktionschef im Hintergrund, ohne den Scholz schon lange nicht mehr Kanzler wäre.

Wer mit falschen Heiligen vertraut ist, kennt den Typus. Wenn Mützenich vor die Presse tritt, dann mit dem gequälten Gesichtsausdruck des am Unrecht der Welt Verzweifelnden. Jede Entscheidung trägt er im sorgenvollen Tonfall eines Mannes vor, der sich wahrlich nichts leicht gemacht hat, auch wenn’s nur um den schnöden Machterhalt geht.

Bei Sonnenschein und mäßigem Wind lässt sich leicht regieren. Dazu braucht es nicht viel Könnerschaft. Der wahre Charakter zeigt sich im Sturm. So gesehen war der Überfall auf die Ukraine ein Glücksfall. Und zunächst sah es so aus, als wolle Scholz die Gelegenheit beim Schopf greifen und endlich Führungskraft zeigen. Die „Zeitenwende“, die er ausrief, sollte auch eine Wende in eigener Sache sein. Aber leider folgte dem nichts.

Die Bilanz nach drei Jahren fällt entsprechend düster aus. Die Sozialpolitik? Auf Pump finanziert, und in Teilen deshalb schon wieder notabgewickelt. Die Außenpolitik? Ein Trümmerfeld. In nur drei Jahren gelang es, nicht nur das Verhältnis zu Frankreich zu ruinieren, sondern das zu Polen gleich mit. Die Wirtschaftspolitik? Ein einziges Trauerspiel.

Im ARD-Presseclub erinnerte der „Wirtschaftswoche”-Chefredakteur Horst von Buttlar daran, dass derselbe Kanzler, der die Wirtschaft im Sommer dafür verspottete, dass sie ihm ihre Klagen vortrug, dem Land noch vor einem Jahr ein grünes Wirtschaftswunder in Aussicht gestellt hatte, mit Wachstumsraten von drei Prozent. Nun sind wir schon froh, wenn wir nicht Jahr um Jahr ärmer werden.

Scholz wäre so gerne ein Großer. Sein heimliches Vorbild ist Helmut Schmidt, der Mann mit der Lotsenmütze, Inbegriff des hanseatischen Krisenmanagers. Manchmal steht er vor dem Spiegel und übt heimlich Schmidt-Gesten.

Auch der Bruch der Koalition wurde als Wiederholung inszeniert. Bis in die Wortwahl glich die Begründung der Rede, mit der der berühmte Lotse 1982 das Ende seiner Regierung verkündete. Auch damals war vom hinterhältigen Anschlag der FDP die Rede. Der Unterschied ist: In Olaf Scholz sieht niemand einen Helmut Schmidt. Er ist nicht mal ein Schmidtchen.

So gleicht das Stück, dass die SPD aufführt, nicht der Tragödie, die sie so gerne auf dem Spielplan sehen würden, sondern bis in die Nebenrollen nur einer unfreiwilligen Komödie. Wer immer auf die Idee gekommen ist, dem FDP-Mann Wissing zusätzlich zum Verkehrsministerium auch noch das Justizministerium anzutragen, hat einen Sinn für abgründigen Humor. Jetzt darf der arme Mann bis Februar so tun, als sei er ein zweiter Karl Schiller, ein Superminister, auf dessen Wort ganz Deutschland hört. Das Lachen darüber hört man bis nach München.

Zwergenkanzler verzwergen auch das Land, dem sie vorstehen. Am Wochenende hieß es, es mangele an ausreichend Papier, deswegen könnten die Deutschen nicht schon im Januar oder Februar wählen. Das ist der Grund, den die Bundeswahlleiterin Ruth Brand nannte, um vor zu frühen Neuwahlen zu warnen.

Erst war es die Instabilität, die man Deutschland in so schwerer Zeit nicht zumuten könne, weshalb es besser sei, bis März eine Minderheitsregierung im Amt zu belassen. Dann war es die Erinnerung an die Nazis, derentwegen sich eine schnelle Vertrauensfrage des Kanzlers verbiete.

Kein Scherz, so sagte es der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese im Bundestag: Schon die Nationalsozialisten hätten die Republik in die Regierungsunfähigkeit zu manövrieren versucht, indem sie Zweifel an den Institutionen des Staates schürten. Dann, Ultima Ratio, die Papierknappheit.

Anderseits: Das passt zu einem Land, in dem führende Regierungsvertreter die Bürger vor dem Betreten von Brücken warnen, weil man deren Tragfähigkeit nicht länger gewährleisten könne, und jede Bahnfahrt zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang wird. Man fragt sich gelegentlich, wie es uns jemals gelingen konnte, die besten Flugzeuge und Autos der Welt zu bauen. Aber diese Errungenschaft stammt ja auch aus einer Zeit, als man sich noch nicht vor einem Wahltermin fürchtete.

Viel ist von dem Bild die Rede, das Deutschland im Ausland abgibt. Bei jedem Prozentpunkt mehr für die AfD wird warnend der Zeigefinger gehoben, welche abschreckende Wirkung der Erfolg der Rechten auf die Fachkräfte habe, die wir dringend bräuchten.

Ich gelange immer mehr zur Überzeugung, dass der größte Abschreckungseffekt von der Dysfunktionalität Deutschlands ausgeht. Wie attraktiv ist ein Land, in dem sich die Bahn im Postkutschentempo bewegt, das Internet auf dem Niveau von Burkina Faso liegt und man sich schon von einem außerplanmäßigen Wahlgang überfordert zeigt? Dann geht man doch lieber dahin, wo wenigstens die Steuern und Abgaben entsprechend niedrig sind.

Auch das spricht ganz klar gegen Deutschland: Nix hinbekommen – aber dafür die Bürger so zur Kasse bitten wie kein anderes Land in Europa.

© Sören Kunz

Still in Dubai

Der Iran ermordet einen deutschen Geschäftsmann, die Außenministerin kündigt „schwerwiegende Konsequenzen“ an. Und dann? Dann schließt sie ein paar Generalkonsulate. Mehr muss man über die deutsche Außenpolitik nicht wissen

Annalena Baerbock sieht blendend aus, um mal mit dem Positiven zu beginnen. Wenn sie die Gangway herab schreitet, sitzt jedes Haar. Neulich war sie im Nahen Osten unterwegs. Auf dem Pressefoto: die Ministerin mit schwarzer Sonnenbrille, schwarzem Hosenanzug und schwarzen Pomps umringt von vier Bodyguards. Atemberaubend. Ich dachte im ersten Moment, es würde sich um ein Szenenbild aus „Mission Impossible 5“ handeln. Aber nein, es war unsere Außenministerin im Einsatz für den Weltfrieden.

Normalerweise schickt es sich nicht, das Aussehen von Politikern zu kommentieren. Aber in dem Fall ist man dazu ja geradezu verpflichtet. 136000 Euro gibt Annalena Baerbock im Jahr für die Visagistin aus. Verschwendung von Steuergeldern ist ein großes Thema. Insofern ist man als kritischer Beobachter doch froh, wenn man sagen kann, dass das Geld gut angelegt ist.

Was die Außenpolitik angeht, sieht es leider nicht so rosig aus. Am vorletzten Montag hat das iranische Regime den deutschen Unternehmer Jamshid Sharmahd hinrichten lassen. Sharmahd unterhielt eine Webseite für Exiliraner, auf der er für die Rückkehr zur Monarchie warb. Das reichte für einen Platz auf der Todesliste. Während einer Geschäftsreise nach Dubai ließen ihn die Mullahs entführen, um ihn vor einem Revolutionsgericht in Teheran wegen „Korruption auf Erden“ abzuurteilen.

Kidnapping plus Geiselhaft plus Folter plus Mord: Das ist eine ziemlich lange Liste an Vergehen, selbst für einen Schurkenstaat wie den Iran. Dass man mal eben einen ausländischen Staatsangehörigen entführt, um ihn nach einem Schauprozess hinzurichten, kommt nicht mal im notorisch bedenkenlosen Nordkorea vor. Auch da kennt man politische Geiselnahme als diplomatisches Mittel, aber man bringt die Geiseln anschließend nicht einfach um die Ecke.

Der Kanzler sprach von einem „Skandal“ und verurteilte „aufs Schärfste“. Die Außenministerin verurteilte scharf und kündigte „schwerwiegende Konsequenzen“ an.

Wie die schwerwiegenden Konsequenzen dann aussahen? Der iranische Botschafter wurde ins Auswärtige Amt einbestellt, wo ihm mitgeteilt wurde, wie empört man sei. Und die Generalkonsulate in Hamburg, Frankfurt und München müssen schließen. Das Personal der Botschaft darf selbstverständlich unbehelligt im Land bleiben – man will schließlich die „stille Diplomatie“, an der Deutschland so viel liegt, nicht gefährden.

So sind wir: Immer bemüht, den richtigen Ton zu treffen, damit sich ja niemand vor den Kopf geschlagen fühlt.

Nicht einmal die bekannten Diktatorenanschmuser Viktor Orbán und Gerhard Schröder würden vermutlich bestreiten, dass eine Welt ohne Mullahs eine bessere Welt wäre. Hinter nahezu jeder Terrorgruppe, die dem Westen den Krieg erklärt, steckt der Iran. Führt das dazu, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um dem iranischen Regime das Überleben so schwer wie möglich zu machen? Selbstverständlich nicht. Wir schaffen es ja noch nicht einmal, die iranischen Revolutionsgarden als terroristische Organisation einzustufen.

Einem Artikel in der „Welt“ habe ich entnommen, dass wir im Zweifel sogar dabei behilflich sind, iranische Moralvorstellungen nach Deutschland zu exportieren. Vor dem Islamischen Zentrum in Hamburg, einem Außenposten des Mullahregimes, demonstrierte ein Trupp Exiliraner. Einige der Demonstranten verbrannten dabei einige Koranseiten.

In Deutschland läuft so etwas unter Religionskritik. Die Zeiten, als die Obrigkeit die Entweihung religiöser Symbole als Provokation empfand, sind lange vorbei. So sah es auch die Polizei, die herbeigerufen wurde, um die Personalien der Demonstranten aufzunehmen.

Aber dann beschwerte sich das iranische Generalkonsulat in Hamburg und verlangte eine „Verurteilung dieses kriminellen und höchst provokativen Aktes“. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen „gemeinschaftlicher Beschimpfung von Glaubensbekenntnissen“. Man will ja schließlich die Mullahs nicht gegen sich aufbringen!

Obacht also liebe Leute, wenn ihr das nächste Mal ein Kreuz zertrümmert oder eine Christusstatue entweiht: Die Strafe folgt auf dem Fuße. Kleiner Scherz. Die Empfindlichkeit gilt selbstverständlich nur bei Symbolen fremder Mächte. Die eigene Religion darf man trashen, so viel man will. Da kann man sogar den Papst mit vollgepinkelter Soutane zeigen, ohne dass von Staats wegen ein Hahn danach kräht. Neueste Variante übrigens im Fall Sharmahd: Der Verurteilte sei gar nicht hingerichtet worden, sondern kurz zuvor einfach verstorben, erklärte jetzt ein Justizsprecher der Behörde in Teheran.

Die deutsche Außenpolitik krankte schon immer am Missverhältnis zwischen Anspruch und Möglichkeiten. Seit Wochen ist Annalena Baerbock im Nahen Osten unterwegs, um eine Eskalation zu verhindern, wie das in der Sprache der „stillen Diplomatie“ heißt. Die beiden anderen Begriffe, die in dem Zusammenhang unweigerlich fallen, sind „Gewaltspirale“ und „Flächenbrand“.

Die Shuttlediplomatie ist natürlich ein Witz. Die Einzigen, die im Nahen Osten etwas zu sagen haben, sind die Amerikaner. Wenn die USA morgen ein Waffenembargo beschließen, kommt eine Woche später kein Kampfjet mehr vom Boden. Wenn die Deutschen damit drohen, keine Waffen mehr zu liefern, fehlen ein paar Helme. Das macht die Appelle der Ministerin unfreiwillig komisch.

Die Region, wo wir etwas ausrichten könnten, wäre die Ukraine. Aber da ziehen wir es vor, uns vornehm zurückzuhalten.

Ich habe dieser Tage ein bemerkenswertes Interview mit dem Osteuropaexperten Jan Claas Behrends gehört. Er könne ja nachvollziehen, dass die Bundesregierung der Ukraine keine Taurus in die Hand geben wolle, sagte er darin. Aber weshalb sie nicht einmal den Versuch mache, von den Russen eine Gegenleistung zu verlangen, sei ihm unbegreiflich. Man könnte ja zum Beispiel fordern, dass sie aufhören Krankenhäuser, Kindergärten und Kraftwerke zu beschießen. Der einzige, der ständig rote Linien aufstellt, die wir dann auch noch peinlich genau beachten, ist Putin. Auch so verliert man einen Krieg.

Wir hätten die Möglichkeit, den Krieg zu wenden. Noch ein Jahr, so sagen es die Militärs, und der Mann im Kreml bekomme ernsthafte Schwierigkeiten, weil ihm die Soldaten ausgingen. 1000 Tote am Tag, das hält auf Dauer nicht einmal Russland durch. Aber so weit möchte man es wiederum bei der SPD nicht kommen lassen. Tatsächlich ist die Unterstützung für die Ukraine so kalibriert, dass uns niemand vorwerfen kann, wir würden das Land schutzlos dem Feind überlassen. Aber wir liefern eben auch nie so viel, dass es sich wirklich verteidigen kann.

Die Einzigen, mit denen wir uns anlegen, sind Donald Trump und seine Leute. Da gibt auch der brave deutsche Diplomat seine Zurückhaltung auf und zeigt mal, was in ihm steckt. Dass wir nichts sind ohne den Raketenschutz aus Washington? Egal. Kamala Harris heißt unsere Heldin. So steuern wir auch außenpolitisch ohne Kompass und Segel dahin, getrieben allein von der Hoffnung, dass am Ende schon die Richtigen gewinnen.

Zum Schluss doch noch eine gute Nachricht. Wir finanzieren Solarmodule auf marokkanischen Moscheen. Kein Witz, acht Millionen Euro ist uns der Spaß wert. Wie es der Zufall wollte, ertönte neben mir gerade der Ruf des Muezzin, als ich davon las. Ich verbringe die Herbstferien regelmäßig mit der Familie in Marrakesch. Ich hatte also Gelegenheit, mich vom baulichen Zustand der marokkanischen Moscheen zu überzeugen.

Das Land leidet an Wassermangel, aber nicht an einem Mangel an Strom. Auch das Solarmodul ist dort wohl bekannt. Das Entwicklungshilfeministerium hat das Projekt nichtsdestotrotz in Auftrag gegeben, um auch den marokkanischen Imam in Sachen Energieeffizienz zu „sensibilisieren”, wie es in den Unterlagen heißt. Außerdem habe man das Thema Geschlechtergerechtigkeit adressiert: Sechs von neun Mitarbeitern, die man über die Vorteile erneuerbarer Energien unterrichtet habe, seien Frauen gewesen.

Man könnte verzweifeln, wenn es nicht so komisch wäre.

„Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“​: Warum die SPD in Berlin die Grünen verlassen hat

Die Grünen in Berlin können es nicht fassen: Die Sozialdemokraten haben sie verlassen – für einen 50-jährigen Versicherungsmakler mit Glatze und einem Hund, der Casper heißt. Was sagt der Therapeut?

Trennungen sind schmerzhaft. Erst recht, wenn man der Verlassene ist. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe ein ganzes Buch darüber geschrieben. Es heißt „Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“ – das ist der Satz, mit dem sich meine erste Frau von mir verabschiedete.

Ich habe überlegt, ob ich den Grünen in Berlin ein paar Exemplare schicken soll. Vielleicht hilft es ihnen, über den ersten Schock hinwegzufinden. Es ist immer die gleiche Geschichte: Bis eben noch schien alles in Ordnung. Und dann, bäm, liegt die Beziehung in Scherben. Statt, wie vereinbart, die sogenannte Fortschrittskoalition fortzusetzen, hat die SPD plötzlich alle Gespräche abgebrochen, um sich der CDU an den Hals zu werfen. Das tut schrecklich weh.

Ich gehe auf den Twitteraccount von Renate Künast, und ich sehe die Verzweiflung über die Zurückweisung. Die Fassungslosigkeit, vor vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein. Auch das Unverständnis, wie es überhaupt so weit kommen konnte.

„Abstoßend“ sei das Verhalten der SPD, schreibt die grüne Bundestagsabgeordnete aus Berlin. Kurzes Atemholen, dann der nächste Ausbruch: Die Sozialdemokraten erdreisten sich, den Grünen in einer Trennungserklärung die Schuld zuzuschieben? Ha! „Eine SPD, die in 34 Jahren in Berlin nichts hingekriegt hat, alles versemmelt von BER bis Schule, selbst hochzerstritten, schreibt so ein Papier der Niedertracht.“ SHAME ON YOU!

So geht es über Tage. Dazu immer wieder Retweets von Unterstützern („Es gibt keine rationale Erklärung für das Verhalten der SPD Berlin.“ „Ich habe selten mehr Heuchelei von einer Politker*in gehört. Ein Neuanfang hätte bedeutet, dass Franziska Giffey ihren Hut nimmt und komplett zurücktritt – und nichts anderes.“). Ich habe über meine Ex-Frau nicht anders geredet. Was habe ich sie verflucht! Allerdings war ich damit nicht auf Twitter.

So ist es meist: Den Zurückgewiesenen trifft der Trennungsentschluss aus heiterem Himmel. Als mir meine Frau eröffnete, dass sie sich von mir scheiden lassen wolle, war ich wie vom Donner gerührt. Sicher, wir hatten unsere Streitigkeiten gehabt. Aber nichts hatte mich auf das vorbereitet, was kommen würde.

Die erste Reaktion ist Unglaube. Dann kommt die Wut. Dann die Hoffnung, alles könnte sich als großes Missverständnis erweisen. Dann Resignation. Ganz am Ende steht so etwas wie Akzeptanz. Bei den Grünen schwanken sie noch zwischenUnglaube und Wut. Was die Traumabewältigung angeht, stehen sie ganz am Anfang.

Wäre ich Grüner, würde ich mir ebenfalls den Kopf zerbrechen, was in die SPD gefahren ist. Die SPD steigt mit dem Wechsel zur CDU ja nicht nur aus dem Fortschrittsprojekt aus, das sie eben noch selbst gefeiert hat. Sie muss auch aus dem Roten Rathaus ausziehen. Der Verlust einer geliebten Immobilie ist leider bei vielen Paaren eine unabwendbare Folge der Trennung.

