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Unser Joe

Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche wie Joe Biden. Aber die Entrücktheit und Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm

Also Harald Staun, der Medienkritiker der „FAS“, glaubt bestimmt noch an Joe Biden. Die Diffamierung als seniler Mann sei eine beliebte Waffe seiner politischen Gegner, schrieb er vor drei Wochen, als im Netz Bilder auftauchten, auf denen der Präsident nach einem imaginären Stuhl griff. Fast immer erwiesen sich die Videos, in denen Biden scheinbar desorientiert wirke, im Nachhinein als Fälschungen oder aus dem Kontext gerissene Szenen.

Auch Olaf Scholz steht weiter zum amerikanischen Präsidenten, wie ich doch annehmen möchte. Biden sei im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, erklärte der Kanzler am Rande des G7-Gipfels in Bari: „Das ist ein Mann, der genau weiß, was er tut.“ Ich habe die „Zeit“ noch nicht konsultiert, auch dies eine wichtige Stimme, wenn es darum ging, Zweifel am Gesundheitszustand des Anführers der freien Welt zu zerstreuen. Aber ich bin sicher, sie wird mir sagen können, weshalb Joe Biden trotz allem der richtige Mann am richtigen Platz ist.

Gut, dass es die Unterstützung aus Deutschland gibt. Darüber hinaus sieht es für den US-Präsidenten leider schlecht aus. Selbst langjährige Anhänger sind nach der TV-Debatte abgefallen. Zu alt, zu tattrig, zu verwirrt lautete das Urteil nach 90 Minuten. In gleich fünf Beiträgen legte die „New York Times“, bislang stets eine verlässliche Bank, dem 81-Jährigen nahe, für einen jüngeren Kandidaten Platz zu machen.

Ich habe mir die vollen 90 Minuten angesehen. Noch beunruhigender als die Aussetzer fand ich den leeren Gesichtsausdruck, mit dem Biden ins Studio starrte, wenn sein Gegenspieler an der Reihe war. Jeder, der sich gezwungen sah, seine Eltern im Altenheim unterzubringen, kennt diesen Ausdruck. Es war das Gesicht eines Menschen, der sich verzweifelt fragt, wo er eigentlich ist, und sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ihn jemand abholt und nach Hause bringt.

Was haben sich die Berater gedacht, als sie dem Fernsehduell zustimmten? Und wer wusste alles Bescheid, wie es um Joe Biden wirklich steht? Das sind die Fragen, die sich jetzt stellen.

Bislang galt die Zwei-Biden-Theorie. Neben dem öffentlichen Biden, also dem Mann, der mit den Toten redet, imaginäre Stühle sucht und zu früh aus dem Bild läuft, wenn man ihn nicht aufhält, existiere ein zweiter, geheimer Biden im Weißen Haus, verbreiteten die Demokraten. Dieser Arbeits-Biden sei wahnsinnig präsent und detailfixiert, treibe die Mitarbeiter zu Höchstleistungen und überrasche selbst Experten mit seinem Scharfsinn. Diese Scharade ist nun krachend ans Ende gekommen.

Wir sollten nicht zu spöttisch reden, auch wir haben unseren Joe. Unser Joe heißt Olaf. Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche, aber die Entrücktheit und die Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm. Wo Biden in die Luft starrt, lächelt Scholz alles weg. Wo der amerikanische Präsident einfach so weitermacht, als sei nichts geschehen, verteilt Scholz Selfies.

Die SPD fährt bei einer bundesweiten Wahl das schlechteste Ergebnis seit 1887 ein? Pah, es kommen auch wieder andere Zeiten. Ob er einen Kommentar habe? Nö. Es gab dann mit zwei Tagen Verspätung doch noch einen Kommentar. Quintessenz: Es ist schlecht, aber es wird gut.

Auch die Sozialdemokraten haben inzwischen eine Zwei-Körper-Theorie, an der sie sich festhalten. Hinter verschlossenen Türen sei der Kanzler mitreißend, führungsstark und zugewandt, ein Politiker, der in klaren Sätzen sage, wo es hingehen solle – so konnte man dieser Tage über den „Drinnenolaf“ lesen. Die Öffentlichkeit hingegen bekomme statt des „Drinnenolaf“ leider nur den „Draußenscholz“ zu sehen, der mit seiner spröden Art selbst treue Gefolgsleute zur Verzweiflung treibe.

Mag sein, dass es zwei Olafs gibt, so wie es ja bis zum Wochenende auch zwei Bidens gab. Für sehr viel naheliegender halte ich allerdings die Vermutung, dass der Mann, den man sieht, weitgehend identisch ist mit dem Mann, der das Land führt.

Eine gewisse Wirklichkeitsabgewandtheit gehört zum Geschäft. Wenn Sie sich als Kanzler von jeder schlechten Nachricht aus dem Konzept bringen lassen, können Sie das Regieren einstellen. Aber diese Regierung hat die Wirklichkeitsabgewandtheit noch einmal auf eine ganz neue Ebene gebracht.

Das Unglück will es, dass die Führung eines Landes die Isolation verstärkt. Wer einmal das Kanzleramt erreicht hat, lebt in einer anderen Welt. Der Apparat ist darauf ausgerichtet, seinen Bewohner von der Außenwelt abzuschirmen.

Das Zimmer des Kanzlers ist mit 142 Quadratmetern so groß wie ein Einfamilienhaus, Besucher müssen durch mehrere Sicherheitsschleusen. Aktenvorgänge werden ihm so präsentiert, dass er mit wenigen Blicken erfasst, was er wissen muss, inklusive der Antworten. Selbstverständlich bewegt sich der Regierungschef auch mit Lichtgeschwindigkeit durchs Land. Dass man stundenlang am Gleis stehen kann, weil der Zug umgeleitet wurde oder irgendwo mit Triebwerksschaden hängen geblieben ist, davon weiß er theoretisch. Schließlich war davon ja mal in der Presselage die Rede. Am eigenen Leib erfährt er davon nichts.

Hin und wieder geht es raus ins Land. Aber auch dort trifft man als Regierungschef in der Regel nur auf Menschen, die um Selfies bitten und ansonsten wahnsinnig stolz sind, dass der Kanzler da ist. Wenn er Krakeeler sieht, dann lediglich als Kulisse bei Wahlkampfauftritten. Näher als zwei Meter kommen ihm solche Schreihälse nicht, dafür sorgt die Sicherheit. Und falls doch mal jemand durchrutschen sollte, wird er mit schmerzhaftem Griff weggeführt.

Auch im Kontakt mit Wirtschaftsführern zieht sich Scholz immer mehr in seine eigene Wahrnehmungswelt zurück. Neulich traf er auf die Vertreter einiger großer Personalvermittlungsfirmen. Sie trugen ihm die Lage vor, auch die Sorge, dass sich die Arbeitslosigkeit sprunghaft verstärken könnte, wenn die Regierung nicht gegensteuert. Scholz hörte sich alles ruhig an, dann sagte er, man solle den Standort Deutschland nicht so schlecht reden. Das war seine Antwort auf die Zustandsbeschreibung der Fachleute. Der Mann, der mir von der Begegnung berichtete, war ernsthaft erschüttert. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mir die Geschichte erzählte, um sich wichtigzumachen.

Wenn man mit den Leuten des Kanzlers spricht, wie es weitergehen soll, dann klammern sie sich an zwei Hoffnungen. Die eine heißt Friedrich Merz. Wenn die Leute im September kommenden Jahres gezwungen seien, sich zwischen zwei Kandidaten zu entscheiden, werde sich die Waage zu Gunsten von Scholz senken. Die andere Hoffnung läuft unter dem Codewort „Populismus der Mitte“. So heißt die V2, die den Gegner und sein Programm pulverisieren soll. Wer weiß, vielleicht klappt es ja dieses Mal mit der Wunderwaffe, aber ich habe da Zweifel.

In den USA überlegen sie jetzt fieberhaft, wie sie Biden doch noch ersetzen können. Die neuesten Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner sich sagt: Lieber einen Mafiaboss im Weißen Haus als einen Greis, der den Lichtschalter nicht findet. So oder so sind die Aussichten für die Demokraten düster. Im August ist der Nominierungsparteitag, drei Monate später wird schon gewählt. Selbst wenn es gelingen sollte, Biden gegen einen jüngeren Kandidaten auszutauschen, hätte der kaum noch Gelegenheit, sich beim Wahlvolk bekannt zu machen.

Die SPD hätte genug Zeit für einen Wechsel an der Spitze, das ist die gute Nachricht. Die Sozialdemokraten verfügen außerdem über einen Alternativkandidaten, der nicht nur bekannt ist, sondern auch noch beliebt. Ja, man glaubt es kaum, aber mit Boris Pistorius stellt die SPD den beliebtesten Politiker Deutschlands. Der Verteidigungsminister verkörpert alles, was Scholz fehlt: Er ist führungsstark, zupackend, dazu mit einer klaren Sprache gesegnet. Und das Beste ist: Er ist das sowohl drinnen wie draußen.

© Silke Werzinger

Der Hasardeur

Viele denken, das Haushaltsdebakel der Regierung sei ein Versehen. Aber was, wenn der Verfassungsbruch einem Muster folgt? Wenn Olaf Scholz in Wahrheit ein Mann ist, der enorme Risiken eingeht, weil er sich für überlegen hält?

 Vielleicht haben wir uns alle in Olaf Scholz getäuscht. Vielleicht ist er gar nicht der, der er zu sein vorgibt.

Die Scholz-Erzählung geht so: Junge aus ordentlichen Verhältnissen beschließt mit zwölf Jahren Bundeskanzler zu werden, wird nicht ernst genommen und erreicht dann zur Überraschung aller dank Hartnäckigkeit sein Ziel.

Andere mögen besser aussehen oder charismatischer sein oder eloquenter. Aber im Gegensatz zu den Blendern und Aufschneidern in der Politik ist auf ihn Verlass: Das ist das Bild, das Scholz von sich zeichnet. So verbreiten es seine Leute.