Sich freiwillig in die Arme einer anderen Partei begeben, wenn man die Macht behalten könnte: Wie verrückt ist denn das?, fragen sie in der Grünen-Spitze. Und die Mehrheit im Bundesrat hat man auch noch für immer gegen sich. Ja, sind sie denn bei der SPD von allen guten Geistern verlassen!

Aber so ist das, wenn einer sich entschieden hat zu gehen: Dann kann ihn nichts mehr aufhalten. Wenn der Ärger über den Partner so groß ist, dass man seinen Anblick keinen Tag länger erträgt, dann will man nur noch weg, egal was es kostet.

Ich glaube, der Beschluss der SPD-Führung, die Koalition mit den Grünen aufzukündigen, ist in seiner Tragweite noch nicht wirklich erfasst. Es geht ja um mehr als einen Wechsel des Koalitionspartners. Der Entschluss markiert das Ende einer Ära.

Bis gestern galt Rot-Grün als natürliches Bündnis. Wo immer sich die Möglichkeit bot, eine sogenannte Zukunftsallianz zu schmieden, reichten die Sozialdemokraten den Grünen die Hand. Dass man aus einer Koalition mit den Freunden von der Ökopartei aussteigt, obwohl man hätte weiterregieren können, das hat es in 40 Jahren nicht gegeben.

Und die Alternative ist ja auch nicht so, dass jeder sagen würde: Klar, da muss man seinem Herzen folgen. Meine Frau hat mich damals für einen 15 Jahre jüngeren Mann verlassen, erfolgreicher Jurist, Kulturmensch durch und durch (man hatte sich über das Abonnement fürs Deutsche Theater in Berlin kennengelernt). Das habe ich verstanden. Nicht gebilligt, aber verstanden.

Aber der Abbruch einer langjährigen politischen Beziehung wegen eines 50-jährigen Versicherungsmaklers aus Spandau, der Heinrich Lummer zu seinen Vorbildern zählt und dessen Hund Casper heißt? Man fragt sich unwillkürlich: Was ist denn da vorgefallen?

Der Therapeut hätte gewusst, dass es auf Dauer nicht gut gehen kann. Wenn einer der beiden Partner den Eindruck hat, dass er in der Beziehung nur draufzahlt, wächst der Frust. Bei der Wiederholungswahl vor vier Wochen haben alle Parteien links der Mitte verloren. Aber für die SPD war es ein Desaster. Gerade mal 18,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, so tief sind die Sozialdemokraten in Berlin in 70 Jahren nicht gefallen.

Es war immer ein Missverständnis, dass der sozialdemokratische Wähler für grüne Botschaften empfänglich sei. Das Bioprogramm mit Lastenfahrrad, Genderstern und Antirassismusanschluss mag in der Altbauetage in Charlottenburg der Hit sein. Aber das Publikum, das dort wohnt, hat ohnehin schon vor Jahren zu den Grünen rübergemacht. Außer ein paar Jusos, die sich das WG-Leben von ihren Eltern in Stuttgart finanzieren lassen, ist da nichts mehr zu holen.

Wer heute noch sozialdemokratisch wählt, lebt in der Regel in Gegenden, die Grüne nur aus der Sozialreportage kennen. Oder im Vorort, also dem Albtraum des aufgeklärten Großbürgers aus Schottergarten, Nachbarschaftsterror und rassistischem Dünkel.

Der Sozialdemokrat im Außenbezirk fährt nicht Fahrrad, jedenfalls nicht, wenn er zur Arbeit muss. Er wird auch nie verstehen, warum man Clan-Kriminalität jetzt nicht mehr „Clan-Kriminalität“, sondern „familienbasierte Kriminalität“ nennt. Wenn er den Eindruck gewinnt, dass das wichtigste Projekt des Senats statt der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit von Schulen und Behörden die Stilllegung einer Einkaufsstraße in Berlin-Mitte ist, dann sagt er sich: Macht mal, aber ohne mich.

Man kann diese Verweigerungshaltung sehr schön am Farbwechsel in den Wahlkreisen sehen. Die Innenstadtbezirke sind auch nach der Wahl am 12. Februar mit wenigen Ausnahmen grün. Aber außerhalb des S-Bahn-Rings, also da, wo sich Innenstadt und Vorort trennen, ist alles, was vorher noch rot war, nun schwarz gefärbt.

Am stärksten war die SPD immer dann, wenn sie Leute an der Spitze hatte, in denen sich die Wähler wiedererkannten. Gerhard Schröder war so jemand, der mühelos den Kontakt nach unten wie oben herstellen konnte. Auch die Grünen verfügen durchaus über volkstümliche Charaktere. Tarek Al-Wazir in Hessen ist so jemand, Winfried Kretschmann und Boris Palmer in Baden-Württemberg. Aber gerade in den Großstädten dominiert oft noch der grüne Urtyp, dessen Selbstbewusstsein nur vom Sendungsbewusstsein übertroffen wird.

Dummerweise hat die SPD an der Seite der Grünen alles zu verachten gelernt, was sie einmal groß gemacht hat. Die SPD war ursprünglich nicht gegen Technik, sie war auch nicht gegen Atomstrom oder Wachstum. Dass Atomkraft des Teufels sei, Wachstum gefährlich und erst ein ökologisch vorbildliches Leben ein erstrebenswertes Leben, das haben sie sich bei den Grünen abgeschaut. Leider sind ihnen bei diesem Bewusstseinswandel die eigenen Wähler abhandengekommen.

Was sagt nun der Therapeut, warum die Sozialdemokraten in Berlin mit den Grünen Schluss gemacht haben? Wie heißt es so schön: Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Sie ertragen bei der SPD einfach die Besserwisserei der grünen Apostel nicht mehr, diese unendliche Arroganz und Hochnäsigkeit. Sie sagen sich: besser vier Jahre an der Seite eines etwas mediokren CDU-Bürgermeisters als eine weitere Wahlperiode Belehrung und Zurechtweisung.

So sehr mein Herz mit den Verlassenen schlägt: Ich kann es Franziska Giffey und ihren Leuten nicht verdenken.

© Sören Kunz

Alles gewusst, alles vorausgesehen

Wenn es einen Preis für Selbstgerechtigkeit gäbe, Angela Merkel würde ihn mühelos gewinnen. Sie verpasst keine Gelegenheit, um zu sagen, wie sehr sie mit sich im Reinen sei. Und nun kommen auch noch die Memoiren!

Vor vier Monaten saß Angela Merkel im Berliner Ensemble und sagte, sie werde nach ihrem Abschied aus dem Kanzleramt nur noch Wohlfühltermine wahrnehmen. Das war eine kleine Gemeinheit gegenüber dem neben ihr sitzenden Reporter Alexander Osang, weil man sich unwillkürlich fragte, ob der Gesprächsabend mit ihm auch schon als Wohlfühltermin angelegt war. Aber man durfte ihre Aussage so verstehen, dass sie sich in Zukunft rarmachen würde.

Leider hat sie sich nicht daran gehalten. Es vergeht keine Woche, ohne dass die Kanzlerin a.D. nicht irgendwo auftaucht und Ratschläge erteilt. Ende September war sie bei der Eröffnungsfeier der Kohl-Stiftung in Berlin, wo sie über sich, Kohl und Putin sprach. Dann hielt sie die Festrede zum 1100-jährigen Stadtjubiläum in Goslar, natürlich mit einem Blick nach Russland. Dann eine Woche später schon die nächste Festrede, diesmal anlässlich des 77. Geburtstags der „Süddeutschen Zeitung“, ebenfalls unter Berücksichtigung des deutsch-russischen Verhältnisses.

Zwischendurch war sie in New York, um den Preis des UN-Flüchtlingswerks für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise entgegenzunehmen, gefolgt von einem Auftritt in Lissabon, wo sie erklärte, weshalb sie ihre Entscheidung, bei der Energieversorgung ganz auf Russland zu setzen, in keiner Weise bereue.

Sie will recht behalten. Unbedingt.

Wandel durch Handel? Hat sie nie dran geglaubt. Putin als Kriegsherr? Hat sie sich nie Illusionen gemacht. Der Überfall auf die Ukraine? Hat sie lange kommen sehen.

Natürlich weiß sie auch genau, wie man es besser machen müsste. Den Verantwortlichen in der Regierung rät sie, mehr Führung zu zeigen. Für die Außenministerin hält sie den Ratschlag bereit, schon jetzt daran zu denken, wie man Russland wieder in die europäische Sicherheitsarchitektur einbinden könne. Das eigentlich Bemerkenswerte ist, würde ich sagen, dass die Leute nicht vor Lachen vom Stuhl kippen, wenn die 16-Jahre-Kanzlerin zu ihnen spricht. Aber so kann wahrscheinlich nur jemand denken, der nicht bei der „Süddeutschen“ beschäftigt ist.

Ich habe über alle Bundeskanzler geschrieben. Adenauer hielt keinen seiner Nachfolger für so geeignet wie sich selbst. Auch Kohls Dickfelligkeit war legendär. Wer nicht für ihn war, der war gegen ihn, dazwischen gab’s für ihn nichts. Aber in puncto Selbstgerechtigkeit bewegt sich Angela Merkel noch einmal in einer ganz eigenen Liga.

Man sieht es ihr auch an. Sie hat diesen Hals von Menschen bekommen, die meinen, alles im Leben richtig gemacht zu haben. Der Kopf sitzt so fest, dass nicht mehr viel Spielraum bleibt, außer für ein Nicken der Selbstzustimmung.

Der „Spiegel“ hat vergangene Woche das Ergebnis einer verdienstvollen Recherche zur Haltung ihrer Regierung zu Nord Stream 2 vorgelegt. Ein Redakteursteam hatte sich über Monate um Einsicht in das bislang geheim gehaltene Gutachten bemüht, in dem das damals noch von Peter Altmaier geführte Wirtschaftsministerium die Risiken einer weiteren Gaspipeline nach Russland bewerten sollte. Es gab Warnungen, vor allem aus Osteuropa und den USA, dass Deutschland durch die Inbetriebnahme in noch größere Abhängigkeit vom Kreml geraten würde.

Sonnigste Einschätzung hingegen aus Berlin: Die neue Pipeline werde die europäische Versorgungssicherheit nicht schwächen, sondern im Gegenteil erhöhen. Gazprom habe grundsätzlich keinen Einfluss auf die durchgeleitete Liefermenge, es stelle nur den Transport sicher. Mehr Röhren, mehr Gas, mehr Verlässlichkeit – so lautete das Fazit vier Monate vor Kriegsausbruch und acht Monate bevor Putin den Gashahn schloss.

Alles vorausgesehen? Alles richtig gemacht?

Von den vielen Ministern, die Angela Merkel dienten, war Peter Altmaier immer der Treueste der Treuen. Nie hätte er es gewagt, gegen die Chefin aufzumucken oder eine Entscheidung in die Wege zu leiten, die sie hätte unglücklich machen können. Man darf also seine Einschätzung durchaus der Kanzlerin zurechnen. Die Sache ist eindeutig: Keine Regierung hat uns so abhängig gemacht von der Energiezufuhr durch einen uns feindlich gesonnenen Staat wie die von Angela Merkel. In ihrer Amtszeit ist die Abhängigkeit von russischem Gas von 43 Prozent auf 55 Prozent gestiegen. Aber wie gesagt: auf weiter Flur kein Grund zur Reue.

©Silke Werzinger

Das Dumme ist: Es wird nicht besser. Im Kanzleramt sitzt ein Mann, der so sein will wie seine Vorgängerin. Wenn es für ihn ein Vorbild gibt, an dem sich Olaf Scholz orientiert, dann die Frau mit dem Selbstbewusstsein einer göttlichen Kaiserin. Als er in den Wahlkampf zog, war sein Versprechen: Ich bin so wie Angela Merkel, nur ohne Raute. Man hat ihn dafür verspottet. Aber die Leute, die Merkel wiedergewählt hätten, wenn man sie gelassen hätte, waren zahlreich genug, um ihn ins Kanzleramt zu bugsieren.

Noch besser, als im Nachhinein recht zu behalten, ist es, alles vorher gewusst zu haben. Auftritt Olaf Scholz beim Maschinenbau-Gipfel am Dienstag vergangener Woche. Putin setzt Gas als Waffe ein? Zitat Scholz: „Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde.“

Gerhard Schröder konnte immerhin von sich sagen, dass er in Putins Reptilienaugen das Gute gesehen habe. Merkel und Scholz haben sich nach eigener Aussage nie Illusionen hingegeben. Wie soll man ihr Verhalten nennen? Sie wussten, wozu Putin in der Lage ist, und haben ihm trotzdem die Gaswaffe in die Hand gedrückt und sogar noch durchgeladen? Blauäugigkeit fällt als Erklärung damit aus. Wäre ich Rechtsbeistand der beiden, würde ich sagen: Vorsicht, eine Klage wegen Landesverrats ist schnell auf den Weg gebracht. Besser sich auf Fahrlässigkeit herausreden. Klingt nicht so gut, erspart einem aber im Gegensatz zu Vorsatz eine Menge Scherereien.

Würde das Eingeständnis, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat, die Situation, in der wir uns befinden, besser machen? Würde es nicht. Aber es könnte dazu beitragen, dass man den gleichen Fehler nicht wiederholt. Vergangenheitsbewältigung ist immer auch Gegenwartsvorsorge. Wer erkennt, wo er mit seiner Einschätzung danebengelegen hat, ist das nächste Mal möglicherweise gewarnt.

Die meisten denken bei China an den riesigen Absatzmarkt. Aber wenn wir nicht aufpassen, tauschen wir gerade bei der Energieproduktion eine Abhängigkeit gegen die andere ein. Keine anderen Energiequellen verschlingen, über ihren Lebenszyklus gerechnet, so viele seltene Metalle und Erden wie Photovoltaik und Windkraft. Und raten Sie mal, wo ein Großteil der Metalle herkommt, die man benötigt, um Solarpaneele und Windräder herzustellen? Es ist leider nicht Europa, sondern das Land der Mitte.

Angela Merkel arbeitet jetzt an ihren Memoiren, zusammen mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann. „Das Buch wird einen exklusiven, persönlichen Einblick geben in das politische Leben und Wirken der Bundeskanzlerin a.D.“, heißt es in der Verlagsankündigung von Kiepenheuer & Witsch, wo die Biografie im Herbst 2024 erscheinen soll. Die Autorin lässt sich mit dem Satz zitieren: „Ich freue mich, zentrale Entscheidungen und Situationen meiner politischen Arbeit zu reflektieren und sie, auch mit Rückgriff auf meine persönliche Geschichte, einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.“

Man muss kein Hellseher sein, um zu sagen, was in den Memoiren stehen wird. Unsere ehemalige Bundeskanzlerin ist mit sich im Reinen. Ihre Politik war im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos. Wer es anders sieht, hat nichts begriffen und nichts verstanden. Ein ideales Geschenk für Masochisten. Aber auch davon gibt es in Deutschland genug, sodass zumindest einer schönen Platzierung auf der Bestsellerliste nichts im Wege steht.

Im deutschen Wolkenkuckucksheim

Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie ihre Wirtschaft retten können. Nur in Deutschland gilt: Hauptsache, klimaneutral! Wenn schon Untergang, dann auf jeden Fall sauber

Am 14. März 2020 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium eine Warnung. „Achtung Fake News!“, hieß es darin. „Es wird behauptet und rasch verbreitet, die Bundesregierung würde bald weitere massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt nicht! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Als gutwilliger Bürger fragte man sich, wie man dem Appell Folge leisten sollte. Wie stoppt man die Verbreitung von Fake News? Indem man das Gegenteil in Umlauf bringt? Auch das hilft ja leider nicht gegen Falschnachrichten, weil man erst einmal sagen muss, wogegen man ist, um es dann richtigzustellen.

Zum Glück hatte sich das Problem schon zwei Tage später erledigt. Da beschlossen Bund und Länder genau die Einschränkungen, die das Gesundheitsministerium gerade ausgeschlossen hatte.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Lockdown. Als ich mich auf einer Parkbank im Englischen Garten niederlassen wollte, um ein Buch zu lesen, traten zwei Polizisten auf mich zu, weil das Niederlassen auf einer Bank zu Lesezwecken nun als Ordnungswidrigkeit galt. Vermutlich hält man im Bundesgesundheitsministerium den Aufenthalt im Freien ohnehin für überbewertet.

Ich musste an die Warnung aus dem ersten Corona-Jahr denken, als ich vergangene Woche folgenden Anti-Fake-News-Tweet aus dem Bundeswirtschaftsministerium sah:

„Wir haben eines der zuverlässigsten Stromnetze weltweit und eine hohe Versorgungssicherheit. Trotzdem kursieren unter #Blackout, #Stromausfall oder #Lastabwurf Behauptungen im Netz, die unbegründet Panik verbreiten.“ Es folgte eine ausführliche Begründung, weshalb Stromausfälle in Deutschland so gut wie ausgeschlossen seien.

Wir werden sehen, wie lange diese beruhigende Nachricht hält. In jedem Fall würde ich dazu raten, sich doch mit anderen Dienststellen abzustimmen, um unnötige Irritationen zu vermeiden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenalarm zum Beispiel rief erst vor zwei Wochen zum Anlegen eines zehntägigen Vorrats für den Fall von Stromausfällen auf („Bei der Zusammenstellung Ihres Notvorrats kommt es auch auf eine durchdachte Planung an“).

Es könnte sicher auch nicht schaden, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck einmal seine grüne Parteivorsitzende zur Seite nehmen würde, damit sie in ARD-Interviews nicht weiter den Lastabwurf empfiehlt und so „unbegründet Panik verbreitet“, wie es in der Mitteilung aus seinem Hause heißt.

Wir leben in einem merkwürdigen Zwischenreich. Einerseits kommt uns mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung gerade die Grundlage unserer Volkswirtschaft abhanden. Andererseits tut die Regierung so, als ob alles so weiterlaufen könnte, wie im Koalitionsvertrag vereinbart und niedergelegt.

Natürlich gilt weiter das Aus für die Kohle. Vor wenigen Tagen hat Robert Habeck mit RWE eine Vereinbarung geschlossen, wonach der Kohleausstieg nicht aufgeschoben, sondern im Gegenteil um acht Jahre vorgezogen wird – von 2038 auf 2030. Selbstverständlich wird auch am Atomausstieg festgehalten. Und ich bin sicher, wenn man die Verantwortlichen fragen würde, wie es mit dem Plan aussieht, zwei Dutzend neue Gaskraftwerke zu bauen, als Brückentechnologie auf dem Weg in die erneuerbare Zukunft, lautet die Auskunft: alles nach Plan.

Wie soll man das nennen? Deutscher Sonderweg? Kosmisches Gottvertrauen? Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie dafür sorgen können, dass ihre Wirtschaft nicht koppheister geht – nur in Berlin zimmern sie fröhlich weiter am Wolkenkuckucksheim. Es ist faszinierend, aber auch etwas beängstigend.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Energiekrise lautet, kurz gefasst: jetzt erst recht. Also nun erst recht den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren und den Abschied aus dem fossilen Zeitalter vorantreiben. Man kennt das aus Managementseminaren, wo der Motivationstrainer Leuten, denen es den Boden unter den Füßen weggezogen hat, rät, sie sollten die Krise als Chance begreifen. Als Zuschauer sagt man sich da: Arme Teufel, in deren Haut möchte man auch nicht stecken. Leider sind wir in dem Fall alle Teilnehmer des großen Managementexperiments.

©Michael Szyszka

Schon die jetzigen Pläne sind völlig unrealistisch. Der „FAZ“-Redakteur Morten Freidel hat sich neulich die Mühe gemacht, einmal nachzurechnen. Um ihre Ziele zu erreichen, müsste die Regierung jeden Tag vier große oder acht kleine Windräder bauen, und das über die nächsten zehn Jahre. Selbst wenn man auf alle Genehmigungsverfahren von heute auf morgen verzichten würde: Dafür gibt es weder das Material noch die Monteure – von den Kosten gar nicht zu reden.

Und im Jahre 2045, wenn alles ausgestanden ist, weil Deutschland dann endlich klimaneutral ist, wie es die Befürworter erhoffen, ginge es wieder von vorne los. Auch ein Windrad hält nicht ewig. Nach 20 Jahren muss es ersetzt werden. Was bedeutet, dass ein nennenswerter Teil der Volkswirtschaft konstant damit beschäftigt wäre, für den Wind zu sorgen, der das Land am Laufen halten soll.

Ohne ein gewisses Maß an Energieunabhängigkeit wird es nicht gehen, jedenfalls wenn wir Industrienation bleiben wollen. Und die sollte nicht zu lange auf sich warten lassen. Die 200 Milliarden für den Gaspreisdeckel reichen bis Ende kommenden Jahres. Aber dann steht wieder ein Winter vor der Tür. Und danach noch einer. Und dann noch einer.

Wir sind ein reiches Land, das ist die gute Nachricht. Wir sind sogar ein energiereiches Land. Wir verfügen über Gasvorkommen, die uns für 20 Jahre von den Launen des Energiemarktes unabhängig machen könnten. Dummerweise ziehen wir es vor, über diesen Reichtum nicht einmal zu reden. Das meiste Gas liegt in Niedersachsen. Wie man lesen konnte, hat keine Partei im Wahlkampf die Gasvorkommen auch nur mit einem Wort erwähnt. Auch das ist eine Strategie: Umgehung der Realität durch kollektives Beschweigen. Darin haben wir in Deutschland eine gewisse Übung.

Glaubt man den grünen Strategen, ist klar, wer am Wahlerfolg der AfD schuld ist: die CDU, weil ihr Parteivorsitzender vor der Einwanderung in unser Sozialsytem gewarnt hat. Das macht das Leben im Wolkenkuckucksheim so angenehm: Man kann sich immer die Erklärung heraussuchen, die einem am besten passt. Auf den Demonstrationen spielt die Einwanderung hingegen kaum eine Rolle, dort geht es vor allem um Inflation und Energiepreise.

Die Lösung der AfD lautet: Nord Stream 2 aufmachen. Ich bin absolut dagegen. Ich hielte es für einen Riesenfehler, dem Terroristen im Kreml zu signalisieren, dass er machen kann, was er will, solange er uns nur wieder Gas liefert. Aber wenn man gegen Gas aus Russland ist, sollte man eine Alternative nennen können. Die Alternative kann nicht sein, darauf zu hoffen, dass uns die wundersame Umwandlung von Strom in Wasserstoff von allen Beschwernissen erlösen wird.

60 Prozent der Deutschen sagen, dass sie derzeit keiner Partei zutrauen, die Probleme in den Griff zu bekommen, vor denen das Land steht. Ein Rekordwert. Ich weiß, in der Regierung halten sie die Leute für zu blöd, die Weisheit der Energiewende zu erkennen. Aber die Leute sind nicht alle blöd. Sie ahnen: Alles abschalten ist auf Dauer auch keine Lösung.

Der Internationale Währungsfonds hat Mitte der Woche seine Prognose für das kommende Jahr veröffentlicht. Bei keinem Land sieht die Vorhersage so düster aus wie bei Deutschland. Doch bei einem: Russland, da ist es noch schlimmer. Das ist allerdings auch der einzige Trost.

Wäre ich Zyniker, würde ich sagen: Hauptsache, wir halten unsere Klimaziele ein. Wenn schon Untergang, dann wenigstens sauber.

 

Apokalypse und Filterkaffee

Die Parteien überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern beistehen könne. Noch mehr als Putin fürchten sie in Berlin den Zorn der Straße. Was, so die bange Frage, wenn der Deutsche wieder andere Seiten aufzieht

Kein Bürger werde alleingelassen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt. Das sollte vermutlich beruhigend wirken. Bei mir löst eine solche Ankündigung eher Beklemmung aus. Ich mag es nicht, wenn man mir zu sehr auf die Pelle rückt, erst recht nicht von Staats wegen.

In allen Parteien überschlagen sie sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern in der Krise beistehen könne. Die SPD will Hilfen für Mieter durchsetzen, die ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Weil der schwarze Peter dann bei den Vermietern hängen bleibt, soll den Vermietern selbstverständlich ebenfalls geholfen werden.

Die CDU hat eine Verlängerung des Tankrabatts sowie ein verbilligtes Bahn-Ticket ins Programm aufgenommen. Die Grünen würden am liebsten die Kündigung von Mietern ganz aussetzen. Moratorium nennen sie das, was nur der erste Schritt hin zu einem dauerhaften Kündigungsschutz sein kann. Die einzige Partei, die keine neuen Hilfen verspricht, ist die FDP. Sie will stattdessen zur Schuldenbremse zurück. Vielleicht liegt sie deshalb in den Umfragen so weit hinten.

Das Blöde an Steuergeschenken ist, dass auch für sie jemand bezahlen muss. Dieses ökonomische Gesetz kann selbst die beste sozialstaatliche Förderung nicht außer Kraft setzen. Da es nicht die Politiker sind, die für die Entlastungen geradestehen, die sie versprechen, müssen andere ran, im Zweifel die Leute, die gerade beschenkt wurden.

Die Zustimmung zum Sozialstaat beruht nicht zuletzt auf der Illusion, dass man zu den Gewinnern zählt. Auf die eine oder andere Weise profitiert fast jeder von seinen Segnungen. Da verbilligte Operntickets ebenso zum Angebot zählen wie VHS-Kurse, in denen man in die Kunst des sanften Atmens eingewiesen wird, ist es für viele gar nicht so einfach zu sagen, ob sie am Ende nun draufzahlen oder nicht.

Jetzt geht es also gegen die Gaskrise. Niemanden im Stich lassen zu wollen klingt nobel. Was ist gegen Hilfe in der Not zu sagen? Wenn man genau hinhört, durchzieht die Ankündigungen allerdings ein weiteres Motiv: eine klammheimliche Angst vor dem Bürger. Noch mehr als Wladimir Putin scheinen sie in Berlin den Zorn der Straße zu fürchten. Von der Fürsorge zum Versuch der Ruhigstellung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Unsere Innenministerin Nancy Faeser hat es offen ausgesprochen, als sie vor Protesten wegen steigender Energiepreise warnte. In der Corona-Zeit hätten Menschen zusammen mit Rechtsextremisten ihre Verachtung für die Demokratie rausgebrüllt, sagte sie. Diese Gefahr bestehe wieder. Der thüringische Verfassungsschutz-Chef spricht von Aufmärschen, gegen die alle Corona-Demos ein „Kindergeburtstag“ gewesen seien.

Ungeklärt ist noch die Frage, wie jemand heißt, der Anstoß an ständig steigenden Heizkosten nimmt. Energieleugner? Wobei, die Energiepreisleugner sitzen ja eher im Lager derjenigen, die bis vor Kurzem jede Inflationsgefahr bestritten. Also vielleicht: Energiewendequerdenker. Das klingt hinreichend bedrohlich.

Es ist eigenartig: Auf der einen Seite sehen wir uns als eine der fortschrittlichsten Nationen der Welt. Gerade erst hat die Bundesregierung unter großem Beifall ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach man einmal im Jahr das Geschlecht wechseln kann. Seinen Nachnamen ändern zu lassen ist in Deutschland in Zukunft schwieriger als die Überwindung der Biologie. Andererseits gelten wir Deutsche als latent rückfallgefährdet. Kaum droht im Winter die Heizung kalt zu bleiben und schon marschieren auf den Meinungsspalten die braunen Horden durchs Brandenburger Tor.

Lauert unter der Oberfläche das Böse? Wartet der Nazi in uns nur darauf, wieder durchzubrechen? Das ist die große Frage. Der Politologe Herfried Münkler, mit dem ich die Tage zum Mittagessen zusammensaß, unterscheidet drei Wege, wie sich offen revisionistische Mächte einhegen lassen: Appeasement, Abschreckung und Agressionsabbau durch Wohlstandszuwachs.

Deutschland war auf dem dritten Weg spektakulär erfolgreich. Je dicker und zufriedener die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, desto demokratischer wurden sie auch. Aber damit bleibt natürlich der Verdacht, dass die Deutschen die Demokratie nicht um ihrer selbst lieben, sondern weil sie sich Vorteile versprachen. Das verleiht der Diskussion um den Gasnotstand ihren existenzialistischen Touch: Was, wenn der Wohlstand schrumpft? Schrumpft dann auch die Demokratietreue?

Ich habe die Diskussion in anderen europäischen Ländern nicht so genau verfolgt. Aber mein Eindruck ist, dort nimmt man die Krise mit größerer Gelassenheit. Ein Freund, der vor zwei Wochen seinen Schreibtisch in München mit dem Balkon am Lago Maggiore tauschte, berichtet, dass die Gasknappheit in den italienischen Zeitungen kein großes Thema sei. Auch in Paris oder Amsterdam ist die Lage vergleichsweise ruhig.

Ist es schlau, dass unsere Regierungsvertreter jeden Tag über ihre Ängste sprechen? Ich habe da meine Zweifel. Wie man sieht, fühlt sich Putin durch das sorgenvolle Händeringen, wie schlecht wir ohne sein Gas dastünden, ermuntert, uns unsere Abhängigkeit jede Woche aufs Neue vor Augen zu führen. Mal gibt es 40 Prozent der zugesicherten Gasmenge. Dann gar nichts mehr. Dann wieder etwas. Dann nur noch 20 Prozent. Man kennt das aus dem Tierreich. Es gibt Hunderassen, die erst recht zubeißen, wenn ihnen ein Tier die Kehle zeigt.

Auch im Hinblick auf die innenpolitische Lage scheint es mir nicht besonders klug, Alarmstimmung zu verbreiten. Wenn man als Politiker ständig davon redet, dass die Leute revoltieren könnten, sagen sie sich irgendwann: Dann lass uns das doch mal versuchen.

In Wahrheit misstraut die Politik dem Bürger, deshalb die fürsorgliche Belagerung. Sie hält ihn für ein Mängelwesen, politisch ungefestigt und in Alltagsdingen überfordert.

Der Bürger, wie ihn die Politik sieht, isst und trinkt zu viel. Er arbeitet bis zum Burnout und guckt Fernsehsendungen, die ihn verdummen. Im Supermarkt ist er total aufgeschmissen, weil die Auswahl immer größer wird und er alles für bare Münze nimmt, was ihm die Werbung sagt. Natürlich ist er auch leicht verführbar durch einfache Antworten, wie die Schalmeienklänge der Populisten heißen. Der Politikbetrieb spricht vom „verletzlichen Verbraucher“. Lässt sich ein schöneres Wort für den Gegenentwurf zum mündigen Bürger denken?

Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat angeregt, die Deutschen sollten länger arbeiten, um sich ihren Wohlstand zu erhalten. Es gab sofort Protest. Aber ich glaube, viele wissen insgeheim, dass er recht hat. Am Anfang des deutschen Wirtschaftswunders, das uns zu guten Demokraten gemacht hat, stand nicht die 35-Stunden-Woche, sondern eine kollektive Kraftanstrengung. Das haben außerhalb der Sozialverbände noch nicht alle vergessen.

Wer weiß, vielleicht sind die Deutschen robuster, als viele Politiker denken. Klar, wir müssen dankbar sein, dass wir nach dem Krieg so gründlich pazifiziert wurden, dass heute schon der Ausfall der Klimaanlage im ICE den Anwalt auf den Plan ruft. Aber könnten wir uns nicht ein kleines bisschen auf den Durchhaltewillen besinnen, den diese Nation einmal auszeichnete? Nur vorübergehend, im Streckbetrieb sozusagen, bis die kalten Monate vorbei sind und in Wilhelmshaven endlich das erste Flüssiggasterminal steht?

Wir müssen ja nicht gleich wieder bis nach Stalingrad durchmarschieren. Zwei Pullover übereinander und die Heizung bei 18 Grad, das würde für den Anfang reichen.

©Silke Werzinger

Worüber reden sie?

Olaf Scholz ruft laufend bei Wladimir Putin an, um ihm zu sagen, wie isoliert er doch sei. In der Psychologie nennt man das paradoxe Kommunikation: Das, was man tut, widerlegt das, was man sagt

Vor zwei Wochen hat Olaf Scholz wieder mit Wladimir Putin telefoniert. 80 Minuten dauerte das Gespräch. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron war ebenfalls zugeschaltet. Neuauflage des Normandie-Formats, mit dem schon Frank-Walter Steinmeier die Russen vom Frieden überzeugen wollte – diesmal als Teams-Meeting.

Wie redet man mit einem Kriegsverbrecher? Geht man zusammen den Frontverlauf durch? Unterrichtet man ihn über die neuesten Waffenlieferungen, damit er davon nicht erst aus dem Fernsehen erfährt? Wechselt man zum Small Talk, wenn der Gesprächsfluss zu stocken droht? 80 Minuten sind eine lange Zeit. Viele Paare sprechen in einer Woche nicht so viel miteinander.

Der Kreml hat anschließend eine Zusammenfassung der für die russische Seite wichtigsten Punkte veröffentlicht. Danach hat Putin die Gelegenheit genutzt, seine beiden Gesprächspartner mit neuen Drohungen zu überziehen. Im Drohen hat er inzwischen eine gewisse Übung. Wenn der Westen nicht die Sanktionen beende, werde Russland alle Getreidelieferungen blockieren. Hunger als Waffe, das gab es schon bei Stalin. Hat damals vier Millionen Menschen das Leben gekostet. Die gute Nachricht aus deutscher Sicht: Anders als die Atombombe trifft ein Getreideboykott nur die Dritte Welt.

Es heißt, solange man miteinander rede, werde nicht geschossen. Putin zeigt, dass beides mühelos gleichzeitig geht. Während er mit Scholz und Macron redet, lässt er seine Soldateska morden, vergewaltigen und brandschatzen. Vielleicht stachelt es ihn sogar an, dass die beiden ihn ständig anrufen. Es soll Menschen geben, die einen perversen Reiz empfinden, anderen ihre Macht zu demonstrieren, während sie gleichzeitig Höflichkeiten austauschen.

SPD-Chef Lars Klingbeil hat vor wenigen Tagen eine bemerkenswerte Erklärung für die Telefondiplomatie geliefert. Die Gespräche dienten dazu, Putin deutlich zu machen, wie isoliert er sei. Inzwischen sei man dabei ein gutes Stück vorangekommen. Klingbeil wertet die Telefonate daher als Erfolg.

Das ist eine Begründung, über die es sich nachzudenken lohnt. Der deutsche Bundeskanzler sucht also regelmäßig den Kontakt zu einem Mann, der sich aus allen völkerrechtlichen Bindungen gelöst hat, um ihm zu sagen, dass niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben will? In der Psychologie nennt man das paradoxe Kommunikation: Das, was man tut, widerlegt das, was man sagt.

Bei kleinen Kindern ist es der sicherste Wege, sie in eine Psychose zu treiben. Auch bei Erwachsenen kann dieses Verhalten Verhaltensstörungen auslösen. Ich vermute allerdings, dass Putin über den Punkt hinaus ist, an dem man ihn noch mit Psychotricks in die Enge treiben kann. Wer die Kreml-Diplomatie durchlaufen hat, der übersteht auch 80 Minuten mit dem Scholzomat. Das ist einer der Vorteile, wenn man im KGB aufgewachsen ist.

Putin hält den Westen für zu weich, zu dekadent, zu verwöhnt. Wenn man einem Bericht in der „Washington Post“ glauben darf, der sich auf Quellen im russischen Machtapparat beruft, dann ist der Kreml-Chef davon überzeugt, dass die Zeit für ihn arbeitet. Je länger sich der Krieg hinzieht, so sein Kalkül, desto größer die Chance, das Kriegsglück zugunsten Russlands zu wenden.

Demokratische Gesellschaften haben einen strukturellen Nachteil gegenüber Diktaturen: Sie müssen auf die Meinung der Öffentlichkeit Rücksicht nehmen. Und die Öffentlichkeit ist wankelmütig. Das war in Vietnam so. Es hat sich in Afghanistan wiederholt. Es könnte auch in der Ukraine so kommen.

Welches Signal vernimmt Putin daher, wenn Scholz um einen Telefontermin bittet? Ein Signal der Entschlossenheit und Stärke, dass man im Westen nicht zurückweichen werde? Oder eher einen Hinweis auf steigende Nervosität im Lager der Gegner? Ich bin kein Kreml-Experte, aber ich tippe auf Letzteres.

Man müsse das Fenster für Verhandlungen offen halten, heißt es. Am Ende könne der Konflikt nur auf diplomatischem Wege gelöst werden. Oder wie SPD-Chef Lars Klingbeil sagt: „Der Krieg wird am Verhandlungstisch entschieden.“

Klingt super. Wer ist schon gegen Diplomatie? Es gibt allerdings ein Problem, das sich auch nicht mit der geduldigsten Dauertelefonie aus dem Weg räumen lässt: Alle diplomatischen Bemühungen setzten voraus, dass derjenige, mit dem man verhandelt, sich anschließend an das Verhandlungsergebnis gebunden fühlt. Wenn Wladimir Putin die Welt eines gelehrt hat, dann dass er keine Vereinbarung als verbindlich betrachtet, auch nicht die, die seine eigene Unterschrift trägt. Jeder Vertrag, den er schließt, ist nur so lange etwas wert, wie er meint, dass es ihm nutzt.