Dazu passt das Äußere. Die Anzüge, nicht zu modisch, aber auch nicht zu billig. Die Aktentasche von Bree, die noch aus der Referendariatszeit stammt. Und natürlich der rasierte Kopf. Vielen verleiht der kahle Schädel etwas latent Bedrohliches, bei Scholz signalisiert die Glatze nur: wieder Geld für den Friseur gespart. Gegen Scholz wirkt sogar ein Glas Wasser aufregend. Wenn er die Augenbraue verzieht, gilt das schon als Sensation.

Aber was, wenn das alles nicht stimmt? Wenn sich hinter der demonstrativen Biederkeit ein Trickser und Täuscher verbirgt, der immer wieder ans Limit geht und darüber hinaus?

Anruf bei Fabio De Masi, dem Mann, der seit Langem der Meinung ist, dass Scholz nicht der ist, für den ihn die meisten halten. Dreimal saß De Masi dem Bundeskanzler gegenüber. Dreimal ging es um die Frage, ob man Olaf Scholz trauen kann.

Vor drei Monaten hat der Finanzexperte Strafanzeige gegen den Kanzler gestellt, wegen Falschaussage im sogenannten Cum-Ex-Skandal. Falschaussage ist keine Kleinigkeit. Bei Verurteilung drohen bis zu fünf Jahren Gefängnis.

Nun gut, lässt sich einwenden: Einer von der Linkspartei, was soll man da schon erwarten? Aber erstens gehörte De Masi nie zu den Ideologen, weshalb er seine Partei vergangenes Jahr auch verlassen hat. Und zweitens bescheinigen ihm selbst seine Gegner einen ausgeprägten detektivischen Scharfsinn.

Ich habe die Cum-Ex-Geschichte nie ernst genommen. Ein Skandal, den man nicht in zwei Sätzen erklären kann, ist in der Politik keiner. Bei Cum-Ex ist ja nicht mal klar, wie man es korrekt ausspricht, geschweige denn, was es bedeutet. Deshalb ist die Sache über die Wirtschaftsteile der Zeitungen auch kaum hinausgekommen.

Aber ein Kanzler, der lügt, das versteht jedes Kind. Dazu muss man keine Ahnung von den Windungen des Steuerrechts haben. Richtig erzählt ist es ein Krimi.

Die Geschichte beginnt wie viele Affären ganz klein, mit einer Anfrage der Linkspartei-Fraktion an den Senat der Hansestadt Hamburg. In Hamburg geht das Gerücht um, der Warburg-Banker Christian Olearius habe bei Steuerproblemen Schützenhilfe von oben erhalten. Gab es in der Sache Gespräche von Olearius mit Mitgliedern der Stadtregierung, insbesondere dem langjährigen Bürgermeister Olaf Scholz? Das ist die Frage der Abgeordneten.

Die Frage ist nicht nur politisch brisant. Ein Bürgermeister, der Einfluss auf ein Steuerverfahren nimmt, macht sich möglicherweise der Beihilfe zur Steuerhinterziehung schuldig. Das wäre der strafrechtliche Aspekt.

Die Antwort des Senats fällt eindeutig aus. Es habe keine Treffen gegeben, weder mit Scholz noch mit anderen Mitgliedern des Senats. Aber wie das manchmal so ist in der Politik: Was als letztes Wort gedacht war, ist der Anfang einer viel größeren Sache. Bei einer Hausdurchsuchung fällt der Staatsanwaltschaft ein Tagebuch des Warburg-Bankers in die Hände. Und was findet sich dort? Ein länglicher Eintrag über ein Treffen mit Scholz in dessen Amtszimmer am 10. November 2017.

Wie kann das sein? Das fragt sich auch De Masi, der für die Linke zu diesem Zeitpunkt im Bundestag sitzt. Also kommt es zur ersten Begegnung im Finanzausschuss des Parlaments, die Presse hat inzwischen ebenfalls Witterung aufgenommen. Ja, sagt Scholz bei diesem Auftritt, er habe Olearius getroffen, aber das sei ein völlig normaler Vorgang. Und, gab es weitere Treffen?, fragt de Masi. Nichts, was über das hinausgehe, was man bereits der Presse habe entnehmen können, antwortet Scholz.

Auch das lässt sich nicht lange halten. In dem vermaledeiten Tagebuch finden sich zwei weitere Begegnungen, eine im September und eine im Oktober 2016. Wieder wird Scholz vor den Finanzausschuss zitiert. Er habe sich lediglich die Sicht der Dinge von Christian Olearius angehört, gibt Scholz dieses Mal zu Protokoll. Er sei in solchen Fragen ausgesprochen vorsichtig, er stelle höchstens Nachfragen und nehme keinen Standpunkt ein.

Scholz hat zu diesem Zeitpunkt noch eine relativ genaue Erinnerung an den Ablauf des Gesprächs, wie man sieht. Von Erinnerungslücken ist keine Rede. Die kommen erst sieben Monate später, als er vor einem Untersuchungsausschuss in Hamburg aussagen muss. Da kann er sich plötzlich an nichts mehr erinnern, weder an die Treffen, noch an den Inhalt derselben.

Nicht mal sein Auftritt vor dem Finanzausschuss des Bundestags ist ihm plötzlich erinnerlich. „Konkret an die Sitzung des Ausschusses und seinen Verlauf kann ich mich nicht erinnern“, sagt der Mann, der bei anderer Gelegenheit selbst die Umstände eines 40 Jahre zurückliegenden Besuchs im Freibad Rahlstedt-Großlohe abrufen kann.

Bleibt die Frage, warum die Senatskanzlei ursprünglich erklärte, es habe nie ein Treffen gegeben, wenn es in Wahrheit sogar drei Treffen gab. Antwort des Scholz-Sprechers Steffen Hebestreit auf eine entsprechende Anfrage des „Hamburger Abendblatts“: Dass Scholz sich mit Olearius getroffen habe, gehe aus dem Kalender des Ersten Bürgermeisters hervor, der auch der Senatskanzlei vorgelegen haben müsste. „Wieso dies bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage nicht berücksichtigt worden ist, entzieht sich unserer Kenntnis.“

Ab jetzt wird es erst absurd und dann lächerlich. Ein Sprecher des Senats sagt, man habe im Büro Scholz nachgefragt, wie es sich denn mit den Terminen verhalten habe, aber keine Antwort erhalten. Und den Kalendereintrag, auf den sich Hebestreit in seiner Antwort an das „Hamburger Abendblatt” bezieht, den gibt es gar nicht. So sagt es jedenfalls Scholz bei seiner Befragung in Hamburg aus.

Huch, kein Eintrag? Ja, heißt es nun, der Termin sei im Outlook-Kalender leider nicht vermerkt. Als Scholz als Finanzminister nach Berlin gewechselt sei, habe es bei der Überspielung der Daten ein technisches Problem gegeben. Deshalb seien einige Termine im Kalender versehentlich überschrieben worden, darunter auch der vom 10. November 2017. Wo eigentlich das Treffen mit Olearius hätte stehen müssen, klaffe ein Loch.

Genau hier setzt die Strafanzeige an. Wenn es nicht einmal eine schriftliche Spur in Form eines Termineintrags gibt – wie kann Scholz dann bei seiner ersten Befragung einen Termin bestätigen, an den er, wie er anschließend vor dem Untersuchungsausschuss in Hamburg ausführt, keinerlei Erinnerung besitzt? Hat er die ursprüngliche Erinnerung an den angeblich nicht existenten Termineintrag also erfunden? Das ist denklogisch unmöglich, wie De Masi zu Recht folgert.

Bleibt nur die Erklärung, dass dem Kanzler, der sich bei anderer Gelegenheit mühelos an Schwimmbadbesuche im Jahr 1983 erinnern kann, das Gespräch mit dem bedrängten Banker in seinem Büro sehr wohl bis heute präsent ist, er also die Erinnerungslücken nur vortäuscht. Das allerdings wäre nach Strafgesetzbuch Paragraf 153 strafbar.

Ein Kollege, der Scholz neulich in kleinem Kreis erlebte, schilderte einen Mann, der auf seltsame Weise mit sich zufrieden scheint, so als habe er an dem Tag, als er Kanzler wurde, alles erreicht. Das wäre eine Pointe: Ein Bundeskanzler, dem es völlig egal ist, was jetzt noch kommt, weil sich sein Lebenstraum bereits erfüllt hat.

Der ehemalige Abgeordnete De Masi beschreibt Scholz als einen Zocker, der bereit ist, große Risiken einzugehen, weil er sich allen überlegen fühlt und deshalb glaubt, auch mit allem durchzukommen.

Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was beim mächtigsten Mann im Land bedenklicher ist.

© Silke Werzinger

Alles gewusst, alles vorausgesehen

Wenn es einen Preis für Selbstgerechtigkeit gäbe, Angela Merkel würde ihn mühelos gewinnen. Sie verpasst keine Gelegenheit, um zu sagen, wie sehr sie mit sich im Reinen sei. Und nun kommen auch noch die Memoiren!

Vor vier Monaten saß Angela Merkel im Berliner Ensemble und sagte, sie werde nach ihrem Abschied aus dem Kanzleramt nur noch Wohlfühltermine wahrnehmen. Das war eine kleine Gemeinheit gegenüber dem neben ihr sitzenden Reporter Alexander Osang, weil man sich unwillkürlich fragte, ob der Gesprächsabend mit ihm auch schon als Wohlfühltermin angelegt war. Aber man durfte ihre Aussage so verstehen, dass sie sich in Zukunft rarmachen würde.

Leider hat sie sich nicht daran gehalten. Es vergeht keine Woche, ohne dass die Kanzlerin a.D. nicht irgendwo auftaucht und Ratschläge erteilt. Ende September war sie bei der Eröffnungsfeier der Kohl-Stiftung in Berlin, wo sie über sich, Kohl und Putin sprach. Dann hielt sie die Festrede zum 1100-jährigen Stadtjubiläum in Goslar, natürlich mit einem Blick nach Russland. Dann eine Woche später schon die nächste Festrede, diesmal anlässlich des 77. Geburtstags der „Süddeutschen Zeitung“, ebenfalls unter Berücksichtigung des deutsch-russischen Verhältnisses.

Zwischendurch war sie in New York, um den Preis des UN-Flüchtlingswerks für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise entgegenzunehmen, gefolgt von einem Auftritt in Lissabon, wo sie erklärte, weshalb sie ihre Entscheidung, bei der Energieversorgung ganz auf Russland zu setzen, in keiner Weise bereue.

Sie will recht behalten. Unbedingt.

Wandel durch Handel? Hat sie nie dran geglaubt. Putin als Kriegsherr? Hat sie sich nie Illusionen gemacht. Der Überfall auf die Ukraine? Hat sie lange kommen sehen.

Natürlich weiß sie auch genau, wie man es besser machen müsste. Den Verantwortlichen in der Regierung rät sie, mehr Führung zu zeigen. Für die Außenministerin hält sie den Ratschlag bereit, schon jetzt daran zu denken, wie man Russland wieder in die europäische Sicherheitsarchitektur einbinden könne. Das eigentlich Bemerkenswerte ist, würde ich sagen, dass die Leute nicht vor Lachen vom Stuhl kippen, wenn die 16-Jahre-Kanzlerin zu ihnen spricht. Aber so kann wahrscheinlich nur jemand denken, der nicht bei der „Süddeutschen“ beschäftigt ist.

Ich habe über alle Bundeskanzler geschrieben. Adenauer hielt keinen seiner Nachfolger für so geeignet wie sich selbst. Auch Kohls Dickfelligkeit war legendär. Wer nicht für ihn war, der war gegen ihn, dazwischen gab’s für ihn nichts. Aber in puncto Selbstgerechtigkeit bewegt sich Angela Merkel noch einmal in einer ganz eigenen Liga.

Man sieht es ihr auch an. Sie hat diesen Hals von Menschen bekommen, die meinen, alles im Leben richtig gemacht zu haben. Der Kopf sitzt so fest, dass nicht mehr viel Spielraum bleibt, außer für ein Nicken der Selbstzustimmung.

Der „Spiegel“ hat vergangene Woche das Ergebnis einer verdienstvollen Recherche zur Haltung ihrer Regierung zu Nord Stream 2 vorgelegt. Ein Redakteursteam hatte sich über Monate um Einsicht in das bislang geheim gehaltene Gutachten bemüht, in dem das damals noch von Peter Altmaier geführte Wirtschaftsministerium die Risiken einer weiteren Gaspipeline nach Russland bewerten sollte. Es gab Warnungen, vor allem aus Osteuropa und den USA, dass Deutschland durch die Inbetriebnahme in noch größere Abhängigkeit vom Kreml geraten würde.

Sonnigste Einschätzung hingegen aus Berlin: Die neue Pipeline werde die europäische Versorgungssicherheit nicht schwächen, sondern im Gegenteil erhöhen. Gazprom habe grundsätzlich keinen Einfluss auf die durchgeleitete Liefermenge, es stelle nur den Transport sicher. Mehr Röhren, mehr Gas, mehr Verlässlichkeit – so lautete das Fazit vier Monate vor Kriegsausbruch und acht Monate bevor Putin den Gashahn schloss.

Alles vorausgesehen? Alles richtig gemacht?

Von den vielen Ministern, die Angela Merkel dienten, war Peter Altmaier immer der Treueste der Treuen. Nie hätte er es gewagt, gegen die Chefin aufzumucken oder eine Entscheidung in die Wege zu leiten, die sie hätte unglücklich machen können. Man darf also seine Einschätzung durchaus der Kanzlerin zurechnen. Die Sache ist eindeutig: Keine Regierung hat uns so abhängig gemacht von der Energiezufuhr durch einen uns feindlich gesonnenen Staat wie die von Angela Merkel. In ihrer Amtszeit ist die Abhängigkeit von russischem Gas von 43 Prozent auf 55 Prozent gestiegen. Aber wie gesagt: auf weiter Flur kein Grund zur Reue.

©Silke Werzinger

Das Dumme ist: Es wird nicht besser. Im Kanzleramt sitzt ein Mann, der so sein will wie seine Vorgängerin. Wenn es für ihn ein Vorbild gibt, an dem sich Olaf Scholz orientiert, dann die Frau mit dem Selbstbewusstsein einer göttlichen Kaiserin. Als er in den Wahlkampf zog, war sein Versprechen: Ich bin so wie Angela Merkel, nur ohne Raute. Man hat ihn dafür verspottet. Aber die Leute, die Merkel wiedergewählt hätten, wenn man sie gelassen hätte, waren zahlreich genug, um ihn ins Kanzleramt zu bugsieren.

Noch besser, als im Nachhinein recht zu behalten, ist es, alles vorher gewusst zu haben. Auftritt Olaf Scholz beim Maschinenbau-Gipfel am Dienstag vergangener Woche. Putin setzt Gas als Waffe ein? Zitat Scholz: „Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde.“

Gerhard Schröder konnte immerhin von sich sagen, dass er in Putins Reptilienaugen das Gute gesehen habe. Merkel und Scholz haben sich nach eigener Aussage nie Illusionen hingegeben. Wie soll man ihr Verhalten nennen? Sie wussten, wozu Putin in der Lage ist, und haben ihm trotzdem die Gaswaffe in die Hand gedrückt und sogar noch durchgeladen? Blauäugigkeit fällt als Erklärung damit aus. Wäre ich Rechtsbeistand der beiden, würde ich sagen: Vorsicht, eine Klage wegen Landesverrats ist schnell auf den Weg gebracht. Besser sich auf Fahrlässigkeit herausreden. Klingt nicht so gut, erspart einem aber im Gegensatz zu Vorsatz eine Menge Scherereien.

Würde das Eingeständnis, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat, die Situation, in der wir uns befinden, besser machen? Würde es nicht. Aber es könnte dazu beitragen, dass man den gleichen Fehler nicht wiederholt. Vergangenheitsbewältigung ist immer auch Gegenwartsvorsorge. Wer erkennt, wo er mit seiner Einschätzung danebengelegen hat, ist das nächste Mal möglicherweise gewarnt.

Die meisten denken bei China an den riesigen Absatzmarkt. Aber wenn wir nicht aufpassen, tauschen wir gerade bei der Energieproduktion eine Abhängigkeit gegen die andere ein. Keine anderen Energiequellen verschlingen, über ihren Lebenszyklus gerechnet, so viele seltene Metalle und Erden wie Photovoltaik und Windkraft. Und raten Sie mal, wo ein Großteil der Metalle herkommt, die man benötigt, um Solarpaneele und Windräder herzustellen? Es ist leider nicht Europa, sondern das Land der Mitte.

Angela Merkel arbeitet jetzt an ihren Memoiren, zusammen mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann. „Das Buch wird einen exklusiven, persönlichen Einblick geben in das politische Leben und Wirken der Bundeskanzlerin a.D.“, heißt es in der Verlagsankündigung von Kiepenheuer & Witsch, wo die Biografie im Herbst 2024 erscheinen soll. Die Autorin lässt sich mit dem Satz zitieren: „Ich freue mich, zentrale Entscheidungen und Situationen meiner politischen Arbeit zu reflektieren und sie, auch mit Rückgriff auf meine persönliche Geschichte, einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.“

Man muss kein Hellseher sein, um zu sagen, was in den Memoiren stehen wird. Unsere ehemalige Bundeskanzlerin ist mit sich im Reinen. Ihre Politik war im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos. Wer es anders sieht, hat nichts begriffen und nichts verstanden. Ein ideales Geschenk für Masochisten. Aber auch davon gibt es in Deutschland genug, sodass zumindest einer schönen Platzierung auf der Bestsellerliste nichts im Wege steht.

Apokalypse und Filterkaffee

Die Parteien überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern beistehen könne. Noch mehr als Putin fürchten sie in Berlin den Zorn der Straße. Was, so die bange Frage, wenn der Deutsche wieder andere Seiten aufzieht

Kein Bürger werde alleingelassen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt. Das sollte vermutlich beruhigend wirken. Bei mir löst eine solche Ankündigung eher Beklemmung aus. Ich mag es nicht, wenn man mir zu sehr auf die Pelle rückt, erst recht nicht von Staats wegen.

In allen Parteien überschlagen sie sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern in der Krise beistehen könne. Die SPD will Hilfen für Mieter durchsetzen, die ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Weil der schwarze Peter dann bei den Vermietern hängen bleibt, soll den Vermietern selbstverständlich ebenfalls geholfen werden.

Die CDU hat eine Verlängerung des Tankrabatts sowie ein verbilligtes Bahn-Ticket ins Programm aufgenommen. Die Grünen würden am liebsten die Kündigung von Mietern ganz aussetzen. Moratorium nennen sie das, was nur der erste Schritt hin zu einem dauerhaften Kündigungsschutz sein kann. Die einzige Partei, die keine neuen Hilfen verspricht, ist die FDP. Sie will stattdessen zur Schuldenbremse zurück. Vielleicht liegt sie deshalb in den Umfragen so weit hinten.

Das Blöde an Steuergeschenken ist, dass auch für sie jemand bezahlen muss. Dieses ökonomische Gesetz kann selbst die beste sozialstaatliche Förderung nicht außer Kraft setzen. Da es nicht die Politiker sind, die für die Entlastungen geradestehen, die sie versprechen, müssen andere ran, im Zweifel die Leute, die gerade beschenkt wurden.

Die Zustimmung zum Sozialstaat beruht nicht zuletzt auf der Illusion, dass man zu den Gewinnern zählt. Auf die eine oder andere Weise profitiert fast jeder von seinen Segnungen. Da verbilligte Operntickets ebenso zum Angebot zählen wie VHS-Kurse, in denen man in die Kunst des sanften Atmens eingewiesen wird, ist es für viele gar nicht so einfach zu sagen, ob sie am Ende nun draufzahlen oder nicht.