Man ist nicht auf Vermutungen angewiesen, was Putin vorhat, sollte es ihm gelingen, die Ukraine zu unterwerfen. Anfang April erschien bei der staatlichen Nachrichtenagentur „Ria Novosti“ ein Text mit der Überschrift „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“. Darin wird im Detail das Programm für die Zeit nach dem Endsieg ausgebreitet. Von ethnischen Säuberungen ist die Rede, von Deportationen und Massenerschießungen. Nicht nur die Führungsschicht gilt in Moskau als Nazibrut, die eliminiert gehört, sondern alle Ukrainer, die eine Waffe in die Hand genommen haben.

Wer denkt, Putin habe sich nur in der Wortwahl vergriffen, als er davon sprach, Feinde des Volkes wie Fliegen zu vernichten, glaubt auch noch an den kleinen Häwelmann. „Die Gegner des Buchstaben Z müssen verstehen, dass sie nicht verschont bleiben. Es ist ernst: Konzentrationslager, Umerziehung, Sterilisation“, sagt der Kreml-Propagandist Karen Georgijewitsch Schachnasarow zur besten Sendezeit im Staatsfernsehen. Die Gastgeberin einer beliebten Talkshow bevorzugt die Idee, gefangen genommene Ukrainer auf Marktplätzen auszustellen, wo man dann mit ihnen anstellen darf, „was immer man will“.

Man müsse Putin einen gesichtswahrenden Ausweg bieten, sagt Emmanuel Macron. Doch wie sollte der aussehen? Jeden Waffenstillstand würde die russische Seite nutzen, um sich so weit zu reorganisieren, dass sie mit frischer Kraft vollenden kann, was sie angefangen hat. Realistischer scheint mir der amerikanische Ansatz, Russland so weit zu schwächen, dass es für die nächsten vier, fünf Jahre nicht in der Lage sein wird, einen Nachbarn zu überfallen. Das wäre allerdings genau die Demütigung, die der französische Präsident unbedingt vermeiden will.

Es hat seinen Grund, warum Psychologen dazu raten, ab einem bestimmten Punkt jeden Kontakt zu einem Gewalttäter abzubrechen. Wer weiter die Hand ausstreckt, trotz schockierendster Grenzüberschreitungen, zeigt damit, dass er es mit den angekündigten Strafen nicht wirklich ernst meint. Aber vielleicht geht es ja genau darum: Putin zu signalisieren, dass man sich schon irgendwie einig wird, wenn er an den Verhandlungstisch zurückkehrt.

Ein Satz des Bundeskanzlers ist mir in Erinnerung geblieben. „Wo Putin den Konflikt sucht, stößt er auf unseren Konsens“, erklärte er im April im Bundestag. „Konsens“ hat mehrere Bedeutungen, die gebräuchlichste ist „Einverständnis“, „Entgegenkommen“. So war es vermutlich nicht gemeint, aber manchmal verrät sich der Wunsch im Versprecher.

©Michael Szyszka

Der Untergang des Hauses Schrödaryien

Die SPD ist auf der Ebene der Netflix-Serie angekommen. In den Hauptrollen: Gerhard Schröder als vom Alter gezeichneter Pate. Sigmar Gabriel als Consigliere auf Abwegen. Und Manuela „Babuschka“ Schwesig als Hüterin der schwarzen Kasse

Sigmar Gabriel hat damit gedroht, die „New York Times“ zu verklagen. Eine Reporterin hatte ihn nach seinen Verbindungen zu russischen Energiemagnaten gefragt.

Seine Kontakte zu Repräsentanten aus Russland sowie von Gazprom beschränkten sich auf die Jahre 2014 bis 2016, war seine Antwort. Es sei ausschließlich darum gegangen, einen Lieferstopp von Russland in die Ukraine zu verhindern. Sollte die „New York Times“ darüber anders berichten oder zu einer abweichenden Bewertung kommen, werde er rechtliche Schritte einleiten.

Ich bin sicher, in New York ist ihnen augenblicklich der Schreck in die Glieder gefahren. Der ehemalige Vizekanzler und Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland droht mit Klage! Da denkt jeder Chefredakteur zweimal darüber nach, was er in seinem Blatt über eine so eminente Figur veröffentlichen lässt und was besser nicht.

Wenn ich Gabriel allerdings eines raten dürfte, dann wäre es, sich eine ordentliche Sekretärin zuzulegen. Er verdient einen Haufen Geld als Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank, bei Siemens Energy und neuerdings auch bei Thyssenkrupp. Aber offenbar hat er niemanden, der mal in den Terminkalender schaut, ob die Angaben, die er einer Zeitung wie der „New York Times“ gegenüber macht, auch der Wahrheit entsprechen.

Da wäre zum Beispiel ein Treffen von Gabriel mit Alexej Miller, dem CEO von Gazprom. Datum: 30. Januar 2017. Im Juni 2017 stand ein Besuch bei Putin an, dem Boss der Bosse. Vertrauliches Abendessen in der Residenz des Kreml-Herrschers bei St. Petersburg. Gabriel soll die Residenz erst gegen 1.30 Uhr verlassen haben. Der Besuch war übrigens schon damals nicht ganz unumstritten. Mehrere Bundestagsabgeordnete verlangten anschließend Aufklärung, was genau bei dem Abendessen eigentlich besprochen worden war.

Dann sehen wir Gabriel wieder zusammen mit Gazprom-Chef Miller, diesmal anlässlich der Hochzeit von Gerhard Schröder mit der Koreanerin Soyeon Kim. Datum: Oktober 2018. Ach so, und hier haben wir ihn am 15. April 2018, dieses Mal mit dem Nordstream-Beauftragten Matthias Warnig beim Turnier Schalke gegen den BVB in der Gazprom-Loge bei Schalke.

Ziemlich viele Termine, die nicht exakt in das angegebene Zeitfenster von 2014 bis 2016 fallen. Gut, Gabriel ist auch nicht mehr der Jüngste, da bekommt man schon mal die Daten durcheinander. Wir beide sind praktisch eine Generation; ich weiß, wie das ist. Also: My heart goes out to you, brother. Aber sollte man von einem ehemaligen Wirtschaftsminister und SPD-Parteivorsitzenden nicht trotzdem ein Mindestmaß an Verlässlichkeit verlangen dürfen?

Dann erinnerte ich mich an eine Geschichte aus der Feder des „Spiegel“-Kollegen Matthias Geyer, der vor Jahren mit Gabriel für ein Porträt verabredet war. Da war der Mann aus Goslar noch nicht Ex-Parteichef, sondern abgewählter Ministerpräsident in Niedersachsen.

„Krank im Goslar“ hieß der Text und handelte unter anderem davon, wie Gabriel den Reporter Geyer zur verabredeten Zeit am Gartenzaun mit der Entschuldigung überraschte, er laboriere an einer Lungenentzündung. Er habe den Arzt da, ob man das Treffen nicht verschieben könne. Dann verließ eine Viertelstunde später jemand das Haus, der wie ein Arzt aussah, aber ein Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war, während sich die Lungenentzündung erst zu einer Bronchitis verringerte und dann ganz verflüchtigte, sodass das Treffen mit dem „Spiegel“-Mann doch noch stattfinden konnte.

Eigentlich wollte ich nicht mehr über die SPD und ihre Repräsentanten schreiben. Ich hatte mir das fest vorgenommen. Nicht, dass mir nachher noch vorgehalten wird, ich hätte mich in ein Thema verbissen.

Es gibt außerdem so viel anderes, über das man schreiben könnte. Elon Musk übernimmt Twitter. In China testen sie auch Fische auf Corona. Amber Heard und Johnny Depp streiten vor Gericht, wer während ihrer stürmischen Ehe Depp die Fingerkuppe abgesäbelt hat. Aber sie machen es einem bei der SPD wirklich nicht leicht, sich anderen Themen zuzuwenden.

Haben Sie die Bilder von Gerhard Schröder in der „New York Times“ gesehen? Wenn man mir nicht gesagt hätte, dass sie in seinem Büro in Hannover aufgenommen wurden, hätte ich auf ein Set von „Game of Thrones“ getippt. Untergang des Hauses Targaryen. Dazu passt, dass Schröder inzwischen schon mittags, während er fröhlich russische Reiseerinnerungen austauscht, solche Mengen an Weißwein verkostet, dass die Reporterin nicht umhinkann, dies zu erwähnen. „Unmengen Weißwein“, so notierte sie es.

Schröder gilt jetzt auch in der SPD als untragbar. Sogar Saskia Esken hat all ihren Mut zusammengenommen und dem Ex-Kanzler den Parteiaustritt nahegelegt. Aber im Grunde spricht Schröder nur aus, was viele in der SPD denken: Hoffentlich ist dieser verdammte Krieg bald vorbei, damit wir wieder mit den Russen ins Geschäft kommen können. Sie sagen es nur nicht so direkt wie er, sondern sprechen von der Notwendigkeit einer Rückkehr der Diplomatie.

Wir sind jetzt auf der Ebene der Netflix-Serie angekommen. Im Mittelpunkt der vom Alter gezeichnete Pate, der in seinem Starrsinn alles zerstört, was er zuvor aufgebaut hat. Ihm zur Seite Consigliere Gabrielitsch, der verzweifelt auf der Suche nach einem Abgang ist, der nicht nach Verrat aussieht. In der weiblichen Starrolle: Manuela „Babuschka“ Schwesig, die Hüterin der schwarzen Kassen, die inmitten des einsetzenden Chaos zu retten versucht, was zu retten ist, insbesondere die zur Seite geschafften Millionen aus dem Osten.

Arme SPD. Sie denken, wenn sie Schröder los sind, wird alles wieder gut. Aber ich fürchte, so läuft das nicht. Das System reicht weiter und tiefer. Gabriel war sieben Jahre lang Parteivorsitzender. Nur Erich Ollenhauer und Willy Brandt haben länger durchgehalten.

Es gab zwar keine Männerfreundschaft mit dem Mann in Moskau wie bei Don Schröder. Aber wenn es um die Absicherung der russischen Gasleitungen ging, war auf Gabriel immer Verlass. Auch in anderen Dingen erwies er sich als zuverlässig. Der Kreml lässt den Oppositionsführer Alexej Nawalny vergiften? Nein, das kann nicht sein. Keine voreiligen Schlüsse! „Giftangriff auf Nawalny – Sigmar Gabriel nimmt Putin in Schutz“, lautet die Überschrift im „Stern“.

Es spricht für Gabriels Wendigkeit, dass er es gleichzeitig zum Chef der Atlantik-Brücke gebracht hat und in den Aufsichtsrat der größten deutschen Bank. Wäre ich bei der Deutschen Bank, würde ich darüber nachdenken, welche Anforderungen ich an die Seriosität meiner Aufsichtsratsmitglieder stelle. Anderseits: Was verstehe ich schon vom Finanzgeschäft?

Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster hängen. Wie man hört, ist Gabriel schnell mit Klagen gegen Journalisten bei der Hand, die seine Russland-Kontakte nicht so darstellen, wie er es gerne hätte. Nach der Berliner Büroleiterin der „New York Times“ traf es vor ein paar Tagen den Politikredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Reinhard Bingener. Als Bingener in einem Telefonat das Gespräch auf Gabriels Rolle in der Russlandsache brachte, drohte der sofort mit rechtlichen Schritten.

Ich hinterlasse an dieser Stelle deshalb vorsorglich schon einmal folgende Erklärung: Sigmar Gabriel hat immer das Beste gewollt. Er hatte nie eigene Interessen im Auge, sondern nur Stabilität und Weltfrieden. Alle Bilder, die ihn an der Seite von Putin zeigen und auf denen es so aussieht, als hätten sie ein besonders herzliches Verhältnis gehabt, stellen die Beziehung verzerrt dar. In Wahrheit ist Gabriel immer mit der Faust in der Hosentasche nach Moskau gereist. Wie heißt es bei „Leonce und Lena“: Den Frühling auf den Wangen, den Winter im Herzen.

Falls sich trotzdem die Anwälte melden sollten: Ich bin jederzeit auch noch zu weiterreichenden Erklärungen bereit. Ich will keinen Ärger. Ich weiß schließlich aus Netflix, wie das ausgehen kann, wenn man sich mit den falschen Leuten anlegt.

©Silke Werzinger

Wer hat die Ukraine verraten…

Das Verhalten der SPD-Spitze im Ukraine-Krieg ist für Menschen, die an das Gute in der SPD glaubten, was der Missbrauchsskandal für Katholiken ist: ein Vertrauen zerrüttendes Versagen

Ich bin in dem festen Glauben aufgewachsen, dass die SPD eine Kraft des Guten sei. Die Sozialdemokratie verkörperte in meiner Familie weit mehr als eine politische Bewegung. Sie war eine Macht, die Deutschland und dann die Welt in eine hellere, bessere Zukunft führen würde. Wir sprachen zu Hause nur von „der Partei“, so wie man bei Katholiken nur von „der Kirche“ spricht.

Meine erste politische Kindheitserinnerung ist der feige Anschlag der Union gegen unseren geliebten Kanzler Willy Brandt. Ich war neun Jahre alt, als die Opposition versuchte, ihn mit einem Misstrauensvotum zu Fall zu bringen. Ich sehe bis heute meine Mutter vor mir, wie sie am Küchenradio mit gefalteten Händen die Stimmenauszählung verfolgte. Wenn ich nicht wüsste, dass sie nicht an Gott geglaubt hat, könnte ich schwören, dass sich bei der Stimmenauszählung ihre Lippen bewegten.

Bestimmte familiäre Prägungen legt man nie ab. Vieles sieht man mit dem Alter abgeklärter, manches gänzlich anders. Ich habe über meine Abkehr von der Sozialdemokratie in dieser Kolumne oft Zeugnis abgelegt. Aber bis heute spüre ich eine sentimentale Verbindung. Wenn die Kinder von einem Wahlkampfstand mit einem roten SPD-Ballon in der Hand davonziehen, rührt es mich. Das hätte eure Großmutter stolz gemacht, denke ich dann.

Vielleicht liegt hier der Grund für die Erschütterung, die das Versagen der SPD im Kampf gegen Putin bei mir auslöst. Ich glaube, der Ukraine-Krieg ist für Menschen, die der Sozialdemokratie nahestehen, was für Katholiken der Missbrauchsskandal ist: Erst schaut man weg, solange es geht, weil man nicht wahrhaben will, was man hören und lesen muss. Dann tut sich ein großes Loch auf, in dem alles zu verschwinden droht, was bis eben noch das Fundament des Glaubens ausmachte.

Es ist ein Trauerspiel, was die Sozialdemokraten derzeit aufführen. Jeden Tag gibt es neue Erklärungen, warum man der Ukraine nicht die Waffen liefern kann, die sie flehentlich erbittet.

Entweder gibt es nicht genug Panzer. Oder die Bundeswehr braucht die Panzer selbst. Oder es fehlt die Zustimmung der Amerikaner. Oder die anderen Verbündeten haben noch nicht alle Ja gesagt. Oder im Wirtschaftsministerium fehlen leider Unterschriften unter den Ausfuhrgenehmigungen. Oder die Ukrainer können die schweren Waffen gar nicht bedienen. Allein die Diskussion über das notwendige Waffentraining dauert inzwischen länger, als es für das Training selbst gebraucht hätte. Dafür tauchen ständig neue Listen auf, was man alles liefern werde, auf denen sich aber nie die Waffen befinden, nach denen die ukrainische Regierung verzweifelt ruft.

Mit der SPD, in die meine Mutter eingetreten war, hat das alles nichts mehr zu tun. Die Leute an der Spitze berufen sich gerne auf die Entspannungspolitik von Willy Brandt. Aber Brandt wusste genau, mit wem er es auf der anderen Seite zu tun hatte. Brandt war Regierender Bürgermeister in Berlin gewesen, als die Kommunisten die Mauer errichteten. Davor hatte er gegen die Nazis gekämpft. Wenn er die Ostpolitik vorantrieb, dann um die Teilung Europas zu überwinden. Nie wäre er auf die Idee gekommen, eine Macht beschwichtigen zu wollen, die Friedensverträge nach Gusto mal beachtet, mal zerreißt.

Am Anfang war ich hoffnungsvoll. Wie Olaf Scholz drei Tage nach Kriegsbeginn das Steuer herumriss und zwei Jahrzehnte deutscher Russlandpolitik für beendet erklärte, hat mir imponiert. Es gab mir den Glauben an die Partei meiner Kindheit zurück, die immer gegen Aggression und Aggressoren stand.

Aber je länger sich die Sache hinzieht, desto größer werden meine Zweifel, dass es Scholz mit seiner Ankündigung einer Zeitenwende ernst war. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass es vor allem darum geht, so lange Hindernisse zu erfinden, bis die Sache ohne deutsche Beteiligung entschieden ist. Wenn es die Ukraine dann nicht mehr gibt: nicht schön. Aber besser irgendein Friede als keiner, lautet die Logik,

Was den Leuten im Kanzleramt vorzuschweben scheint, ist so etwas wie die Neutralität der Schweiz. Die Mehrheit der Deutschen hätten sie dabei möglicherweise sogar auf ihrer Seite. Wenn der Gaspreis weiter steigt, kann schnell die Stimmung kippen. Was die Kanzlerstrategen übersehen, ist, dass sich die größte Wirtschaftsmacht Europas nicht einfach wie ein Bergvolk vor den Anforderungen der Geschichte verstecken kann. Wenn sie es doch versucht, gerät in Europa mehr ins Rutschen als ein Alpengipfel.

Wann ist die SPD so auf Abwege geraten? Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, verbringt mehr Zeit damit, sich über die Unverschämtheiten des ukrainischen Botschafters aufzuregen als über Putins Vernichtungspläne. Der langjährige Parteichef und Außenminister Sigmar Gabriel stellt in einem Essay bereits Überlegungen an, wie man zu einem „kalten Frieden“ mit Russland finden könne. Der ehemalige Berliner Bürgermeister Michael Müller warnt vor einer „Eskalation“, weil Gewalt ja bekanntlich immer von beiden Seiten ausgeht.