Jetzt geht es also gegen die Gaskrise. Niemanden im Stich lassen zu wollen klingt nobel. Was ist gegen Hilfe in der Not zu sagen? Wenn man genau hinhört, durchzieht die Ankündigungen allerdings ein weiteres Motiv: eine klammheimliche Angst vor dem Bürger. Noch mehr als Wladimir Putin scheinen sie in Berlin den Zorn der Straße zu fürchten. Von der Fürsorge zum Versuch der Ruhigstellung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Unsere Innenministerin Nancy Faeser hat es offen ausgesprochen, als sie vor Protesten wegen steigender Energiepreise warnte. In der Corona-Zeit hätten Menschen zusammen mit Rechtsextremisten ihre Verachtung für die Demokratie rausgebrüllt, sagte sie. Diese Gefahr bestehe wieder. Der thüringische Verfassungsschutz-Chef spricht von Aufmärschen, gegen die alle Corona-Demos ein „Kindergeburtstag“ gewesen seien.

Ungeklärt ist noch die Frage, wie jemand heißt, der Anstoß an ständig steigenden Heizkosten nimmt. Energieleugner? Wobei, die Energiepreisleugner sitzen ja eher im Lager derjenigen, die bis vor Kurzem jede Inflationsgefahr bestritten. Also vielleicht: Energiewendequerdenker. Das klingt hinreichend bedrohlich.

Es ist eigenartig: Auf der einen Seite sehen wir uns als eine der fortschrittlichsten Nationen der Welt. Gerade erst hat die Bundesregierung unter großem Beifall ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach man einmal im Jahr das Geschlecht wechseln kann. Seinen Nachnamen ändern zu lassen ist in Deutschland in Zukunft schwieriger als die Überwindung der Biologie. Andererseits gelten wir Deutsche als latent rückfallgefährdet. Kaum droht im Winter die Heizung kalt zu bleiben und schon marschieren auf den Meinungsspalten die braunen Horden durchs Brandenburger Tor.

Lauert unter der Oberfläche das Böse? Wartet der Nazi in uns nur darauf, wieder durchzubrechen? Das ist die große Frage. Der Politologe Herfried Münkler, mit dem ich die Tage zum Mittagessen zusammensaß, unterscheidet drei Wege, wie sich offen revisionistische Mächte einhegen lassen: Appeasement, Abschreckung und Agressionsabbau durch Wohlstandszuwachs.

Deutschland war auf dem dritten Weg spektakulär erfolgreich. Je dicker und zufriedener die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, desto demokratischer wurden sie auch. Aber damit bleibt natürlich der Verdacht, dass die Deutschen die Demokratie nicht um ihrer selbst lieben, sondern weil sie sich Vorteile versprachen. Das verleiht der Diskussion um den Gasnotstand ihren existenzialistischen Touch: Was, wenn der Wohlstand schrumpft? Schrumpft dann auch die Demokratietreue?

Ich habe die Diskussion in anderen europäischen Ländern nicht so genau verfolgt. Aber mein Eindruck ist, dort nimmt man die Krise mit größerer Gelassenheit. Ein Freund, der vor zwei Wochen seinen Schreibtisch in München mit dem Balkon am Lago Maggiore tauschte, berichtet, dass die Gasknappheit in den italienischen Zeitungen kein großes Thema sei. Auch in Paris oder Amsterdam ist die Lage vergleichsweise ruhig.

Ist es schlau, dass unsere Regierungsvertreter jeden Tag über ihre Ängste sprechen? Ich habe da meine Zweifel. Wie man sieht, fühlt sich Putin durch das sorgenvolle Händeringen, wie schlecht wir ohne sein Gas dastünden, ermuntert, uns unsere Abhängigkeit jede Woche aufs Neue vor Augen zu führen. Mal gibt es 40 Prozent der zugesicherten Gasmenge. Dann gar nichts mehr. Dann wieder etwas. Dann nur noch 20 Prozent. Man kennt das aus dem Tierreich. Es gibt Hunderassen, die erst recht zubeißen, wenn ihnen ein Tier die Kehle zeigt.

Auch im Hinblick auf die innenpolitische Lage scheint es mir nicht besonders klug, Alarmstimmung zu verbreiten. Wenn man als Politiker ständig davon redet, dass die Leute revoltieren könnten, sagen sie sich irgendwann: Dann lass uns das doch mal versuchen.

In Wahrheit misstraut die Politik dem Bürger, deshalb die fürsorgliche Belagerung. Sie hält ihn für ein Mängelwesen, politisch ungefestigt und in Alltagsdingen überfordert.

Der Bürger, wie ihn die Politik sieht, isst und trinkt zu viel. Er arbeitet bis zum Burnout und guckt Fernsehsendungen, die ihn verdummen. Im Supermarkt ist er total aufgeschmissen, weil die Auswahl immer größer wird und er alles für bare Münze nimmt, was ihm die Werbung sagt. Natürlich ist er auch leicht verführbar durch einfache Antworten, wie die Schalmeienklänge der Populisten heißen. Der Politikbetrieb spricht vom „verletzlichen Verbraucher“. Lässt sich ein schöneres Wort für den Gegenentwurf zum mündigen Bürger denken?

Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat angeregt, die Deutschen sollten länger arbeiten, um sich ihren Wohlstand zu erhalten. Es gab sofort Protest. Aber ich glaube, viele wissen insgeheim, dass er recht hat. Am Anfang des deutschen Wirtschaftswunders, das uns zu guten Demokraten gemacht hat, stand nicht die 35-Stunden-Woche, sondern eine kollektive Kraftanstrengung. Das haben außerhalb der Sozialverbände noch nicht alle vergessen.

Wer weiß, vielleicht sind die Deutschen robuster, als viele Politiker denken. Klar, wir müssen dankbar sein, dass wir nach dem Krieg so gründlich pazifiziert wurden, dass heute schon der Ausfall der Klimaanlage im ICE den Anwalt auf den Plan ruft. Aber könnten wir uns nicht ein kleines bisschen auf den Durchhaltewillen besinnen, den diese Nation einmal auszeichnete? Nur vorübergehend, im Streckbetrieb sozusagen, bis die kalten Monate vorbei sind und in Wilhelmshaven endlich das erste Flüssiggasterminal steht?

Wir müssen ja nicht gleich wieder bis nach Stalingrad durchmarschieren. Zwei Pullover übereinander und die Heizung bei 18 Grad, das würde für den Anfang reichen.

©Silke Werzinger

Die Schuld des weißen Mannes

Die Länder des Westens haben 600 Milliarden Euro an Entwicklungshilfe versprochen, um die Allianz gegen Russland zu stärken. Wie wäre es mit dem Gegenteil: Kein Geld für Staaten, die zu Putin halten?

Das Gute an Putin und seinen Satrapen ist, dass sie einen über ihre Absichten selten im Unklaren lassen. Sie reden über die Verheerungen, die sie über die Welt zu bringen gedenken, so selbstverständlich wie andere über das Wetter.

Vor drei Wochen saß die Kreml-Propagandistin Margarita Simonyan auf einer Bühne in St. Petersburg und verbreitete sich lächelnd über Hunger als Waffe. „Unsere Hoffnung ist jetzt der Hunger“, sagte sie. „Kommt der Hunger, kommt der Westen zur Vernunft.“ Er werde seine Sanktionen lockern und wieder freundschaftliche Beziehungen mit Russland pflegen, da es für ihn keine andere Wahl gebe.

An dem Auftritt war neben der blendenden Laune, mit der Frau Simonyan das Hungerprogramm bekannt gab, die Offenheit bemerkenswert, in der sie Mitleid zur Schwäche erklärte. Der Russe kennt kein Mitleid, musste man ihren Ausführungen entnehmen. Er ist nicht so weich wie der Bewohner des Westens, der dem Leid nicht zusehen kann, ohne irgendwann einzulenken.

Steigende Lebensmittelpreise setzen auch Menschen in Deutschland zu. Aber es ist eine Sache, ob man sich einschränken muss, und etwas ganz anderes, seine Familie nicht mehr ernähren zu können, weil der Preis für Brot oder Sonnenblumenöl durch die Decke geht. Bis der Westen Hunger leidet, muss der Krieg in der Ukraine noch sehr, sehr lange dauern.

Man sollte also denken, dass die Anführer der Dritten Welt sich im Zorn auf Putin einig sind. Wenn die Hungerwaffe des Kreml Menschen trifft, dann die Armen in Afrika und Asien. Aber so denken sie nicht, ganz im Gegenteil. Kein Land aus Afrika ist bei den Sanktionen gegen Russland dabei. Kein Land in Lateinamerika. In Asien machen lediglich Japan, Südkorea und Taiwan mit. Wenn die Russen Getreidesilos plündern und Häfen verminen, ist daran nicht Putin schuld, sondern, logisch, der Westen. Dass der Westen schuld ist, darauf kann man sich im Rest der Welt immer verständigen.

„In Deutschland glauben viele, die meisten Länder stünden aufseiten der Ukraine. In Wahrheit entsteht ein antiwestlicher Block, so mächtig, wie es ihn in der Geschichte noch nie gegeben hat“, bilanzierte der „Welt“-Herausgeber Stefan Aust anlässlich des BRICS-Gipfels, bei dem sich China, Russland, Indien, Brasilien und Südafrika auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten zum Gedankenaustausch trafen.

Auch wir haben gerade einen Gipfel hinter uns. Die G7-Staaten trafen sich vor malerischer Bergkulisse im bayrischen Elmau. Anders als 2015, als man sich das erste Mal in Elmau einfand, waren dieses Mal auch eine Reihe von Ländern des „globalen Südens“ zu Gast, wie Entwicklungsländer heute heißen – Indien, Südafrika, Senegal. Dass viele dieser Staaten weiter mit Moskau im Geschäft sind, allen Appellen zum Trotz, ist auch den Regierungschefs der freien Welt nicht verborgen geblieben.

Deshalb jetzt der „Outreach“, also die Umarmung von Staatschefs, von denen man im Westen annimmt, dass sie unsere Werte teilen. Man wolle China und Russland nicht mehr allein das Feld überlassen, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz in Elmau. Und wo man schon mal dabei war, wurde gleich ein finanzielles „Outreach“-Programm mitbeschlossen: 600 Milliarden Euro an zusätzlicher Entwicklungshilfe.

Typisch westlicher Ansatz, würde ich sagen. Wir erhöhen das Entwicklungsgeld und hoffen, dass sie in Afrika dann einsehen, dass es besser ist, nicht auf autokratische Systeme zu setzen, sondern auf die Stimme der Freiheit, also auf uns.