Ein Argument lautet, man würde die Agonie des ukrainischen Volkes nur verlängern, indem man Waffen liefere. Besser als ein monatelanger Krieg sei die Kapitulation und damit ein schneller Friede. Davon abgesehen, dass es moralisch sehr zweifelhaft ist, wenn die Zuschauer dem Opfer einer Gewalttat raten, stillzuhalten, damit es schneller vorbei ist: Wie dieser Frieden aussehen würde, haben die Bilder von Butscha gezeigt. Vom Pazifismus zum abgrundtiefen Zynismus ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Ein anderes Argument heißt, Deutschland müsse alles tun, um einen Atomkrieg zu verhindern. Aber wenn man Putin zutraut, Atomwaffen zu zünden, müsste man dann nicht alles daransetzen, ihm eine Niederlage beizubringen, bevor er nach einem Nato-Mitglied greift? Erst die Entnazifizierung der Ukraine, dann die Entnazifizierung von ganz Europa, so verkünden es russische Nachrichtenagenturen.

Die SPD bildet sich zu Recht viel auf ihre ruhmreiche Geschichte ein. Kein Jubiläum, in dem nicht daran erinnert wird, dass es die Sozialdemokraten waren, die sich 1933 geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis stellten. Seien wir froh, dass Leute wie Mützenich und Gabriel noch nicht geboren waren, als es darum ging, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun.

Man ahnt, wie sie argumentiert hätten. Man stehe fest an der Seite der Demokraten, aber man müsse auch über den Tag hinausdenken. Die Eskalationsspirale dürfe nicht weiter angeheizt werden. Jetzt sei die Zeit, über diplomatische Lösungen nachzudenken. Es könne nur einen Frieden mit Hitler, nicht einen Frieden gegen Hitler geben.

Wie wird die Nachkriegswelt über die merkwürdige Appeasement-Politik der SPD denken? Olaf Scholz mag sich später rühmen, Deutschland aus dem Krieg herausgehalten zu haben. Vielleicht wird er sogar unter den Ersten sein, die wieder Verbindung zu Russland aufnehmen, wenn der Krieg entschieden ist.

Aber unsere Nachbarn werden nicht vergessen haben, wer sich Putin entgegenstellte – und wer nur so tat, als würde er gegen das Böse kämpfen.

©Michael Szyszka

Auf der Couch mit Putin

Wenn es um Russland ging, redeten deutsche Außenpolitiker wie Psychotherapeuten. Da war ganz viel von Verletzungen und Dialogfähigkeit die Rede. Und nun?

Ist Wladimir Putin ein labiler Charakter? Ich hätte mir diese Frage nie gestellt. Aber wenn man in den vergangenen Wochen führenden Sozialdemokraten zuhörte, musste man den Eindruck gewinnen, dass mit dem russischen Präsidenten etwas emotional nicht stimmt. So wie sie über ihn reden, ist er ein unsicherer, komplexbeladener Mann, der nach Anerkennung sucht und von Einkreisungsängsten geplagt ist.

Er könne die Angst vor der Nato-Bedrohung verstehen, erklärte der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich noch vor zwei Wochen: „Ich teile gewisse Bedenken nicht, aber ich kann sie nachvollziehen.“ Auch in den unteren Etagen der Sozialdemokratie macht man sich Gedanken zu Putins Psyche. Am Wochenende wurde ein Brief des Landrats Gernot Schmidt an den Mann in Moskau bekannt, indem sich der SPD-Politiker tief beunruhigt „vom verbalen Aufrüsten in großen Teilen der westlichen Welt“ zeigte.

Ein Blick auf die Landkarte sollte eigentlich beruhigend wirken. Die Stellen, an denen sich Russland und die Nato berühren, machen gerade mal sechs Prozent der russischen Grenze aus. Wie soll man auch ein Land einkreisen, das elf Zeitzonen umfasst und von der Ostsee bis nach China reicht? Aber wie das so ist mit Wahnideen, da hilft ein Blick auf die Realität nur bedingt.

Die psychologische Deutung der Russland-Krise hat längst ein Eigenleben angenommen. Ich saß vergangene Woche in Berlin neben einer Kennerin der russischen Seele, die mir geduldig erklärte, dass alles, was Putin wolle, Respekt sei. Wenn das stimmt, dann muss man sagen: Das Ziel hat er erreicht. Wer 120000 Soldaten an der Grenze eines fremden Landes zusammenzieht, dem ist die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft sicher. Wer Panzer rollen lässt, hat die Welt auf der Sofakante sitzen.

Abgesehen von Soldaten hat Russland auch nicht viel zu bieten, um sich Achtung zu verschaffen. Was die Wirtschaftskraft angeht, rangiert es auf der Höhe von Spanien. Die einzigen exportfähigen Produkte sind Gas und Öl. Dass sich die Welt lediglich für die Rohstoffe eines Landes interessiert, kennt man normalerweise nur aus Dritte-Welt-Staaten. Selbst der Wodka, den die europäische Jugend trinkt, kommt aus Finnland.

Was will Putin? In der „Zeit“ habe ich eine Analyse gelesen, in der der Autor darlegte, dass der russische Präsident nicht zu den Garantien des Kalten Krieges zurück, sondern ganz im Gegenteil in die Regellosigkeit des 21. Jahrhunderts vorstoßen wolle. Das fand ich sehr viel überzeugender als die psychologische Lesart.

Die berechtigten Schutzinteressen, von denen so viel die Rede ist, meinen ja in Wahrheit nicht den Schutz vor der Nato. Von deren Schlagkraft sind sie nicht mal im Hauptquartier in Brüssel überzeugt. In Putins Kriegsrede tauchte das westliche Militärbündnis nur noch unter ferner liefen auf. Berechtigte Schutzinteressen heißt aus Sicht des neuen Zaren: Schutz vor fremden Ideen, die er als gefährlich erachtet, allen voran die Idee der Demokratie.

Bis heute wird die Außenpolitik des Kreml vornehmlich geopolitisch verstanden, als ginge es in erster Linie darum, einiges von dem in der Auflösung des Sowjetreichs verlorenen Gebiet zurückzuholen. Das ist ein Missverständnis. Wenn Putin von den Feinden des russischen Volks spricht, denkt er tiefer. Die Mächte, denen er den Kampf angesagt hat, greifen nach der russischen Seele. Das ist es, was er meint, wenn er davon spricht, dass sich Russland gegen den Westen zur Wehr setzen müsse.

Wie sieht diese Seele aus? Auch dazu hat Putin Auskunft gegeben: „Ich denke, dass der russische Mensch, oder allgemeiner der Mensch in der russischen Welt, vor allem anderen an seine moralische Verpflichtung denkt, an eine höchste moralische Wahrheit.“ Im Gegensatz dazu steht der Westen mit seiner Fixierung auf Erfolg und Wohlstand oder wie es Putin ausdrückt: „das persönliche Selbst“.

Es ist also ein ideologischer Kampf, den Russland aus Sicht seines Präsidenten kämpft: gegen die Oberflächlichkeit des Materialismus, gegen den Verfall der Werte, gegen die Verweiblichung und Verweichlichung der Gesellschaft, die mit der Auflösung traditioneller Bindungen einhergeht, kurz: gegen alles Unrussische. Bei den Freiheitsfeinden am rechten Rand hat man sofort verstanden, dass Putin ihre Zwangsvorstellungen und Ressentiments teilt. Deshalb stehen sie auch in dieser Stunde treu an seiner Seite.

Mir wird immer ein Rätsel bleiben, warum ausgerechnet die Sozialdemokraten so einen Soft Spot für den Mann aus Moskau entwickelt hatten. Wir führen erregte Debatten über Geschlechtergerechtigkeit. Gerade wurde im Bundestag leidenschaftlich debattiert, ob die grüne Abgeordnete Tessa Ganserer nun eine reguläre Frau ist oder nicht. Gleichzeitig warben sie in der SPD noch bis gestern um Verständnis für einen Herrscher, der Schwule und Lesben zusammenprügeln lässt und Transrechte für westliche Dekadenz hält.

Selbst Tschaikowski hat in Moskau mittlerweile ein Problem. Tschaikowski war schwul. Seit 2013 gilt in Russland jede positive Äußerung über Homosexualität als Straftat. Der Russe ist nicht schwul. Der Russe ist wie Putin: jederzeit bereit, in der Taiga einen Tiger mit bloßen Händen niederzuringen. Was, um Gottes willen, fanden sie auf dem linken Flügel der SPD an dem Tigerbezwinger? Ist es ein heimlicher Fetisch? Oder stehen sie bei Don Schröder in der Schuld?

Die Pychologisierung Russlands findet im therapeutischen Diskurs seine Entsprechung. Ständig war vom „Dialog“ die Rede, wenn es um Moskau ging, und dass man den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen dürfe. Daran hat auch die Kriegsankündigung nichts ändern können. Kaum hatte Putin seine Annexionspläne verkündet, meldete sich der Sozialdemokrat Ralf Stegner mit der Mahnung zu Wort, man müsse in dieser brandgefährlichen Situation weiterhin alles tun, damit wieder verhandelt werde.

Ich halte viel vom therapeutischen Gespräch. Ich war zwölf Jahre alt, als die ersten Psychologen bei mir in der Klasse auftauchten, um mit uns über die schädliche Wirkung von Mobbing zu reden. Zu den Standardwerken meiner Studentenzeit gehörte „Ich bin o.k., du bist o.k.“. Später schlossen sich diverse Ehetherapien mit wechselndem Erfolg an. Ich bin durchtherapiert, kann man sagen. Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass man jemanden wie Putin beschwatzen kann, es sich anders zu überlegen, indem man ihm Gruppenmediation anbietet.

Warum fällt es selbst grundvernünftigen Menschen wie unserem Bundespräsidenten so schwer, die Natur des Gegners zu erkennen? An Putin selbst kann es nicht liegen. Er stand immer treu an der Seite von Schurken wie Assad. Er hat Passagiermaschinen vom Himmel holen und Killerkommandos auf seine Feinde hetzen lassen. Erst vor Kurzem musste ihm ein deutsches Gericht schweren Herzens bescheinigen, den Mord an einem georgischen Milizionär im Tiergarten in Auftrag gegeben zu haben.

Dennoch haben sie sich in Berlin bis zum Schluss an der Illusion festgeklammert, wenn man mit Putin im Gespräch bleibe, dann werde er sich schon besinnen. So liegt am Ende dieser Woche nicht nur die Friedensordnung Europas in Scherben, sondern auch zwei Jahrzehnte sozialdemokratischer Russlandpolitik, wie sie von Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier ersonnen und von Angela Merkel fortgeführt wurde.

Am Mittwoch habe ich gelesen, Putin sei krank. Er nehme Steroide. Von allen Erklärungen, die mir angeboten wurden, besitzt diese wenigstens eine gewisse Plausibilität. Das würde die langen Tische erklären, an denen der Präsident Platz nimmt, wenn er nicht im Fernsehen Geschichtsstunden erteilt. Überdosierung führt ja oft zu Paranoia. Auch bei Steroid-Missbrauch ruft man allerdings den Mediziner und nicht den Gesprächstherapeuten zu Hilfe.

©Silke Werzinger

Der Terror der Minderheit

Sie glauben, dass das Geschlecht eines Menschen an die Biologie gekoppelt ist? Passen Sie auf, dass die Transbewegung nicht auf Sie aufmerksam wird! Dann haben Sie nichts mehr zu lachen

Ich bin im Netz auf ein Interview der BBC mit einer Frau gestoßen, die berichtete, wie sie über Wochen und Monate an ihrem Arbeitsplatz eingeschüchtert und verfolgt wurde. Wenn sie morgens zur Arbeit erschien, wartete auf der Straße vor ihrem Büro schon ein wütender Mob, der sie beschimpfte und bedrohte. Wenn sie den Computer öffnete oder sich über das Handy auf einem der sozialen Kanäle bewegte, spie ihr blanker Hass entgegen.

Ihren letzten Tag an ihrer Arbeitsstelle beschrieb sie so: „Jedes Poster in dem Tunnel zum Eingang, den ich Hunderte Male gegangen war, trug meinen Namen. Als ich die Toilette betrat, sah ich, dass auf allen Türen in meinem Gebäude Sticker gegen mich klebten. Ich drehte mich um und rannte zurück zur Bahnstation, hyperventilierend.“

Die Frau heißt Kathleen Stock. Sie war bis vor Kurzem Professorin für Philosophie an der Universität Sussex. Vor zwei Wochen hat sie ihre Arbeit niedergelegt, weil sie die Nachstellungen und Beleidigungen nicht mehr ertrug. Transaktivisten hatten sie zur unerwünschten Person erklärt. „Stock raus!“ oder „Cancel Stock!“ lauteten die Parolen. Als die Polizei der Professorin riet, sich Personenschutz zuzulegen und ihr Haus elektronisch abzusichern, gab sie auf.

Stock blickt auf eine erfolgreiche Karriere als Wissenschaftlerin zurück. Sie ist seit Langem in der LGB-Community aktiv, wie sich die Lesben- und Schwulenbewegung heute nennt. Politisch stand sie immer links. Sie selbst bezeichnet sich als lesbische Frau, deren Sexualität keiner Norm folge. So hat sie es in ihrem neuesten Buch geschrieben, das vor wenigen Monaten in Großbritannien erschien: „A lesbian and sex-nonconforming woman“.

Stock vertritt die Ansicht, dass die Geschlechtsidentität an das biologische Geschlecht gekoppelt ist. Wer mit männlichen Genitalien auf die Welt gekommen sei, werde nicht einfach dadurch zur Frau, dass er sich zur Frau erkläre, sagt sie. Das reicht, um sie zur Hassfigur zu machen. Stock vertrete eine Bastardversion des Feminismus, deklarieren ihre Feinde. Sie stelle eine Gefahr für alle Transmenschen dar. Wer als Gefahr für andere gilt, muss aus dem Verkehr gezogen werden, das ist logisch.

Viele Zeitungen haben darüber berichtet, auch in Deutschland. Aber ich glaube, die volle Bedeutung ist nicht überall erkannt. Der Fall markiert einen Wendepunkt. Wenn wir zulassen, dass Menschen verfolgt und aus ihrem Job getrieben werden, weil sie an die Realität der Geschlechter glauben, dann sind wir auf dem Weg in einen langen, dunklen Tunnel, der noch sehr viel länger und dunkler sein wird als der, in dem Kathleen Stock gerade verschwunden ist.

Die Kampagne gegen die Philosophieprofessorin aus England ist nicht der erste Fall, bei dem sich Transaktivisten zusammenfinden, um jemanden zum Schweigen zu bringen. Vergangenes Jahr sah sich die Kinderbuchautorin Joanne Rowling Angriffen ausgesetzt, weil sie darauf beharrte, dass Ereignisse wie Periode, Empfängnis oder Geburt eines Kindes biologische Vorgänge sind, die Frauen von Männern unterscheiden.

Anfang des Jahres richtete sich die organisierte Empörung gegen die Kolumnistin des „Guardian“, Suzanne Moore. Moore hatte darauf hingewiesen, dass es nicht unproblematisch sei, wenn man einen Schwerverbrecher, der sich als Frau identifiziere, in ein Frauengefängnis sperre. 300 Mitarbeiter des Blattes wandten sich in einem Protestbrief an die Chefredaktion, Moore verließ kurz darauf die Zeitung. Seit Oktober läuft eine Kampagne gegen den Komiker Dave Chappelle und seine Show „The Closer“ auf Netflix, in der er neben Witzen über Weiße, Schwule und Juden auch Witze über Transgender-Leute reißt. Nun soll Netflix die Show aus dem Programm nehmen und sich entschuldigen.

Wer jetzt denkt: Na, ja, so etwas passiert in Großbritannien oder Amerika, aber das ist zum Glück weit weg, den muss ich enttäuschen. Unter den Unterzeichnern einer Erklärung, in der Stock als transfeindlich verleumdet wurde, findet sich auch eine Reihe von Namen aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb. Man würde gerne ein Wort mit ihnen wechseln, was sie unter Wissenschaftsfreiheit verstehen. Ich war versucht, an dieser Stelle ihre Namen zu nennen. Aber ich bin kein Genderaktivist.

Es ist schwer zu sagen, wie groß der Teil der Transgemeinde ist, der darauf besteht, dass Mann und Frau als Ordnungskategorien ausgedient haben. Transsexuelle können schon mal nicht dazu zählen, sonst würden sie sich ja nicht dem aufwendigen Prozess der Geschlechtsangleichung unterziehen.

Wo es an zahlenmäßiger Größe mangelt, hilft man mit Aggressivität nach. Immer wird sofort das Schlimmste angenommen und das Schlimmste unterstellt. Wäre man Dave Chappelle, würde man sagen, dass man eben nicht ungestraft in den Hormonhaushalt eingreifen kann. Aber so ein Witz verbietet sich von selbst.

Schon die versehentliche Verwendung eines falsches Personalpronomens kann einem als schwere Kränkung ausgelegt werden. Als verwerflich gilt auch das „Deadnaming“, also die Erwähnung des alten Namens, was insbesondere Medienorgane vor eine Herausforderung stellt, wenn sie ihren Lesern mitteilen wollen, dass der Prominente, den sie bislang als Ellen kannten, künftig Elliot heißt.

Wie schnell man in Schwierigkeiten gerät, hat Anfang letzten Jahres die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan, erfahren müssen, als sie einen Schauspieler namens Heinrich Horwitz als Mann ansprach. Ich kenne Frau Schwan aus einer Reihe von Begegnungen. Ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ihr nichts ferner liegt, als andere Menschen zu beleidigen oder herabzusetzen.

Dummerweise hatte sie vor der Begegnung nicht ins Kleingedruckte gesehen, wo stand, dass sich Heinrich Horwitz inzwischen als nicht-binär identifiziert. Es folgte ein gewaltiger Empörungssturm, in den sich auch die SPD-Spitze einschaltete. Nur ihrem vorgerückten Alter war es zu verdanken, dass sie am Ende einem Parteiausschlussverfahren entging.

Die klassische Emanzipationsbewegung zielt auf ein Ende von Benachteiligungen. Gleiches Recht für alle, das war die Forderung von Schwulen und Lesben, als sie sich gegen Diskriminierung und Zurücksetzung aufzulehnen begannen. Am Ende dieses Kampfes stand die Ehe für alle als Symbol für die Normalität des eigenen Lebensentwurfs.