Ich war mehrfach in Afrika, auch in Ländern, die nicht auf der touristischen To-do-Liste stehen. Uganda zum Beispiel. Oder Mauretanien. In Mauretanien war ich mit Bundespräsident Horst Köhler. Wir hatten dort einen sehr schönen Empfang durch die amtierende Regierung. Zwei Wochen nachdem wir zurück in Deutschland waren, las ich, dass es einen Putsch gegeben hatte und alle, die uns eben noch die Hand gegeben hatten, einen Kopf kürzer gemacht worden waren. Die politischen Wetterwechsel können in Afrika sehr abrupt sein.

Eines ist mir bei allen Besuchen aufgefallen: Wir sind zwar vorbildlich, was die Hilfsbereitschaft angeht, aber die Kontakte zu den Mächtigen knüpfen die anderen. Egal, wohin man in Afrika seinen Fuß setzt, die Chinesen sind schon da. Die Chinesen kämen nie auf die Idee, einen Scheck zu schreiben und zu sagen: Macht was Ordentliches damit. Sie kaufen sich für ihre Entwicklungshilfe Minen und Schürfrechte. Oder gleich ganze Regionen. Alles, was wir im Westen als Neokolonialismus ablehnen.

Ich habe eine Ahnung, wie es kommen wird. Die Beschenkten nehmen dankend die 600 Milliarden Euro und sind dennoch nicht bei unseren Sanktionen dabei. Warum auch? Geld aus dem Westen und Discount-Öl aus Russland: Das ist ein unschlagbarer Deal. Wenn mir den jemand anbieten würde, würde ich den auch annehmen.

Vielleicht ist es an der Zeit, unseren Entwicklungshilfeansatz zu überdenken. Möglicherweise kommt man weiter, wenn man Leute nicht noch dafür belohnt, dass sie einem in den Rücken fallen, sondern ihnen sagt, dass es kein Geld mehr gibt, wenn sie nicht aufhören, gemeinsame Sache mit dem Feind zu machen.

Es ist ja ohnehin die Frage, ob wir mit unseren Zahlungen mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirken. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Thilo Thielke am Kilimandscharo. Thielke hat sein halbes Leben in Afrika verbracht, erst als Korrespondent für den „Spiegel“, dann für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, bis ihm ein Herzinfarkt den Stift aus der Hand nahm, um diese altertümliche Wendung zu gebrauchen. Wenn jemand einen klaren Blick auf die Dinge hatte, dann er.

So wie Thielke es sah, dient das Entwicklungsgeld vor allem dazu, weißen Mittelschichtskindern eine aufregende Zeit in der Fremde zu ermöglichen, wo sie dann in Toyota-Landcruisern durch die Gegend sausen können, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Bei den Hilfsbedürftigen kommt das Geld, das die westlichen Regierungen jedes Jahr losschicken, nicht an. Entweder landet es in den Taschen eines Potentaten. Oder in Bauprojekten, mit denen Leute glücklich gemacht werden, die dem Potentaten nahestehen.

An gutem Willen mangelt es nicht. Auch nicht an guten Ideen. Thielke erzählte, wie sie Bauern in die Kunst des Brunnenbohrens einwiesen, damit die armen Menschen nicht mehr von den Launen des Regengottes abhängig wären. Ein Jahr später waren die Brunnen versandet, weil sich niemand um die Wartung gekümmert hatte, und die Bauern kehrten zu den ihnen seit Jahrhunderten vertrauten Methoden des Maniokanbaus zurück. Ich habe keinen Zweifel, dass es genau so war, wie Thielke mir auf seiner Terrasse mit Blick auf die Schneespitze des Kilimandscharo berichtete.

Schon vor Jahren kam der Ökonom William Easterly zu dem Ergebnis, dass Entwicklungshilfe ein Programm zur moralischen Selbstberuhigung der westlichen Eliten sei. Seine Rechnung war einfach: Wie kann es sein, fragte er, dass 600 Milliarden Dollar nach Schwarzafrika geflossen sind, ohne dass sich an den Lebensbedingungen der Menschen dort etwas geändert hat?

„The White Man’s Burden“ nannte Easterly sein Buch, in dem er dafür plädierte, die Idee, wir wüssten, wie man Afrika auf Vordermann bringt, endlich aufzugeben. Ich habe es für diese Kolumne wieder zur Hand genommen. Es ist unverändert aktuell.

Es ist ein Gebot des Herzens, Menschen in Not zu helfen. Schon jetzt leiden weite Teile Afrikas Hunger, weil zu allem Überfluss auch noch der Regen ausgeblieben ist. Es ist wie eine Abfolge biblischer Plagen. Erst kamen die Heuschrecken, dann kam die Dürre, jetzt kommt auch noch der Krieg. Jeder Euro, den wir zur Linderung der Not ausgeben, ist ein gut ausgegebener Euro.

Aber das ist nicht das, was Biden, Macron oder Scholz im Sinn haben, wenn sie 600 Milliarden Euro versprechen. Sie denken, dass man mit Geld Solidarität kaufen könnte. Dazu müsste man allerdings sagen, was passiert, wenn die Solidarität ausbleibt. Ich fürchte, dazu sind unsere Politiker viel zu vornehm.

©Silke Werzinger

Mit brennendem Herzen

War es nicht immer eine Eigenschaft der Linken, wegen allem wie Espenlaub zu zittern? Und nun wollen ausgerechnet die Grünen Waffen an die Ukraine liefern und Leute wie Dieter Nuhr und Martin Walser stemmen sich aus Angst dagegen

Seit Langem fragen sich viele Deutsche, wie sie sich vor 80 Jahren wohl verhalten hätten. Bei den 28 Publizisten und Künstlern, die mit einem offenen Brief in der „Emma“ an Bundeskanzler Olaf Scholz appellierten, ja keine schweren Waffen in die Ukraine zu liefern, ist man nicht länger auf Vermutungen angewiesen. Die 28 hätten zu denen gezählt, die den Friedensschluss mit Hitler-Deutschland gesucht hätten.

Alle Argumente, die sie nennen, hätten schon damals gegolten: dass die Angst vor dem Weltenbrand ein besonnenes Agieren notwendig mache. Dass die Pflicht, dem Schwachen beizustehen, dort ende, wo der Widerstand den Angreifer noch wilder mache. Dass auch der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor das Leid der Zivilbevölkerung so vergrößern könne, dass er moralisch nicht mehr zu rechtfertigen sei.

Es gab vor 80 Jahren, nach dem Blitzkrieg gegen Frankreich, eine ähnliche Diskussion wie heute. Soll man sich dem Diktator entgegenstellen – oder beschwört der Widerstand nur noch größeres Unglück herauf?

„Fünf Tage in London“ heißt ein kleines, sehr lesenswertes Buch, in dem der Historiker John Lukacs die Diskussion 1940 im britischen Kriegskabinett nachzeichnet. Hier die Warner um den gerade zurückgetretenen Premierminister Chamberlain, die meinten, man dürfe nicht auf Eskalation setzen und solle Hitler Friedensverhandlungen anbieten. Dort die Gruppe um Churchill, die sagte: Kämpfen? Jetzt erst recht! Am Ende setzte sich Churchill knapp durch, zum Glück für den Kontinent und die Welt.

Es finden sich bekannte Namen unter dem Appell an Scholz, der seit seinem Erscheinen die Gemüter bewegt. Die Altgrüne Antje Vollmer hat unterschrieben, der Sozialpsychologe Harald Welzer, der schon vor Wochen die „unangenehmen Gefühle“ beschrieb, die es ihm bereite, wenn jemand „tapfer für sein Land“ kämpfe.

Aber es gibt eine Reihe von Namen, die mich überrascht haben. Auch Dieter Nuhr oder Gerhard Polt meinen, dass Olaf Scholz der Ukraine Panzer verweigern sollte? Und was, um Gottes willen, ist in Juli Zeh gefahren, die Frau, die Erfolgsbücher über Leute schreibt, die es nicht im Prenzlauer Berg aushalten, und die nun den Ukrainern rät, sich mit der russischen Besatzung zu arrangieren?

„Mit brennendem Herzen und in großer Sorge“, so begannen früher Unterschriftenaktionen, in denen gegen alles Mögliche zu Felde gezogen wurde – die Überbevölkerung, das Waldsterben, den Atomstaat. Ich dachte, der Intellektuelle, der mahnend das Wort an die Politik richtet, sei mit Günter Grass für immer von der Bühne verschwunden. Da habe ich mich erkennbar geirrt.

Der Krieg führt zu merkwürdigen Konstellationen und Allianzen. Ich finde mich plötzlich an der Seite von Leuten wieder, mit denen ich eben noch in nahezu jeder Frage über Kreuz lag. Ich lese, was linke Plagegeister wie Friedemann Karig, Jagoda Marinic oder Mario Sixtus zum Krieg zu sagen haben, und es erscheint mir grundvernünftig. Ich meine: Sixtus! Der Mann, der auf Twitter das halbe Internet geblockt hat. Und jetzt kann ich jedes Wort von ihm unterschreiben.

Das letzte Mal, dass meine Welt so durcheinandergeriet, war nach den Anschlägen vom 11. September. Ich lebte mit der Familie in New York, als die Türme fielen und George W. Bush dem Irak den Krieg erklärte. In meinem Postfach fanden sich darauf Schreiben von Freunden, sie hätten eigentlich zu Besuch kommen wollen, aber da der Besuch als Solidarität mit den USA verstanden werden könnte, müssten sie ihn leider verschieben.

Einige Freundschaften haben sich davon nicht mehr erholt. Es gibt Momente, in denen man auf den Boden einer Beziehung sieht. Das ist wie in einer Ehe, wenn der Partner ein Gesicht zeigt, das man anschließend nicht mehr vergessen kann, so sehr man sich auch bemüht.

Ich vermute, dass die Panzerlieferungsgegner mehr Menschen hinter sich haben, als es den Anschein hat. Möglicherweise vertreten sie sogar die Mehrheitsmeinung im Land. Nur weil in den Zeitungen die Stimmen derer dominieren, die für ein entschiedenes Eingreifen zugunsten der Ukraine sind, müssen die Leser das nicht auch so sehen. Sich raushalten lag den Nachkriegsdeutschen immer schon näher, als sich einzumischen.

Allerdings macht die Tatsache, dass man die Mehrheitsmeinung vertritt, die Argumente ja noch nicht unbedingt besser. Die Unterrepräsentation der Zögerlichen in deutschen Talkshows liegt möglicherweise auch daran, dass in ihrer Argumentation ein großes, schwarzes Loch klafft.

Alle beteuern, wie sehr ihnen das Schicksal des von Russland bedrängten Landes am Herzen liege. Natürlich dürfe die Ukraine den Krieg nicht verlieren, lautet der letzte Satz in dem Essay, mit dem der Philosoph Jürgen Habermas am Wochenende so etwas wie die Langversion des „Emma“-Aufrufs an Olaf Scholz lieferte. Aber jeder weiß, dass es ohne Panzer und Haubitzen schwer wird, eine Invasionsarmee aufzuhalten.

So bleibt am Ende nur das Argument, dass jede Nation in Kriegszeiten selbst sehen müsse, wo sie bleibe. Am brutalsten hat das Björn Höcke ausgedrückt: „Der Krieg in der Ukraine ist schrecklich, aber es ist nicht unser Krieg.“ So will man es außerhalb der AfD natürlich nicht sagen. Dabei läuft es genau darauf hinaus.

Es heißt, man dürfe Putin nicht weiter provozieren, sonst hole er die Atomwaffe raus, und ehe man es sich versehe, sei man im Dritten Weltkrieg. Kurioserweise sind die Leute, die so denken, nicht weit entfernt von denjenigen, die Putin für einen Wiedergänger Hitlers halten. Wenn man davon ausgeht, dass Putin sogar die Atombombe zünden würde, um seine völkischen Ideen in die Tat umzusetzen, was sollte ihn hindern, einfach weiterzumachen, wenn er erst einmal die Ukraine unterjocht hat?

Mir ist eines aufgefallen: Im Team Vorsicht sind ganz viele Leute, die politisch normalerweise eher meiner Weltsicht zuneigen. Umgekehrt findet man im Lager der Ukraine-Unterstützer überdurchschnittlich viele Menschen, die eher mit den Grünen sympathisieren. Das spiegelt sich auch in den Umfragen wider. Am stärksten ist die Zustimmung zur Militärhilfe für die Ukraine bei den Anhängern von Robert Habeck und Annalena Baerbock. 72 Prozent befürworten dort die Lieferung schwerer Waffen, selbst wenn das bedeuten sollte, dass Deutschland als Kriegspartei gilt.

Warum haben konservativ gesinnte Menschen mehr Angst vor dem Atomkrieg als Grünen-Anhänger? Ich dachte immer, es sei eine Charaktereigenschaft der Linken, wegen allem und jedem wie Espenlaub zu zittern. Gerade die Atomangst war doch eine urlinke Erfindung. Kann man sich darauf auch nicht mehr verlassen?

Schon altersmäßig sind viele, die jetzt zur „Besonnenheit“ mahnen, wie das neue Wort für Untätigkeit lautet, von einem Atomkrieg weniger betroffen. Alice Schwarzer wird dieses Jahr 80 Jahre alt, Alexander Kluge ist gerade 90 geworden, Habermas ist 92 Jahre alt, Martin Walser sogar schon 95. Ich weiß, der Tod kommt immer verfrüht. Aber für einen 25- oder 30- Jährigen kommt er doch deutlich verfrühter.

Vielleicht liegt der Schlüssel zur Erklärung im Selbstbewusstsein eines bestimmten intellektuellen Milieus. Ein Freund brachte mich auf den Gedanken. Er meint, Leute wie Walser oder Habermas können sich schlechterdings nicht vorstellen, dass in den Abendnachrichten vom Erstschlag die Rede ist und sie sind nicht dabei. Sie sagen sich: Wenn es einen Atomkrieg gibt, dann wird mir die Atombombe als Erstem auf den Kopf fallen.

Diese Erklärung hat mir spontan eingeleuchtet.

©Sören Kunz

Wer hat die Ukraine verraten…

Das Verhalten der SPD-Spitze im Ukraine-Krieg ist für Menschen, die an das Gute in der SPD glaubten, was der Missbrauchsskandal für Katholiken ist: ein Vertrauen zerrüttendes Versagen

Ich bin in dem festen Glauben aufgewachsen, dass die SPD eine Kraft des Guten sei. Die Sozialdemokratie verkörperte in meiner Familie weit mehr als eine politische Bewegung. Sie war eine Macht, die Deutschland und dann die Welt in eine hellere, bessere Zukunft führen würde. Wir sprachen zu Hause nur von „der Partei“, so wie man bei Katholiken nur von „der Kirche“ spricht.

Meine erste politische Kindheitserinnerung ist der feige Anschlag der Union gegen unseren geliebten Kanzler Willy Brandt. Ich war neun Jahre alt, als die Opposition versuchte, ihn mit einem Misstrauensvotum zu Fall zu bringen. Ich sehe bis heute meine Mutter vor mir, wie sie am Küchenradio mit gefalteten Händen die Stimmenauszählung verfolgte. Wenn ich nicht wüsste, dass sie nicht an Gott geglaubt hat, könnte ich schwören, dass sich bei der Stimmenauszählung ihre Lippen bewegten.

Bestimmte familiäre Prägungen legt man nie ab. Vieles sieht man mit dem Alter abgeklärter, manches gänzlich anders. Ich habe über meine Abkehr von der Sozialdemokratie in dieser Kolumne oft Zeugnis abgelegt. Aber bis heute spüre ich eine sentimentale Verbindung. Wenn die Kinder von einem Wahlkampfstand mit einem roten SPD-Ballon in der Hand davonziehen, rührt es mich. Das hätte eure Großmutter stolz gemacht, denke ich dann.

Vielleicht liegt hier der Grund für die Erschütterung, die das Versagen der SPD im Kampf gegen Putin bei mir auslöst. Ich glaube, der Ukraine-Krieg ist für Menschen, die der Sozialdemokratie nahestehen, was für Katholiken der Missbrauchsskandal ist: Erst schaut man weg, solange es geht, weil man nicht wahrhaben will, was man hören und lesen muss. Dann tut sich ein großes Loch auf, in dem alles zu verschwinden droht, was bis eben noch das Fundament des Glaubens ausmachte.

Es ist ein Trauerspiel, was die Sozialdemokraten derzeit aufführen. Jeden Tag gibt es neue Erklärungen, warum man der Ukraine nicht die Waffen liefern kann, die sie flehentlich erbittet.

Entweder gibt es nicht genug Panzer. Oder die Bundeswehr braucht die Panzer selbst. Oder es fehlt die Zustimmung der Amerikaner. Oder die anderen Verbündeten haben noch nicht alle Ja gesagt. Oder im Wirtschaftsministerium fehlen leider Unterschriften unter den Ausfuhrgenehmigungen. Oder die Ukrainer können die schweren Waffen gar nicht bedienen. Allein die Diskussion über das notwendige Waffentraining dauert inzwischen länger, als es für das Training selbst gebraucht hätte. Dafür tauchen ständig neue Listen auf, was man alles liefern werde, auf denen sich aber nie die Waffen befinden, nach denen die ukrainische Regierung verzweifelt ruft.

Mit der SPD, in die meine Mutter eingetreten war, hat das alles nichts mehr zu tun. Die Leute an der Spitze berufen sich gerne auf die Entspannungspolitik von Willy Brandt. Aber Brandt wusste genau, mit wem er es auf der anderen Seite zu tun hatte. Brandt war Regierender Bürgermeister in Berlin gewesen, als die Kommunisten die Mauer errichteten. Davor hatte er gegen die Nazis gekämpft. Wenn er die Ostpolitik vorantrieb, dann um die Teilung Europas zu überwinden. Nie wäre er auf die Idee gekommen, eine Macht beschwichtigen zu wollen, die Friedensverträge nach Gusto mal beachtet, mal zerreißt.

Am Anfang war ich hoffnungsvoll. Wie Olaf Scholz drei Tage nach Kriegsbeginn das Steuer herumriss und zwei Jahrzehnte deutscher Russlandpolitik für beendet erklärte, hat mir imponiert. Es gab mir den Glauben an die Partei meiner Kindheit zurück, die immer gegen Aggression und Aggressoren stand.

Aber je länger sich die Sache hinzieht, desto größer werden meine Zweifel, dass es Scholz mit seiner Ankündigung einer Zeitenwende ernst war. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass es vor allem darum geht, so lange Hindernisse zu erfinden, bis die Sache ohne deutsche Beteiligung entschieden ist. Wenn es die Ukraine dann nicht mehr gibt: nicht schön. Aber besser irgendein Friede als keiner, lautet die Logik,

Was den Leuten im Kanzleramt vorzuschweben scheint, ist so etwas wie die Neutralität der Schweiz. Die Mehrheit der Deutschen hätten sie dabei möglicherweise sogar auf ihrer Seite. Wenn der Gaspreis weiter steigt, kann schnell die Stimmung kippen. Was die Kanzlerstrategen übersehen, ist, dass sich die größte Wirtschaftsmacht Europas nicht einfach wie ein Bergvolk vor den Anforderungen der Geschichte verstecken kann. Wenn sie es doch versucht, gerät in Europa mehr ins Rutschen als ein Alpengipfel.

Wann ist die SPD so auf Abwege geraten? Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, verbringt mehr Zeit damit, sich über die Unverschämtheiten des ukrainischen Botschafters aufzuregen als über Putins Vernichtungspläne. Der langjährige Parteichef und Außenminister Sigmar Gabriel stellt in einem Essay bereits Überlegungen an, wie man zu einem „kalten Frieden“ mit Russland finden könne. Der ehemalige Berliner Bürgermeister Michael Müller warnt vor einer „Eskalation“, weil Gewalt ja bekanntlich immer von beiden Seiten ausgeht.