Das Bemühen der Transbewegung geht darüber weit hinaus. Ihr genügt es nicht mehr, dass die Gesellschaft in gelassener Ignoranz auch denjenigen in Ruhe sein Leben führen lässt, der ganz anders ist – sie verlangt im Gegenteil die besondere Rücksicht- und Anteilnahme für alles, was außerhalb der Norm liegt. Das ist ein radikal neues Konzept im Kampf um Anerkennung. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man von der Mehrheitsgesellschaft erwartet, dass sie Toleranz walten lässt, oder ob man von ihr verlangt, dass sie sich nach den Empfindlichkeiten und Sprachcodes einer winzigen Minderheit richtet.

Es ist rätselhaft, dass sich kaum jemand traut, dem offensichtlichen Wahnsinn entgegenzutreten. Warum lässt man sich von einer kleinen Gruppe terrorisieren, die allen Ernstes jeden einer transphoben Gesinnung bezichtigt, der von menstruierenden Frauen und nicht von menstruierenden Menschen spricht. Vermutlich ist es die Feigheit, in der Szene nicht mehr als „Ally“, also als Verbündeter, zu gelten. Viele halten möglicherweise auch still, weil sie hoffen, so Angriffen auf sich selbst zu entgehen.

Ich glaube, dass die Rechnung nicht aufgehen wird. Wenn man einmal angefangen hat, überall Feinde zu sehen, kann man nicht mehr aufhören. In der neuesten Umdrehung steht nun der schwule Mann am Pranger. Wer seine Präferenz für ein Geschlecht offenbart, wer also als Mann sagt, dass er ausschließlich auf Männer stehe, die auch wie Männer aussehen, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, er sei transphob. „Genitale Präferenz ist transfeindlich“, lautet das Kampfwort dazu.

Nicht jedem erschließt sich auf Anhieb, dass eine Vagina auch ein männliches Geschlechtsorgan sein kann. Die Überwindung der Biologie ist ein steiniger Weg.

©Michael Szyszka

Der verpanzerte Mann

Seine Fans erklären die seltsame Reglosigkeit von Olaf Scholz zum Zeichen von Verlässlichkeit. Man kann sie aber auch unheimlich finden. Was ist von einem Politiker zu halten, der sich jede Regung wie Zorn oder Wut abtrainiert hat?

Ich habe mir in der Mediathek der ARD die Dokumentation von Stephan Lamby über den Wahlkampf angesehen. Zehn Monate ist der Dokumentarfilmer den Spitzenkandidaten gefolgt. Der Film hat viel Beachtung gefunden. Lamby ist dafür bekannt, dass ihm Aufnahmen gelingen, die sattsam Bekanntem Unbekanntes hinzufügen.

Es gibt auch in diesem Film wieder aufschlussreiche Nahaufnahmen. Eine Szene ragt dabei heraus.

Der Kanzlerkandidat der SPD sitzt an einem hellen Konferenztisch. Er trägt ein dunkles Jackett, ein weißes Hemd ohne Schlips, die linke Hand ruht auf dem rechten Unterarm.

Lamby fragt, wie es zu einem Wahlkampffilm kam, den die SPD der Hauptstadtpresse vorgeführt hatte und in dem Vertraute des CDU-Vorsitzenden Armin Laschet auf sehr persönliche Weise angegangen wurden. Der Spot war auf scharfe Kritik gestoßen und daraufhin von der SPD wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Kannte der Kandidat das Video?

„Der Kampagnenleiter hat mir be-richtet, dass er nicht ausgesendet wird und genau einmal gezeigt worden ist“, antwortet Olaf Scholz in die Kamera.

„Und warum?“, hört man Lamby aus dem Off fragen.

„Es ist so, dass die Kampagne sich konzentriert auf die Dinge, die für die Zukunft unseres Landes wichtig sind.“ An dieser Stelle schwenkt die Kamera auf den Dokumentarfilmer, sodass man ihn ausnahmsweise in Person sieht.

„Es tut mir leid, ich muss da nach-fragen. Es gibt doch einen Grund, warum dieser Spot jetzt nicht mehr gezeigt wird. Eine ganz einfach Frage: Warum?“ Wieder antwortet Scholz, ohne zu antworten, in dieser eigentümlich flachen, leblosen Stimme, die ihn kennzeichnet und die jetzt noch etwas flacher und lebloser ist.

Lamby, nun wieder aus dem Off: „Nur, dass ich es verstehe: Kannten Sie den Spot?“

„Das ist ein…“, setzt Scholz an. „Diese.“ Pause. Dann: „Die Maßnahmen, die ich gebilligt habe, sind diejenigen, über die wir hier miteinander gesprochen haben und die ich richtig finde, das sind die Plakate, über die wir hier reden, manches, was noch keiner kennt und demnächst kommt.“

Es ist ein bizarrer Moment. Hat Scholz die Frage nicht verstanden? Das ist kaum anzunehmen, schließlich wird sie ihm im Laufe des Interviews mehrfach vorgelegt. Treibt er ein Spiel mit dem Journalisten? Auch das lässt sich ausschließen.

Man versteht die Reaktion nicht. Es wäre so einfach: Scholz müsste nur sagen, dass er den Clip gesehen und dann beschlossen hat, dass er nicht mehr gezeigt wird. Aber er entscheidet sich dafür, wie ein Mann zu reden, der im Hotel Lux in Moskau sein Ohr an der Wand zum Flur hat.

In Lambys Film „Wege zur Macht“ nimmt die Szene eine knappe Minute ein. Tatsächlich dauerte die Befragung mehr als fünf Minuten, wie der Journalist berichtete. Insgesamt achtmal fragte er nach, ohne eine Antwort zu erhalten. Das vielleicht bizarrste Detail dieses durch und durch seltsamen Auftritts: In der ganzen Zeit bewegt Scholz nicht einmal seinen Körper. Er verzieht auch nicht das Gesicht oder gibt durch eine Geste zu erkennen, dass ihm die Situation unangenehm oder lästig ist.

Olaf Scholz hat sich durch seine Reglosigkeit den Spitznamen „Scholzomat“ erworben. In vielen Porträts wird auf seine Sprödigkeit abgehoben. Wasser beim Kochen zuzusehen sei aufregender, hieß es in einer Wahlkampfbeschreibung in der „New York Times“.

Aber das trifft es aus meiner Sicht nur unzureichend. Die Langeweile, die Scholz verbreitet, verdeckt eine tiefer reichende Leerstelle. Sie ist Ausdruck einer grundsätzlichen Disposition.

Man vermutet bei jemandem wie dem Finanzminister automatisch, dass es sich bei der Beherrschtheit um eine besondere Form der Disziplin handelt, eine spezielle Gabe, Gemütsaufwallungen wie Zorn, Furcht oder Wut unter Kontrolle zu halten. Aber was, wenn er diese emotionalen Zustände gar nicht kennt (oder wenn, dann in nur sehr abgeschwächter Form)? Wer nie von Wut oder Zorn heimgesucht wird, der muss sich auch nicht disziplinieren.

Seine Leute versuchen, die Reglosigkeit als Zeichen von Verlässlichkeit und Seriosität auszugeben. Auf mich wirkt dieses Maß an Selbstbeherrschung eher unheimlich.

Man hat das im Wahlkampf ja nicht ausreichend gewürdigt: Aber es ist gerade mal anderthalb Jahre her, dass ihm seine Partei eine schlimme Niederlage zufügte.

Über Wochen warb Scholz für sich als Parteivorsitzender mit dem Programm, das ihm jetzt im Bundestagswahlkampf Umfragewerte von 25 Prozent bescherte. Bis zum Schluss war er fest davon überzeugt, dass es zwingend auf ihn zulief. Stattdessen entschieden sich die SPD-Mitglieder mehrheitlich für ein Pärchen, dessen Versprechen lautete, anders und vor allem linker zu sein als Scholz.

Ich glaube, man macht sich keine Vorstellungen, was es bedeutet, wenn man auf offener Bühne gedemütigt wird. Wenn man als Minister erleben muss, wie einen ein Juso-Jüngelchen aus Berlin-Schöneberg, das in seinem Leben nicht viel mehr zustande gebracht hat außer einem abgebrochenen Studium der Kommunikationswissenschaften, jeden Tag über die Medien wissen lässt, man sei ein Politiker von gestern.

Wer Kanzler werden wolle, müsse für den Wahlkampf die Nerven haben, sagt Scholz gleich zu Anfang von Lambys Film. Das ist natürlich wahr. Auch Helmut Kohl hat Intri-gen und Rückschläge verkraften müssen. Bei Angela Merkel erinnere ich mich an den Satz, sie fühle sich wie ein nacktes Hühnchen in der Tiefkühltruhe. Da war sie noch Fraktionsvorsitzende der CDU und gerade schwer in Bedrängnis, weil die Männer im Klub ihr den Platz an der Spitze streitig machten.

Aber beide haben ihren Weg gefunden, die Frustrationen und Demütigungen zu kanalisieren – Kohl, indem er die Getreuen um sich scharte und dann Trost im Essen suchte, Merkel, indem sie später als Kanzlerin alle abservierte, die ihr in die Quere gekommen waren.

Nicht einmal zu einem ordentlichen Racheakt scheint Scholz in der Lage. Das hat natürlich seinen Vorteil. Die Emotionslosigkeit ermöglicht es ihm, sich auch mit den Leuten wieder zusammenzutun, die eben noch in Talkshows in Zweifel zogen, ob er überhaupt ein richtiger Sozialdemokrat sei.

Dass die SPD kurz davor steht, ins Kanzleramt einzuziehen, verdankt sie ganz wesentlich der Fähigkeit des Kandidaten, seinen innerparteilichen Gegnern die Angst zu nehmen, er würde sich nach einem Wahlsieg schadlos halten. Das ist keine geringe Leistung. Auch hier fragt man sich allerdings: zu welchem Preis?

Ich bin kein Psychologe, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es gesund ist, wenn man sich so weit von sich selbst entfernt, dass man selbst bei heftigsten Attacken keine Regung zeigt. Ganze Bibliotheken sind über das Unglück des verpanzerten Mannes geschrieben worden, an dem alles abprallt. Legionen von Therapeuten haben dargelegt, wie verhängnisvoll es für den Seelenhaushalt ist, wenn man Zorn und Wut so weit einkapsele, dass man nicht einmal mehr spüre, wenn man zornig sei.

Es ist eine Pointe dieses seltsamen Wahlkampfs, dass die Deutschen bereit sind, sich einem Mann anzuvertrauen, über den sie so wenig wissen wie wohl über keinen Kanzlerkandidaten zuvor. Wir kennen die Stationen seines Aufstiegs; wir wissen, welche Passagen im SPD-Programm ihm besonders am Herzen liegen. Aber welche Gefühle ihn begleiten, wenn er an den Sieg denkt, welche Hoffnungen und Ängste, all das liegt im Dunkeln.

Dass Olaf Scholz zu einer erstaunlichen Doppelbödigkeit in der Lage ist, darauf geben die Skandale Hinweis, die man ihm zulasten legt. Viele Wähler denken, sie wählen mit Olaf Scholz die Verlässlichkeit. Vielleicht sollten sie sich auf eine Überraschung einstellen. Mit einer gewissen Gefühlskälte geht ja mit-unter auch eine verblüffende Unberechenbarkeit einher.

©Sören Kunz

Jetzt wird es ernst

Während in den Zeitungen steht, dass Rot-Grün-Rot ein Schreckgespenst aus der Mottenkiste sei, bereiten sie bei der Linkspartei schon ein Sofortprogramm für den Tag nach der Wahl vor. Bürger, bringt euer Geld in Sicherheit!

Erinnern Sie sich noch an den Auftritt von Gerhard Schröder in der Wahlnacht 2005? Wie er im Fernsehstudio saß und die Öffentlichkeit im Schröder-Brummton wissen ließ, dass ja eigentlich er die Wahl gewonnen habe?

„Herr Bundeskanzler“, setzte der Moderator an, worauf Schröder ihn sogleich unterbrach: „Is’ ja schön, dass Sie mich so ansprechen.“ „Sind Sie jetzt schon zurückgetreten?“ Schröder: „Nein, überhaupt nicht. Ich wundere mich nur.“ „Also ich sage noch mal, Herr Bundeskanzler, das sind Sie ja noch.“ „Das bleibe ich auch, auch wenn Sie dagegenarbeiten.“ Damit war der Ton gesetzt.

Die 45 Minuten in der sogenannten Elefantenrunde gingen als Krawallauftritt in die Geschichte ein. Schröder selbst nannte sein Auftreten später suboptimal. Das Verrückte dabei ist: Er hatte recht. Wenn er gewollt hätte, hätte er Kanzler bleiben können.

Ein Bekannter hat mich neulich darauf hingewiesen, dass die Sitzverteilung locker für eine dritte Amtszeit gereicht hätte. Ich wollte es zunächst nicht glauben, aber es stimmt: Hätte Schröder die Linkspartei ins Boot genommen, wäre Angela Merkel nie zum Zug gekommen. Rot-Grün-Rot verfügte nach Auszählung aller Stimmen über eine Mehrheit von 20 Abgeordneten.

Wir wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Franz Müntefering führte die SPD als Juniorpartner in die Große Koalition. Gemeinsam regieren mit den Irren von der Linken? Dann lieber den Vizekanzler als den Kanzler stellen. In der Hinsicht war auf die alte SPD Verlass. Deshalb holte ja Schröder auch noch in seiner schlechtesten Verfassung mehr Stimmen als jeder Bewerber nach ihm.

Der Vernunftgrad der Linkspartei hat sich nicht verbessert. Die Zahl der Irren in ihren Reihen ist eher größer als kleiner geworden. Aber die SPD ist heute eine andere. Was für Leute wie Schröder und Müntefering ein Verrat an der Sozialdemokratie gewesen wäre, ist jetzt Teil von Planspielen und Sondierungen im Parteivorstand.

Uns wird versichert, dass es nach dem 26. September niemals zu einem Bündnis mit der Linken kommen werde. Das sei ein Schreckgespenst aus der Mottenkiste. Außerdem: Wer habe schon Angst vor Rot-Grün-Rot? Also: alles total unrealistisch und der Aufregung nicht wert. Im Netz werden Bildchen herumgereicht, die Olaf Scholz an Bord eines eleganten Motorboots im Golf von Venedig zeigen. Hahaha, so sehen also Linksradikale aus, heißt es dazu.

Je mehr ich lese, dass ich mich vor etwas fürchte, was ich mir nur einbilde, das aber ganz und gar ungefährlich ist, desto misstrauischer werde ich. Ich gehöre zu den Leuten, die gerne wissen, wen sie eigentlich wählen, wenn sie ihre Stimme abgeben. Nennen Sie mich old fashioned. Für mich macht es einen gewaltigen Unterschied, ob neben Olaf Scholz und Annalena Baerbock auch Gregor Gysi und Janine Wissler am Kabinettstisch sitzen oder Christian Lindner und Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

Die Linkspartei ist nicht der nette Mann aus Thüringen, der jeden Morgen mit seinem kleinen Hund Gassi geht und auf dem Schreibtisch die Bibel liegen hat. Den stellen sie immer ins Schaufenster, wenn sie die Welt von ihrer Harmlosigkeit überzeugen wollen. Die Linkspartei, das sind neben Altkadern und Jungtrotzkisten wie Frau Wissler die Versprengten diverser Weltrevolutionen, die bis heute davon träumen, das System aus den Angeln zu heben.

Es ist eine Partei, in der man sitzen bleibt, wenn der israelische Staatspräsident im Bundestag spricht, weil man findet, dass sich die Juden ohnehin seit Langem wieder zu mopsig machen. In der man der Meinung ist, dass jeder, der an der Mauer erschossen wurde, im Grunde selbst schuld ist, da er ja nicht über die Mauer hätte flüchten müssen. In der man den Taliban gratuliert, dass sie dem afghanischen Volk „seine Freiheit und Souveränität“ zurückgegeben hätten, und Glückwunschtelegramme an die letzten verbliebenen Diktatoren des ehemaligen sozialistischen Weltreichs schickt.

Vor einem Jahr tauchten im Netz versehentlich Videoausschnitte aus einer Strategiekonferenz auf, zu der die Parteiführung geladen hatte. Wer wissen will, mit wem er es bei der Linken zu tun hat, sollte die Clips ansehen, in denen Witzchen darüber gerissen werden, ob man die Reichen nach dem Machtwechsel gleich erschießt oder erst mal ins Lager steckt. Wo man sich an der Enteignung der deutschen Industrie berauscht und darüber feixt, dass man ja nur im Bundestag sei, um Staatskohle abzugreifen. Das sind die Leute, die uns jetzt als ganz normale Partei verkauft werden.

Ich habe die Woche mit jemandem zu Abend ge- gessen, der sein Ohr auf den Fluren der politischen Macht hat. Erst wird man in einem Linksbündnis die Schuldenbremse aussetzen, sagte er, Klimaschutz ist das neue Sesam-öffne-Dich, das alle Finanztüren aufschließt. Dann wird die große Umverteilungsmaschine angeworfen – Vermögensabgabe, Steuererhöhungen, Erbschaftssteuer, das volle Programm. Dann werde man sich Gedanken machen, wie man ans Eigenheim herankomme, die größte Quelle des Reichtums in Deutschland.

Immobilienbesitz gilt links der Mitte ohnehin als suspekt. Der Panda des deutschen Sozialstaats ist der Mieter. Warum also nicht über eine Vermögens- oder Hypothekenabgabe abschöpfen, was sich bei den Privathaushalten über die letzten Jahren an Vermögen angesammelt habe? Bevor Politiker eingestehen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind, finden sie immer einen Weg, das Geld fremder Leute einzusammeln, sagte mein Gewährsmann lächelnd.

Will Scholz eine Koalition mit der Linkspartei? Das glaube ich nicht. Der Mann ist Realist. Er weiß genau, welchen Höllenritt ein Bündnis mit den Genossen am linken Rand bedeuten würde. Aber ohne Fraktion, die ihn stützt, kann kein Kanzler auf Dauer regieren.

Soll Scholz damit drohen, die Brocken hinzuschmeißen, wenn ihm Kevin Kühnert erklärt, dass Rot-Grün-Rot das Bündnis der Erneuerung sei, auf das Deutschland gewartet habe? Wie schwer es ein Kanzler hat, wenn er gegen seine eigene Partei regiert, hat Helmut Schmidt erlebt. Und der hatte immerhin noch Haudegen wie Hans Apel oder Hans-Jürgen Wischnewski an seiner Seite.

Die SPD von heute ist nicht mehr die SPD, in die meine Mutter 1963 eingetreten ist. Es ist auch nicht mehr die SPD von Leuten wie Klaus von Dohnanyi, Franz Müntefering oder Helmut Schmidt. Jeder der drei würde einen Brief von Saskia Esken wegen Rechtsabweichlertum erhalten. In der SPD von heute reicht es, dass man einen nichtbinären Schauspieler namens Heinrich arglos als Mann anspricht, um knapp an einem Parteiausschlussverfahren vorbeizuschrammen.