Ein Argument lautet, man würde die Agonie des ukrainischen Volkes nur verlängern, indem man Waffen liefere. Besser als ein monatelanger Krieg sei die Kapitulation und damit ein schneller Friede. Davon abgesehen, dass es moralisch sehr zweifelhaft ist, wenn die Zuschauer dem Opfer einer Gewalttat raten, stillzuhalten, damit es schneller vorbei ist: Wie dieser Frieden aussehen würde, haben die Bilder von Butscha gezeigt. Vom Pazifismus zum abgrundtiefen Zynismus ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Ein anderes Argument heißt, Deutschland müsse alles tun, um einen Atomkrieg zu verhindern. Aber wenn man Putin zutraut, Atomwaffen zu zünden, müsste man dann nicht alles daransetzen, ihm eine Niederlage beizubringen, bevor er nach einem Nato-Mitglied greift? Erst die Entnazifizierung der Ukraine, dann die Entnazifizierung von ganz Europa, so verkünden es russische Nachrichtenagenturen.

Die SPD bildet sich zu Recht viel auf ihre ruhmreiche Geschichte ein. Kein Jubiläum, in dem nicht daran erinnert wird, dass es die Sozialdemokraten waren, die sich 1933 geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis stellten. Seien wir froh, dass Leute wie Mützenich und Gabriel noch nicht geboren waren, als es darum ging, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun.

Man ahnt, wie sie argumentiert hätten. Man stehe fest an der Seite der Demokraten, aber man müsse auch über den Tag hinausdenken. Die Eskalationsspirale dürfe nicht weiter angeheizt werden. Jetzt sei die Zeit, über diplomatische Lösungen nachzudenken. Es könne nur einen Frieden mit Hitler, nicht einen Frieden gegen Hitler geben.

Wie wird die Nachkriegswelt über die merkwürdige Appeasement-Politik der SPD denken? Olaf Scholz mag sich später rühmen, Deutschland aus dem Krieg herausgehalten zu haben. Vielleicht wird er sogar unter den Ersten sein, die wieder Verbindung zu Russland aufnehmen, wenn der Krieg entschieden ist.

Aber unsere Nachbarn werden nicht vergessen haben, wer sich Putin entgegenstellte – und wer nur so tat, als würde er gegen das Böse kämpfen.

©Michael Szyszka

Auf der Couch mit Putin

Wenn es um Russland ging, redeten deutsche Außenpolitiker wie Psychotherapeuten. Da war ganz viel von Verletzungen und Dialogfähigkeit die Rede. Und nun?

Ist Wladimir Putin ein labiler Charakter? Ich hätte mir diese Frage nie gestellt. Aber wenn man in den vergangenen Wochen führenden Sozialdemokraten zuhörte, musste man den Eindruck gewinnen, dass mit dem russischen Präsidenten etwas emotional nicht stimmt. So wie sie über ihn reden, ist er ein unsicherer, komplexbeladener Mann, der nach Anerkennung sucht und von Einkreisungsängsten geplagt ist.

Er könne die Angst vor der Nato-Bedrohung verstehen, erklärte der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich noch vor zwei Wochen: „Ich teile gewisse Bedenken nicht, aber ich kann sie nachvollziehen.“ Auch in den unteren Etagen der Sozialdemokratie macht man sich Gedanken zu Putins Psyche. Am Wochenende wurde ein Brief des Landrats Gernot Schmidt an den Mann in Moskau bekannt, indem sich der SPD-Politiker tief beunruhigt „vom verbalen Aufrüsten in großen Teilen der westlichen Welt“ zeigte.

Ein Blick auf die Landkarte sollte eigentlich beruhigend wirken. Die Stellen, an denen sich Russland und die Nato berühren, machen gerade mal sechs Prozent der russischen Grenze aus. Wie soll man auch ein Land einkreisen, das elf Zeitzonen umfasst und von der Ostsee bis nach China reicht? Aber wie das so ist mit Wahnideen, da hilft ein Blick auf die Realität nur bedingt.

Die psychologische Deutung der Russland-Krise hat längst ein Eigenleben angenommen. Ich saß vergangene Woche in Berlin neben einer Kennerin der russischen Seele, die mir geduldig erklärte, dass alles, was Putin wolle, Respekt sei. Wenn das stimmt, dann muss man sagen: Das Ziel hat er erreicht. Wer 120000 Soldaten an der Grenze eines fremden Landes zusammenzieht, dem ist die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft sicher. Wer Panzer rollen lässt, hat die Welt auf der Sofakante sitzen.

Abgesehen von Soldaten hat Russland auch nicht viel zu bieten, um sich Achtung zu verschaffen. Was die Wirtschaftskraft angeht, rangiert es auf der Höhe von Spanien. Die einzigen exportfähigen Produkte sind Gas und Öl. Dass sich die Welt lediglich für die Rohstoffe eines Landes interessiert, kennt man normalerweise nur aus Dritte-Welt-Staaten. Selbst der Wodka, den die europäische Jugend trinkt, kommt aus Finnland.

Was will Putin? In der „Zeit“ habe ich eine Analyse gelesen, in der der Autor darlegte, dass der russische Präsident nicht zu den Garantien des Kalten Krieges zurück, sondern ganz im Gegenteil in die Regellosigkeit des 21. Jahrhunderts vorstoßen wolle. Das fand ich sehr viel überzeugender als die psychologische Lesart.

Die berechtigten Schutzinteressen, von denen so viel die Rede ist, meinen ja in Wahrheit nicht den Schutz vor der Nato. Von deren Schlagkraft sind sie nicht mal im Hauptquartier in Brüssel überzeugt. In Putins Kriegsrede tauchte das westliche Militärbündnis nur noch unter ferner liefen auf. Berechtigte Schutzinteressen heißt aus Sicht des neuen Zaren: Schutz vor fremden Ideen, die er als gefährlich erachtet, allen voran die Idee der Demokratie.

Bis heute wird die Außenpolitik des Kreml vornehmlich geopolitisch verstanden, als ginge es in erster Linie darum, einiges von dem in der Auflösung des Sowjetreichs verlorenen Gebiet zurückzuholen. Das ist ein Missverständnis. Wenn Putin von den Feinden des russischen Volks spricht, denkt er tiefer. Die Mächte, denen er den Kampf angesagt hat, greifen nach der russischen Seele. Das ist es, was er meint, wenn er davon spricht, dass sich Russland gegen den Westen zur Wehr setzen müsse.

Wie sieht diese Seele aus? Auch dazu hat Putin Auskunft gegeben: „Ich denke, dass der russische Mensch, oder allgemeiner der Mensch in der russischen Welt, vor allem anderen an seine moralische Verpflichtung denkt, an eine höchste moralische Wahrheit.“ Im Gegensatz dazu steht der Westen mit seiner Fixierung auf Erfolg und Wohlstand oder wie es Putin ausdrückt: „das persönliche Selbst“.

Es ist also ein ideologischer Kampf, den Russland aus Sicht seines Präsidenten kämpft: gegen die Oberflächlichkeit des Materialismus, gegen den Verfall der Werte, gegen die Verweiblichung und Verweichlichung der Gesellschaft, die mit der Auflösung traditioneller Bindungen einhergeht, kurz: gegen alles Unrussische. Bei den Freiheitsfeinden am rechten Rand hat man sofort verstanden, dass Putin ihre Zwangsvorstellungen und Ressentiments teilt. Deshalb stehen sie auch in dieser Stunde treu an seiner Seite.

Mir wird immer ein Rätsel bleiben, warum ausgerechnet die Sozialdemokraten so einen Soft Spot für den Mann aus Moskau entwickelt hatten. Wir führen erregte Debatten über Geschlechtergerechtigkeit. Gerade wurde im Bundestag leidenschaftlich debattiert, ob die grüne Abgeordnete Tessa Ganserer nun eine reguläre Frau ist oder nicht. Gleichzeitig warben sie in der SPD noch bis gestern um Verständnis für einen Herrscher, der Schwule und Lesben zusammenprügeln lässt und Transrechte für westliche Dekadenz hält.

Selbst Tschaikowski hat in Moskau mittlerweile ein Problem. Tschaikowski war schwul. Seit 2013 gilt in Russland jede positive Äußerung über Homosexualität als Straftat. Der Russe ist nicht schwul. Der Russe ist wie Putin: jederzeit bereit, in der Taiga einen Tiger mit bloßen Händen niederzuringen. Was, um Gottes willen, fanden sie auf dem linken Flügel der SPD an dem Tigerbezwinger? Ist es ein heimlicher Fetisch? Oder stehen sie bei Don Schröder in der Schuld?

Die Pychologisierung Russlands findet im therapeutischen Diskurs seine Entsprechung. Ständig war vom „Dialog“ die Rede, wenn es um Moskau ging, und dass man den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen dürfe. Daran hat auch die Kriegsankündigung nichts ändern können. Kaum hatte Putin seine Annexionspläne verkündet, meldete sich der Sozialdemokrat Ralf Stegner mit der Mahnung zu Wort, man müsse in dieser brandgefährlichen Situation weiterhin alles tun, damit wieder verhandelt werde.

Ich halte viel vom therapeutischen Gespräch. Ich war zwölf Jahre alt, als die ersten Psychologen bei mir in der Klasse auftauchten, um mit uns über die schädliche Wirkung von Mobbing zu reden. Zu den Standardwerken meiner Studentenzeit gehörte „Ich bin o.k., du bist o.k.“. Später schlossen sich diverse Ehetherapien mit wechselndem Erfolg an. Ich bin durchtherapiert, kann man sagen. Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass man jemanden wie Putin beschwatzen kann, es sich anders zu überlegen, indem man ihm Gruppenmediation anbietet.

Warum fällt es selbst grundvernünftigen Menschen wie unserem Bundespräsidenten so schwer, die Natur des Gegners zu erkennen? An Putin selbst kann es nicht liegen. Er stand immer treu an der Seite von Schurken wie Assad. Er hat Passagiermaschinen vom Himmel holen und Killerkommandos auf seine Feinde hetzen lassen. Erst vor Kurzem musste ihm ein deutsches Gericht schweren Herzens bescheinigen, den Mord an einem georgischen Milizionär im Tiergarten in Auftrag gegeben zu haben.