Es scheint über die Olaf-Euphorie irgendwie in Vergessenheit geraten zu sein: Aber vor anderthalb Jahren wurde er von seiner eigenen Partei als Vorsitzender abgelehnt, weil er ihr zu mittig war. Gewählt wurde stattdessen ein Pärchen, das den Mitgliedern versprach, aus der Großen Koalition auszutreten, um sie in eine rote Zukunft zu führen.

Und das soll alles nicht mehr gelten, weil die SPD jetzt auf die Plakate schreibt: „Wer Olaf will, muss SPD wählen“? Nun ja, es soll auch Menschen geben, die an Wunderheilung glauben. Oder daran, dass ein gutes Immunsystem ausreicht, um Covid in Schach zu halten.

Bei der Linkspartei entwerfen sie bereits fleißig ein „Sofortprogramm“ für die Machtübernahme. „Klar haben wir ein Problem mit der Person Olaf Scholz“, zitierte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ einen Parteivorstand der Linken. „Wir er-leben aber, dass es in der SPD ganz andere Ausrichtungen gibt.“

Was die Wahrscheinlichkeit einer Bundesregierung mit sozialistischem Einschlag angeht, glaube ich mehr den Funk-tionären als den Journalistenkollegen, die beteuern, sie würden eine Zeitungsseite aufessen, wenn es nach dem 26. September zu einem rot-grün-roten Bündnis komme. Was die Vorhersage von Wahlergebnissen angeht, liegt man in meiner Branche oft erstaunlich weit daneben.

©Silke Werzinger

Weisheit der Straße

Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für einen Kandidaten entscheiden?

Anfang der Woche kündigte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Live-Gespräche mit den Spitzenkandidaten der Parteien an. „Damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich vor der Wahl eine umfassende Meinung bilden können, hat die F.A.Z. ein neues Format ins Leben gerufen“, hieß es in einem Schreiben an die Abonnenten. „In vier Veranstaltungen stellen wir den Kandidaten Fragen zu Programmen, Auftreten und aktuellen Entwicklungen, die Sie gerne vorab einreichen können.“

Den Auftakt machte am Mittwoch Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Union. In den nächsten Wochen folgen FDP-Chef Christian Lindner, der SPD-Kandidat Olaf Scholz und für die Grünen der Parteivorsitzende Robert Habeck. Moment, wird sich jetzt der eine oder andere sagen: Was ist denn das für eine Auswahl? Das geht ja gar nicht: eine reine Männerrunde. Die Grünen haben doch extra eine Spitzenkandidatin benannt, um sicherzustellen, dass auf Angela Merkel wieder eine Frau im Kanzleramt folgt.

Wie sich herausstellte, hatten die Grünen in letzter Minute Robert Habeck als Spitzenkandidaten benannt. Auf Angela Merkel geht die Erfindung der asymmetrischen Demobilisierung zurück, also der Langeweile als Wahlkampf-Mittel, um die Leute so zu ermüden, dass sie ihr Kreuz da setzen, wo sie es immer gesetzt haben. Die Grünen sind jetzt noch einen Schritt weiter: Sie machen ihre Kanzlerkandidatin einfach unsichtbar. Wer nicht mehr auftaucht, kann auch nichts Falsches mehr sagen.

Allenthalben wird über den Wahlkampf geklagt: zu wenig Inhalt, zu wenig Debatte, statt den großen Zukunftsfragen nur Nicklichkeiten und Klein-Klein. Täglich bombardieren einen die Medien mit neuen Hiobsbotschaften von der Klima- front. Und worüber streiten die Wahlkämpfer? Die religiöse Überzeugung von Laschets Spindoktor und die Irregularitäten bei Baerbocks Stipendium!

Als vorläufiger Tiefpunkt gilt ein ZDF-Sommerinterview mit Habeck. Einige besonders enthusiastische Beobachter maßen mit Stoppuhr in der Hand, wie lange die ZDF-Redakteurin den Parteivorsitzenden zu den Problemen des grünen Wahlkampfs befragte, statt zu den wirklich drängenden Fragen vorzustoßen (den Klimawandel und, nun ja, den Klimawandel). Die Uhr hielt bei 9:20 Minuten.

„Aktivismus für das Weiter-So“ beziehungsweise „Parteilichkeit für die Verdrängung“, nannte der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“, Bernd Ulrich, die kritische Befragung, worauf sich die angegriffene Redakteurin genötigt sah, ihre Interviewführung in einer Selbsterklärung zu rechtfertigen.

Was Aktivismus angeht, kennt sich Ulrich aus, sollte man vielleicht dazu sagen. Der Mann hat gerade gemeinsam mit Deutschlands führender Klimaaktivistin, der Grünen Luisa Neubauer, ein Buch in den Handel gebracht. Dass Journalisten den Drang verspüren, sich der guten Sache zu verschreiben, kennt man. Dass ein leitender Redakteur der „Zeit“ im Wahlkampf mit einer von ihm favorisierten Lobbyistin über die ideelle auch eine finanzielle Verwertungsgemeinschaft begründet, darf man als Neuerung sehen. So gesehen hält der Wahlkampf doch Überraschungen bereit.

Ich muss an dieser Stelle ein Geständnis machen. Es mag furchtbar oberflächlich erscheinen, aber mich interessiert die Frage, weshalb man bei den Grünen nicht Indianerhäuptling sagen darf, wie es sich mit Annalena Baerbocks Ausbildung verhält oder warum Armin Laschet auf Fotos immer eine so unglückliche Figur macht, mindestens so sehr wie die Vorschläge zur Lösung der Klimakrise.

Die Lösung kenne ich ja im Zweifel. Nach den Kernkraftwerken werden alle Kohle- und Gaskraftwerke abgeschaltet sowie ein Großteil der deutschen Autokonzerne lahmgelegt, damit Deutschland zum Klimaschutzstar aufsteigt. Vor dem dann wiederum die Chinesen bewundernd den Hut ziehen und sich sagen: „Wir lassen uns doch von den Deutschen bei der Energiewende nicht den Schneid abkaufen. Wenn die ihre Kohlekraft- werke ab 2030 stilllegen, dann ma-chen wir das schon nächstes Jahr!“

Nur weil sich Journalisten rasend für Politik interessieren, heißt das noch nicht, dass auch die normalen Leute das tun. Viele haben gar nicht die Zeit dafür. Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Die Zahl habe ich von Paul Ziemiak, dem Generalsekretär der CDU, und der muss es wissen.

Auch die Bekanntheit von Politikern wird gnadenlos überschätzt. Der „Spiegel“ hat einmal für einen Wissenstest nach den Namen der deutschen Ministerpräsidenten gefragt. Über 40 Prozent der Hessen konnten nicht sagen, wie ihr Regierungschef heißt. In Hamburg waren 50 Prozent ahnungslos, was den Namen des Stadtoberhauptes angeht. Am besten schnitt Horst Seehofer ab. Den konnte eine deutliche Mehrheit der Bayern auf Nachfrage als den Mann benennen, der sie regiert. Da war er allerdings schon als Bundesinnenminister nach Berlin gewechselt.

Normalerweise fällt es nicht so auf, wie unbekannt viele Politiker sind, weil man den Befragten am Telefon Namen und Funktion nennt, wenn man ihre Meinung in Erfahrung bringen will. Man nennt das „gestützte Umfragen“. Trotz der Hilfestellung (und der menschlichen Eigenschaft, Wissenslücken nicht freiwillig zu offenbaren) ist auch hier der Anteil der Unwissenden erstaunlich hoch.

Bei der berühmten „Spiegel“-Treppe, auf der Politiker nach Beliebtheit aufgereiht sind, sagten zum Jahreswechsel bei Heiko Maas 14 Prozent der Befragten, dieser Politiker sei ihnen unbekannt. Bei Olaf Scholz waren es 11 Prozent, bei Annalena Baerbock: 39 Prozent. Es dauert halt wahnsinnig lange, bis man sich als Politiker einen Namen gemacht hat. Deshalb hänge ich als Kolumnist ja auch so an bekannten Gesichtern. Der Tag, als Claudia Roth in die zweite Reihe verschwand, war für mich Karfreitag und Volkstrauertag in einem.

Wenn über ein Drittel der Wähler zu Beginn des Wahlkampfs keinen Schimmer hat, wen die Grünen da als Spitzenkandidatin ins Rennen geschickt haben, ahnt man, wie viel bis September noch in Bewegung ist. Erfolg und Misserfolg in den Umfragen sind zum Gutteil eine Frage des Timings, deshalb liegen sie auch so oft daneben.

Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für eine Partei oder einen Kandidaten entscheiden? Die großen Themen sind es jedenfalls nicht, auch wenn in den Zeitungen gerne das Gegenteil behauptet wird. Wofür Parteien wie die CDU oder die Grünen stehen, ist den meisten mehr oder weniger bekannt. Das ist der Vorteil an eingeführten Marken. Der Blick richtet sich auf den Mann oder die Frau an der Spitze. Das ist die große Unbekannte.

Wäre ich bei den Grünen, würde ich mir auch wün-schen, die Journalisten würden endlich aufhören, nach den Flunkereien oder Pannen im Wahlkampf zu fragen. Ich gehöre allerdings zu den Menschen, die wissen möchten, was für eine Person das ist, die sagt, dass sie das Land regieren will.

Für die großen politischen Fragen mag es unerheblich sein, ob Annalena Baerbock ihren Lebenslauf geschönt hat oder Armin Laschet im falschen Moment lacht. Aber um sich ein Bild von den Menschen zu machen, die sich anschicken, das Kanzleramt zu übernehmen, können solche scheinbar nebensächlichen Begebenheiten durchaus hilfreich sein. Es sind manchmal die kleinen Gesten, die einen Blick hinter die sorgfältig kultivierte Fassade erlauben.

Ist es ungerecht, jemanden nach einem Fehlgriff oder einer unbedachten Äußerung zu beurteilen? Natürlich ist es das. Aber ist es besser, den Strategen und Beratern zu vertrauen, die ein möglichst perfektes Bild von ihrem Kandidaten zu zeichnen versuchen? Gegen die Welt der Plakate und hehren Versprechungen hilft manchmal nur der genaue Blick auf die Abweichung. Man kann das die Weisheit der Straße nennen.

©MICHAEL SZYSZKA

Die Verachtung des Wählers

Auch die Wähler der Linken sind nicht blöd. Tatsächlich sind sie weniger blöd, als viele Politiker annehmen. Auf den linken Führungsetagen fragt man sich händeringend, warum der Erfolg ausbleibt. Vielleicht liegt hier die Erklärung

Zu den bewundernswerten Eigenschaften des Kapitalismus gehört die Fähigkeit, alles zu seinem Vorzug zu nutzen, jetzt eben den Kampf gegen den Rassismus. Mein Freund Jakob Augstein vertritt die These, dass dem Kapitalismus im Grunde gar nichts Besseres passieren könne als die Fixierung auf Minderheiten.

Wäre ich Konzernboss, würde er sagen, dann ist der Deal doch ganz einfach: Stellen wir halt in der Führungsetage ein paar Leute ein, die fremd klingende Namen haben, und reden von „Audianer_innen“ statt von Beschäftigten. Solange sich an den Produktionsbedingungen oder den sozialen Verhältnissen nichts wirklich ändert: alles im Lot.

Im neuen Buch von Sahra Wagenknecht findet sich eine Geschichte, die Augsteins These sehr schön illustriert. Als der Lebensmittelhersteller Knorr im vergangenen Sommer ankündigte, seinen Saucenklassiker von „Zigeunersauce“ in „Paprikasauce Ungarische Art“ umzubenennen, war die Erleichterung groß. Endlich ein Sieg über den Rassismus! Großes Lob für die Einsichtsfähigkeit des Unternehmens!

Dass die zum Konsumgüterkonzern Unilever gehörende Firma den Mitarbeitern im Stammwerk Heilbronn zeitgleich einen neuen Tarifvertrag aufgezwungen hatte, mit deutlich schlechteren Bedingungen, fand hingegen kaum Beachtung. Keine Schlagzeile dazu, keine Erwähnung auf den Hauptnachrichtenseiten. Die Einzigen, die schäumten, waren die Betriebsräte, aber die gelten ja ohnehin als Leute von gestern.

Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt herrscht auf der linken Seite des politischen Spektrums Rätselraten, wie man so tief fallen konnte. „Das Wahlergebnis ist für die SPD wirklich furchtbar, obwohl wir wissen, dass wir genau auf die richtigen Themen gesetzt haben“, erklärte die SPD-Spitzenkandidatin Katja Pähle, ein Satz, der das händeringende Unverständnis perfekt zusammenfasst. Eine der beiden Vorsitzenden der Linkspartei ließ sich zu der Einschätzung hinreißen, die Partei habe keine Fehler gemacht, die „gesellschaftliche Verfasstheit“ in Sachsen-Anhalt sei eben falsch.

Das Problem der Linken ist, dass sie Wählerstimmen mit Likes verwechseln. Wenn ein Thema auf Twitter oder Instagram besonders trendet, denken sie in der Parteizentrale, dass es auch im Wahlkampf zünden wird. Oder wie ein kluger Kopf neulich schrieb: „Die ganze Wahlkampfstrategie der SPD ist aus der Erfahrung entstanden, dass zustimmende Tweets und Postings zu Gender, Feminismus und Identitätspolitik gut geklickt werden.“

Auch die Wähler der Linken sind nicht blöd. Tatsächlich sind sie weniger blöd, als viele Politiker annehmen, dass sie es seien. Die Verkäuferin bei dm kann sehr wohl beurteilen, ob sich ihr Leben verbessert, wenn Olaf Scholz nach seiner Zeit als Bürgermeister und Bundesfinanzminister den Rollenwechsel zum „intersektionellen Feministen“ anstrebt. Im Zweifel sagt sie: Bleibt mir weg mit eurem komischen Feminismus. Mich interessiert, wann die Schulen wieder öffnen, damit die Blagen aus dem Haus sind, und weshalb meine Stromrechnung ständig steigt.

Die Verfechter der intersektionellen Theorie sagen, dass man das eine tun könne und das andere deshalb nicht lassen müsse. Das ist theoretisch richtig, aber so läuft es in der Praxis nicht. Eine politische Bewegung muss Schwerpunkte setzen. Für jedes Thema, das in den Vordergrund rückt, rutscht ein anderes aus dem Blickfeld.

Als ich groß wurde, war der hart arbeitende Mensch, der sich durch Fortbildung aus dem Sumpf seiner Unmündigkeit zieht, das Leitbild der Sozialdemokratie. Die romantische Idee, die man in Willy-wählen-Haushalten wie dem meinen von den sogenannten einfachen Menschen hatte, war zugegebenermaßen etwas kitschig.

Über das Leben am unteren Ende der Gesellschaft hatte man in den aufgeklärten Milieus schon damals eher vage Vorstellungen. Aber niemals wäre es meiner Mutter in den Sinn gekommen, sich über ungebildete Menschen lustig zu machen oder sie zu verhöhnen, weil sie nicht ihren bildungsbürgerlichen Ansprüchen genügten. Also damals: working class hero statt white trash.

Wenn heute von der Unterschicht die Rede ist, dann allenfalls am Rande. Schon das Wort, mit dem man die Abwertung aufgrund der Klassenzugehörigkeit dem Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus beiordnet, ist seltsam sperrig. Man spricht jetzt von „Klassismus“. Für mich klingt das eher nach einer Krankheit als nach einer politischen Diagnose.

Man kann die Entfernung von der Basis interessanterweise auch im Journalismus beobachten. So, wie sich viele Politiker zu fein für ihre Wähler sind, so schreiben viele Journalisten über die Köpfe ihrer Leser hinweg.

Ich wollte immer möglichst viele Menschen erreichen. Wenn man mir die Wahl zwischen einer Kapelle und einer Großkirche lässt, entscheide ich mich automatisch für die große Bühne. Ich dachte am Anfang meiner journalistischen Laufbahn, alle würden so denken. Aber da habe ich mich geirrt. Den meisten meiner Kollegen ist der Applaus ihrer Umgebung wichtiger als der publikumswirksame Auftritt.

Der Leser spielt, anders als man vermuten sollte, auf Redaktionskonferenzen oft nur eine untergeordnete Rolle. Die erste Frage, die sich viele Journalisten stellen, lautet: Was werden die Kollegen über meinen Text denken? Der mit der SPD-Berichterstattung betraute Redakteur hat vor allem die anderen mit der SPD-Berichterstattung betrauten Redakteure im Blick, der für die Grünen zuständige Redakteur den Kreis der Grünen-Kenner.

Da den Experten andere Dinge interessieren als den Laien, verschiebt sich der Fokus der Berichterstattung: vom Allgemeinen aufs Spezielle und vom Außergewöhnlichen aufs Detail, mit dem man unter seinesgleichen glänzen kann. Im Prinzip gilt das für alle Themengebiete, bei denen sich ein Spezialistentum herausbildet: Die Feministin richtet sich mit ihren Texten vornehmlich an andere Feministinnen, die Klimawandelwarner*in an die anderen Klimawandelwarner*innen, der Nazijäger an die Gemeinde der Nazijäger.

Dummerweise ist der Kreis der Spezialisten deutlich kleiner als die Zahl der eher durchschnittlich interessierten Menschen. Der Effekt ist unmittelbar an der Auflage ablesbar. Im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dem es egal sein kann, was die Leute vom Programm halten, muss sich eine Zeitung oder ein Magazin an der Kasse bewähren. Wer an seinen Lesern vorbeischreibt oder ihnen das Gefühl gibt, dass er sich für klüger hält als sie, hat da auf Dauer einen schweren Stand.

Die spannende Frage ist: Warum fällt es vielen politisch bewegten Menschen so schwer, den eingeschlagenen Weg zu verlassen? Die Logik sollte einem sagen, dass man gut beraten ist, sich für die Leute zu interessieren, von deren Zustimmung man abhängt. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Statt von seinen fixen Ideen zu lassen, werden die Anstrengungen verdoppelt. Also hebt man noch mehr Aufrufe gegen Klimawandel und Rassismus ins Programm. Im Zweifel handelt man nach dem Motto: lieber weniger Leser oder Wähler, dafür aber die richtigen.

Wollen Sie noch einen Witz hören? Joe Kaeser, der ehemalige Siemens-Chef, unterstützt jetzt Annalena Baerbock. Er finde, sie gebe eine prima Kanzlerin ab, hat er erklärt.

Mich erinnert das an den Atheisten, der auf seine alten Tage zum Glauben findet. Klar kann man sagen: besser spät als nie. Ich finde es halt nur so furchtbar opportunistisch. Acht Jahre an der Spitze eines der größten Dax-Konzerne stehen, in dieser Zeit Millionen machen, und das nicht nur ökologisch bewusst, um dann, wenn einen der Ruhestand zwickt, den grünen Denker zu geben, damit man auf den Podien neben den Leuten sitzt, die einen eben noch angefeindet haben?

Aber so ist halt der Kapitalist. Wenn man ihm die Gelegenheit gibt, quasi kostenlos auf die richtige Seite zu rutschen, nimmt er sie dankbar wahr. Vielleicht sollten die Grünen Eintrittsgeld für ehemalige Dax- Chefs nehmen. Wer zum grünen Klub dazugehören will, muss sich von der Hälfte seines Vermögens trennen.

Es gibt im Englischen eine schöne Redewendung: Put your money where your mouth is, lautet sie. Ich glaube, ich kann mir eine Übersetzung ersparen.

©Michael Szyszka

Die zwei Gesichter des Olaf Scholz

Seltsame Wesensveränderung bei Olaf Scholz: Eben noch stand der Finanzminister für strikte Haushaltsdisziplin, nun gibt er das Geld aus, als gäbe es kein Morgen. Bange Frage: Wurde Scholz heimlich ausgetauscht?

Was ist mit Olaf Scholz passiert, unserem Finanzminister? Er sieht aus wie Scholz. Er hat die Stimme von Scholz. Aber er redet nicht mehr wie Scholz. Wenn es jemanden im Bundeskabinett gab, der auf Haushaltsdisziplin achtete, dann der Mann aus Hamburg. Für die Verteidigung der schwarzen Null war er sogar bereit, die eigenen Leute vor den Kopf zu stoßen, worauf sie nicht ihn, sondern zwei No Names zu Parteivorsitzenden wählten.

Und nun? Nun gibt er das Geld aus, als ob es kein Morgen gäbe. Auf 218 Milliarden Euro belaufen sich die Schulden für dieses Jahr, ein einsamer Rekord. Im nächsten Jahr kommen nach ersten Schätzungen noch mal 96 Milliarden dazu. Für alle und alles ist Geld da: für die Mütter, denen es an der Rente mangelt, für die Piloten der Lufthansa, für die Kurz und Geringbeschäftigten, denen der Staat bis zum Jahr 2022 ihren Lohn garantiert.

Wenn man Scholz fragt, ob man nicht irgendwo sparen könnte, zuckt er die Achseln. Oder sagt: Wir geben so viel aus, da wollen wir doch jetzt nicht kleinlich sein. Dass er sich inzwischen sogar für eine Koalition mit den Leuten von der Linkspartei erwärmt, ist so gesehen nur folgerichtig. In der schönen Welt des Sozialismus ist immer genug Geld da: Entweder wächst es auf den Bäumen, oder man nimmt es von den Reichen, wer immer unter diese Kategorie gerade fallen mag.

Ich kann mir die Wesensveränderung bei Scholz nur so erklären, dass ihn die Niederlage beim Kampf um den Parteivorsitz innerlich gebrochen hat. Manchmal haben traumatische Erfahrungen für Menschen verheerende Wirkungen. Sie sind dann einfach nicht mehr sie selbst. Oder, andere Erklärung: Sie haben den „Scholzomat“ heimlich ausgetauscht – wie in dem berühmten Horrorfilm „Invasion of the Body Snatchers“, wo die Bewohner einer Kleinstadt durch äußerlich identische Doppelgänger ersetzt werden.

Das würde auch erklären, warum sich die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter Borjans so leicht auf Scholz als Kanzlerkandidaten verständigen konnten. Die Wähler sollen Zutrauen zur SPD fassen. Sie sollen sagen: Das ist ja unser alter Olaf Scholz, der wird schon aufpassen, dass kein Unsinn passiert. Und dann, zack, ist die Wahl vorbei, und es stellt sich heraus, dass Scholz gar nicht mehr der Scholz ist, den sie kannten.

Ich mag Scholz. Wir kommen beide aus Hamburg, das verbindet. Die hanseatische Herkunft erklärt auch, warum er oft so gehemmt wirkt. Als die strengen Corona Regeln gelockert wurden, ging ein Seufzer der Erleichterung durch Hamburg: endlich zurück zu den gewohnten fünf Metern Abstand! Ich habe außerdem nichts gegen Leute, die langweilig sind. Langweiler sind gewissenhaft. Wenn alle in der Regierung wie Andi Scheuer wären, gäbe es ein heilloses Durcheinander. Ich mag auch Scheuer. Aber es kann in jeder Runde nur einen von seiner Sorte geben.

Man sollte bei Scholz allerdings nicht den Fehler machen, sich von ihm in ein Gespräch verwickeln zu lassen. 15 Minuten dehnen sich da schnell zu drei Stunden. Ich spreche aus Erfahrung. Bei einem politischen Sommerfest in Berlin war ich letztes Jahr so unvorsichtig, mich in ein Gespräch über die wechselvolle Geschichte des Ortsverbands Hamburg Wandsbek hineinziehen zu lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass man über die historische Entwicklung von Wandsbek mehr als zwei Sätze verlieren kann. Ich habe mich geirrt, wie ich feststellen musste.

Es folgte dann noch die Geschichte des Ortsverbandes Hamburg-Harburg und die des Ortsverbandes Bargteheide. Mein Rat: Wenn Sie jemals auf einer Party Olaf Scholz begegnen sollten, tun sie so, als müssten sie erst noch ganz dringend jemand anderes begrüßen.

Aber wer weiß, vielleicht haben wir uns schon immer in ihm getäuscht. In der „Süddeutschen Zeitung“ fand sich neulich eine lange Recherche, wie Scholz als Bürgermeister in Hamburg der Warburg Bank eine Steuerschuld von 47 Millionen Euro erließ. Ich muss das anders formulieren: Scholz hat sich mehrfach mit dem Chef der Warburg Bank getroffen, der ihm seine Steuersorgen vortrug, worauf das Finanzamt die Steuerschuld vergaß.

Er könne sich an den Inhalt der Gespräche nicht mehr erinnern, sagt Scholz, er habe aber keinen Einfluss auf das Finanzamt genommen. Klingt zugegebenermaßen etwas abenteuerlich. Deshalb soll sich jetzt auch ein Untersuchungsausschuss mit dem Vorgang befassen.

Noch rätselhafter ist sein Verhalten im Wirecard- Skandal. Ein Finanzminister hat viel zu tun, da kann man sich nicht um alles kümmern, das verstehe ich. Wenn ich allerdings als Minister in der Zeitung lesen würde, dass sich ein Dax-Konzern, dessen Finanzzweig von meinen Leuten überwacht wird, in merkwürdige Transaktionen verstrickt hat, dann würde ich mal nachfragen lassen, was da los ist. Es war auch nicht irgendein Käseblatt, das Anfang 2019 über Unregelmäßigkeiten im Asiengeschäft von Wirecard berichtete, sondern die „Financial Times“, die angesehenste Finanzzeitung der Welt.

Was haben sie stattdessen bei der BaFin, der dem Finanzministerium unterstehenden Finanzaufsicht, gemacht? Den Redakteur der „Financial Times“ wegen des Verdachts auf Insiderhandel verklagt. Er habe den Aktienkurs auf Talfahrt schicken wollen, um sich zu bereichern. Nun ja, wir wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Nicht zugunsten der BaFin.

Wenn Sie jetzt denken, das hat sicherlich personelle Konsequenzen gehabt, muss ich Sie enttäuschen. Keine Frage, wer einer Behörde vorsteht, die nicht bemerkt, dass 1,9 Milliarden Euro lediglich auf philippinischen Fantasiekonten existierten, der ist vermutlich nicht der richtige Mann, um die Sicherheit des Finanzplatzes Deutschland sicherzustellen. Sehe ich auch so, aber so sieht man es nicht in der Welt, in der Olaf Scholz lebt. Der Arbeitsplatz für Felix Hufeld, den Chef der BaFin, ist sicher. Dafür bürgt der Finanzminister persönlich, egal, was kommt.

Zum Beispiel das. Der grüne Abgeordnete Danyal Bayaz hat eine Kleine Anfrage ans Finanzministerium gestellt, wie es denn mit den Aktiengeschäften der BaFin-Mitarbeiter aussah. Ergebnis: Die 94 Mitarbeiter, die für die Verfolgung von Insidergeschäften und Marktmanipulationen zuständig sind, haben bis zum Absturz mit keiner Aktie so viel gehandelt wie mit der von – ja, genau – Wirecard.

Das ist ein wenig so, als würden die Aufseher im Casino sich nach getaner Arbeit an den Roulettetisch setzen und sich von den Croupiers, die sie tagsüber überwacht haben, die Chips zuteilen lassen. Eine eigenartige Arbeitsauffassung, würde ich sagen. Vom Bundesfinanzministerium war in einer ersten Stellungnahme zu hören, man habe die Regeln überprüft und für streng und angemessen befunden.

Wenn es ein Land gibt, das Verlässlichkeit und Korrektheit liebt, dann doch Deutschland, dachte ich immer. Aber so ist es, wenn man den ganzen Tag zu hören bekommt, dass man zu traditionell und zu alt und zu verknöchert sei. Dann sagt man sich irgendwann: Wir müssen auch mal was wagen! Warum nicht mal eine Firma in den Dax holen, die ganz anders ist. Jung und schillernd und digital, um diesen verstaubten Klub von Großkonzernen aufzumischen.

Alt und verstaubt waren sie bei Wirecard nicht. Ein Unternehmen, das mit der Zahlungsabwicklung der Glücksspiel- und Pornobranche groß geworden ist – viel jünger und schillernder geht es nicht. Dagegen ist jeder Bordellbesitzer ein hochseriöser Unternehmer. Bei dem weiß man wenigstens, womit er sein Geld verdient.

Wenn ich darüber nachdenke, dann hätte ich doch gerne den alten Olaf Scholz zurück. Also den Vor-Warburg-, Vor-Wirecard-, Vor-Megaschulden-Scholz. Aber vielleicht habe ich mir den immer nur eingebildet, möglicherweise gab es den nie. Das wäre allerdings eine noch größere Enttäuschung als der Wirecard-Skandal.

Die große Bildungsillusion

Immer mehr Schüler haben Abitur, die Zahl der Einser-Abiturienten steigt und steigt. Was nach einem großen Erfolg der Bildungspolitik aussieht, ist in Wahrheit das Ergebnis eines kleinen, aber entscheidenden Tricks

Sind Menschen in Ländern, die von der SPD regiert werden, dümmer als anderswo und wählen daher SPD? Oder werden sie dümmer, weil die SPD regiert, und schneiden deshalb bei Bildungstests schlechter ab?

Seltsame Frage, werden Sie jetzt vielleicht sagen: Wie kommt Fleischhauer denn darauf? Ganz einfach, wäre meine Antwort: Ich habe mir die Ergebnisse der Studien angesehen, in denen der Kenntnisstand von Schülern ab der vierten Klasse erhoben wird. Überall, wo die SPD regiert, hängen die Kinder hinterher. Es gibt also, so muss man daraus schließen, einen Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Bildungsniveau.

Man kann es auch konkret machen: In Bayern und Sachsen schneiden Schüler mit weitem Abstand am besten ab. In Schleswig-Holstein, Hessen und dem Saarland sind die Ergebnisse immer noch sehr manierlich. Weit hinten liegen regelmäßig Berlin, Bremen oder das schöne Rheinland-Pfalz, egal, ob man nun nach den Rechenkünsten oder dem Lesen fragt.

In Bremen hinken die Schüler ihren Altersgenossen im Süden leistungsmäßig ein Jahr hinterher. Was umgekehrt bedeutet: Wer in Bayern lebt, kann sein Kind jede Woche einen Tag zu Hause lassen, ohne dass es auffallen würde, wenn er nach der Grundschule in den Norden zöge. Vielleicht sollte man die Teilnahme an „Fridays for Future“ vom Wohnort abhängig machen: Demo-Verbot für alle SPD-regierten Länder. Dann haben sie dort möglicherweise endlich eine Chance, zu Bayern und Sachsen aufzuschließen.

Bildungspolitik ist ein vernachlässigtes Feld. Dabei ist das, was an den Schulen geschieht (oder vielmehr: nicht geschieht), für die Zukunft des Landes mindestens so bedeutsam wie die Frage, wie viele Kohlekraftwerke das Land verträgt. Was wir heute nicht in die Köpfe der Kinder bekommen, werden wir auch in 20 Jahren dort nicht vorfinden.

Hin und wieder steigen aus dem Schulalltag beunruhigende Nachrichten auf. Vergangene Woche machte das Ergebnis der neuesten Pisa-Untersuchung die Runde, wonach jeder fünfte Jugendliche im Alter von 15 Jahren schon bei einfachen Satzkonstruktionen an seine Grenzen stößt. Aber das beschäftigt die Medien gerade mal einen Tag, dann sind sie wieder beim Klimagipfel in Madrid oder dem Wunschzettel der SPD für die große Koalition.

Manchmal gibt es Streit. Bayern und Baden-Württemberg haben ankündigt, den Nationalen Bildungsrat zu verlassen. Ich habe nicht ganz verstanden, worum es geht. Offenbar fürchten die Bayern, dass es an bayerischen Schulen bald so zugehen könnte wie im Rest der Republik, wenn sie einem zentral ausgehandelten Abitur zustimmen.

Mich macht schon mal misstrauisch, wenn ausgerechnet der Berliner Bürgermeister Michael Müller von einem Affront spricht. Ich habe zehn Jahre lang in Berlin gelebt, ich kenne die Berliner Schullandschaft aus eigener Anschauung. Lassen Sie es mich so sagen: Man kann auch in Berlin für seine Kinder eine gute Schule finden. Man muss allerdings sehr lange Fahrwege in Kauf nehmen.

Ich glaube, Bildung ist deshalb kein großes Thema, weil im Prinzip alles zu laufen scheint. Immer mehr Schüler haben Abitur. Inzwischen verlässt fast jeder zweite Jugendliche die Schule mit dem Ausweis der Hochschulreife. Die Schüler werden auch immer besser. Die Zahl der Einser-Abiturienten ist binnen zehn Jahren von 20 auf 25 Prozent gestiegen. Was zwei Deutungen zulässt: Wir haben es heute mit der klügsten Generation zu tun, die jemals in Deutschland zur Schule gegangen ist. Oder jemand hilft nach, und damit meine ich nicht den Nachhilfelehrer. Die Lebenserfahrung spricht für die zweite Annahme.

Ich habe mich darüber lange mit dem Frankfurter Didaktikprofessor Hans Peter Klein unterhalten. Klein ist Biologe. Zur Bildungspolitik kam er, weil er jedes Jahr in seinen Vorlesungen mit den Absolventen der deutschen Bildungsanstalten zu tun hat. Vielen Erstsemestern fehlen heute selbst Grundkenntnisse, die noch vor wenigen Jahren selbstverständlich waren. Die Durchfallquoten im Grundstudium nähern sich in einigen Fachbereichen dem Wert von 70 Prozent. Also begann Klein sich für die Frage zu interessieren, was im Abitur eigentlich geprüft wird.

Die erste Erkenntnis war: Die Kultusminister sind dazu übergegangen, den Schwerpunkt von der Vermittlung von Wissen auf die Vermittlung von Kompetenz zu verlagern. Im Abitur wird folgerichtig nicht mehr geprüft, was jemand an Wissen erworben hat, sondern ob der Prüfling in der Lage ist, Wissen anzuwenden. Das ist weit mehr als eine semantische Nuance, es ist eine fundamentale Änderung des Bildungsauftrags.

Wenn nicht der Erwerb von Wissen, sondern die Anwendung von Wissen entscheidend ist, müssen sich die Fragestellungen ändern. Klein hat eine Reihe von Abituraufgaben zusammengetragen, an denen man sehen kann, dass in der Frage bereits alle für die Antwort wichtigen Informationen enthalten sind. Es reicht also, die Aufgabe aufmerksam zu lesen, um zum richtigen Ergebnis zu kommen.

Weil ihm niemand so richtig glauben wollte, dass man heute auch ohne Kenntnisse in der Sache durch eine Prüfung kommt, hat Klein in einer Art Guerilla-Experiment die Abituraufgabe im Fach Biologie in Nordrhein-Westfalen einer neunten Klasse vorgelegt. Das Ergebnis: vier Fünfer, 14 Vierer, fünf Dreier, drei Zweier und eine Eins. Womit bewiesen wäre, dass in NRW jeder, der Lesen und Schreiben kann, theoretisch in der Lage ist, die Hochschulreife zu erwerben.

Den Kultusministern ist es natürlich unangenehm, wenn die Bildungsillusion auffliegt, deshalb machen sie ein großes Geheimnis ums Abitur. Wie groß die Bildungsunterschiede in Deutschland sind, fällt nur dann wirklich auf, wenn ausnahmsweise einmal ungestützt gefragt wird, was ein Kind weiß. Eines der Bundesländer, die sich der Bildungsschummelei verweigert haben, ist Bayern. Auch in Sachsen und Baden-Württemberg hält man das Pauken von Zahlen und Fakten nicht per se für einen Zopf, der eingemottet gehört.

Viele Reformer klagen seit Langem darüber, dass die Bildungspolitik Ländersache ist. Kaum ein Reformaufruf kommt ohne die Forderung aus, endlich die Kleinstaaterei in der Bildung zu beenden. Ich bin da entschieden anderer Meinung. Dass in einigen Bundesländern die Kinder noch etwas lernen, das über den Erwerb von „Kompetenz“ hinausgeht, haben wir allein dem Föderalismus zu verdanken.

Wir hätten heute überall Berliner Verhältnisse, wenn die Bundesregierung auch in der Schulpolitik entscheiden dürfte. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Sozialdemokratisierung der Gesellschaft hätte ausgerechnet vor dem Gymnasium halt gemacht?

Der eigentliche Skandal guter Bildung ist, dass sie Unterschiede besonders sichtbar macht und gerade nicht nivelliert. Das mittelbegabte Kind wird mit der richtigen Förderung besser, das überdurchschnittlich intelligente wird seinen Klassenkameraden weit enteilen. Schule kann immer nur das fördern, was bereits da ist.

Deshalb steht die Gemeinschaftsschule links der Mitte ja auch so hoch im Kurs: Lieber alle gleich schlecht als die einen schlecht und die anderen sehr gut.