Dennoch haben sie sich in Berlin bis zum Schluss an der Illusion festgeklammert, wenn man mit Putin im Gespräch bleibe, dann werde er sich schon besinnen. So liegt am Ende dieser Woche nicht nur die Friedensordnung Europas in Scherben, sondern auch zwei Jahrzehnte sozialdemokratischer Russlandpolitik, wie sie von Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier ersonnen und von Angela Merkel fortgeführt wurde.

Am Mittwoch habe ich gelesen, Putin sei krank. Er nehme Steroide. Von allen Erklärungen, die mir angeboten wurden, besitzt diese wenigstens eine gewisse Plausibilität. Das würde die langen Tische erklären, an denen der Präsident Platz nimmt, wenn er nicht im Fernsehen Geschichtsstunden erteilt. Überdosierung führt ja oft zu Paranoia. Auch bei Steroid-Missbrauch ruft man allerdings den Mediziner und nicht den Gesprächstherapeuten zu Hilfe.

©Silke Werzinger

Der verpanzerte Mann

Seine Fans erklären die seltsame Reglosigkeit von Olaf Scholz zum Zeichen von Verlässlichkeit. Man kann sie aber auch unheimlich finden. Was ist von einem Politiker zu halten, der sich jede Regung wie Zorn oder Wut abtrainiert hat?

Ich habe mir in der Mediathek der ARD die Dokumentation von Stephan Lamby über den Wahlkampf angesehen. Zehn Monate ist der Dokumentarfilmer den Spitzenkandidaten gefolgt. Der Film hat viel Beachtung gefunden. Lamby ist dafür bekannt, dass ihm Aufnahmen gelingen, die sattsam Bekanntem Unbekanntes hinzufügen.

Es gibt auch in diesem Film wieder aufschlussreiche Nahaufnahmen. Eine Szene ragt dabei heraus.

Der Kanzlerkandidat der SPD sitzt an einem hellen Konferenztisch. Er trägt ein dunkles Jackett, ein weißes Hemd ohne Schlips, die linke Hand ruht auf dem rechten Unterarm.

Lamby fragt, wie es zu einem Wahlkampffilm kam, den die SPD der Hauptstadtpresse vorgeführt hatte und in dem Vertraute des CDU-Vorsitzenden Armin Laschet auf sehr persönliche Weise angegangen wurden. Der Spot war auf scharfe Kritik gestoßen und daraufhin von der SPD wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Kannte der Kandidat das Video?

„Der Kampagnenleiter hat mir be-richtet, dass er nicht ausgesendet wird und genau einmal gezeigt worden ist“, antwortet Olaf Scholz in die Kamera.

„Und warum?“, hört man Lamby aus dem Off fragen.

„Es ist so, dass die Kampagne sich konzentriert auf die Dinge, die für die Zukunft unseres Landes wichtig sind.“ An dieser Stelle schwenkt die Kamera auf den Dokumentarfilmer, sodass man ihn ausnahmsweise in Person sieht.

„Es tut mir leid, ich muss da nach-fragen. Es gibt doch einen Grund, warum dieser Spot jetzt nicht mehr gezeigt wird. Eine ganz einfach Frage: Warum?“ Wieder antwortet Scholz, ohne zu antworten, in dieser eigentümlich flachen, leblosen Stimme, die ihn kennzeichnet und die jetzt noch etwas flacher und lebloser ist.

Lamby, nun wieder aus dem Off: „Nur, dass ich es verstehe: Kannten Sie den Spot?“

„Das ist ein…“, setzt Scholz an. „Diese.“ Pause. Dann: „Die Maßnahmen, die ich gebilligt habe, sind diejenigen, über die wir hier miteinander gesprochen haben und die ich richtig finde, das sind die Plakate, über die wir hier reden, manches, was noch keiner kennt und demnächst kommt.“

Es ist ein bizarrer Moment. Hat Scholz die Frage nicht verstanden? Das ist kaum anzunehmen, schließlich wird sie ihm im Laufe des Interviews mehrfach vorgelegt. Treibt er ein Spiel mit dem Journalisten? Auch das lässt sich ausschließen.

Man versteht die Reaktion nicht. Es wäre so einfach: Scholz müsste nur sagen, dass er den Clip gesehen und dann beschlossen hat, dass er nicht mehr gezeigt wird. Aber er entscheidet sich dafür, wie ein Mann zu reden, der im Hotel Lux in Moskau sein Ohr an der Wand zum Flur hat.

In Lambys Film „Wege zur Macht“ nimmt die Szene eine knappe Minute ein. Tatsächlich dauerte die Befragung mehr als fünf Minuten, wie der Journalist berichtete. Insgesamt achtmal fragte er nach, ohne eine Antwort zu erhalten. Das vielleicht bizarrste Detail dieses durch und durch seltsamen Auftritts: In der ganzen Zeit bewegt Scholz nicht einmal seinen Körper. Er verzieht auch nicht das Gesicht oder gibt durch eine Geste zu erkennen, dass ihm die Situation unangenehm oder lästig ist.

Olaf Scholz hat sich durch seine Reglosigkeit den Spitznamen „Scholzomat“ erworben. In vielen Porträts wird auf seine Sprödigkeit abgehoben. Wasser beim Kochen zuzusehen sei aufregender, hieß es in einer Wahlkampfbeschreibung in der „New York Times“.

Aber das trifft es aus meiner Sicht nur unzureichend. Die Langeweile, die Scholz verbreitet, verdeckt eine tiefer reichende Leerstelle. Sie ist Ausdruck einer grundsätzlichen Disposition.

Man vermutet bei jemandem wie dem Finanzminister automatisch, dass es sich bei der Beherrschtheit um eine besondere Form der Disziplin handelt, eine spezielle Gabe, Gemütsaufwallungen wie Zorn, Furcht oder Wut unter Kontrolle zu halten. Aber was, wenn er diese emotionalen Zustände gar nicht kennt (oder wenn, dann in nur sehr abgeschwächter Form)? Wer nie von Wut oder Zorn heimgesucht wird, der muss sich auch nicht disziplinieren.

Seine Leute versuchen, die Reglosigkeit als Zeichen von Verlässlichkeit und Seriosität auszugeben. Auf mich wirkt dieses Maß an Selbstbeherrschung eher unheimlich.

Man hat das im Wahlkampf ja nicht ausreichend gewürdigt: Aber es ist gerade mal anderthalb Jahre her, dass ihm seine Partei eine schlimme Niederlage zufügte.

Über Wochen warb Scholz für sich als Parteivorsitzender mit dem Programm, das ihm jetzt im Bundestagswahlkampf Umfragewerte von 25 Prozent bescherte. Bis zum Schluss war er fest davon überzeugt, dass es zwingend auf ihn zulief. Stattdessen entschieden sich die SPD-Mitglieder mehrheitlich für ein Pärchen, dessen Versprechen lautete, anders und vor allem linker zu sein als Scholz.

Ich glaube, man macht sich keine Vorstellungen, was es bedeutet, wenn man auf offener Bühne gedemütigt wird. Wenn man als Minister erleben muss, wie einen ein Juso-Jüngelchen aus Berlin-Schöneberg, das in seinem Leben nicht viel mehr zustande gebracht hat außer einem abgebrochenen Studium der Kommunikationswissenschaften, jeden Tag über die Medien wissen lässt, man sei ein Politiker von gestern.

Wer Kanzler werden wolle, müsse für den Wahlkampf die Nerven haben, sagt Scholz gleich zu Anfang von Lambys Film. Das ist natürlich wahr. Auch Helmut Kohl hat Intri-gen und Rückschläge verkraften müssen. Bei Angela Merkel erinnere ich mich an den Satz, sie fühle sich wie ein nacktes Hühnchen in der Tiefkühltruhe. Da war sie noch Fraktionsvorsitzende der CDU und gerade schwer in Bedrängnis, weil die Männer im Klub ihr den Platz an der Spitze streitig machten.

Aber beide haben ihren Weg gefunden, die Frustrationen und Demütigungen zu kanalisieren – Kohl, indem er die Getreuen um sich scharte und dann Trost im Essen suchte, Merkel, indem sie später als Kanzlerin alle abservierte, die ihr in die Quere gekommen waren.

Nicht einmal zu einem ordentlichen Racheakt scheint Scholz in der Lage. Das hat natürlich seinen Vorteil. Die Emotionslosigkeit ermöglicht es ihm, sich auch mit den Leuten wieder zusammenzutun, die eben noch in Talkshows in Zweifel zogen, ob er überhaupt ein richtiger Sozialdemokrat sei.

Dass die SPD kurz davor steht, ins Kanzleramt einzuziehen, verdankt sie ganz wesentlich der Fähigkeit des Kandidaten, seinen innerparteilichen Gegnern die Angst zu nehmen, er würde sich nach einem Wahlsieg schadlos halten. Das ist keine geringe Leistung. Auch hier fragt man sich allerdings: zu welchem Preis?

Ich bin kein Psychologe, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es gesund ist, wenn man sich so weit von sich selbst entfernt, dass man selbst bei heftigsten Attacken keine Regung zeigt. Ganze Bibliotheken sind über das Unglück des verpanzerten Mannes geschrieben worden, an dem alles abprallt. Legionen von Therapeuten haben dargelegt, wie verhängnisvoll es für den Seelenhaushalt ist, wenn man Zorn und Wut so weit einkapsele, dass man nicht einmal mehr spüre, wenn man zornig sei.

Es ist eine Pointe dieses seltsamen Wahlkampfs, dass die Deutschen bereit sind, sich einem Mann anzuvertrauen, über den sie so wenig wissen wie wohl über keinen Kanzlerkandidaten zuvor. Wir kennen die Stationen seines Aufstiegs; wir wissen, welche Passagen im SPD-Programm ihm besonders am Herzen liegen. Aber welche Gefühle ihn begleiten, wenn er an den Sieg denkt, welche Hoffnungen und Ängste, all das liegt im Dunkeln.

Dass Olaf Scholz zu einer erstaunlichen Doppelbödigkeit in der Lage ist, darauf geben die Skandale Hinweis, die man ihm zulasten legt. Viele Wähler denken, sie wählen mit Olaf Scholz die Verlässlichkeit. Vielleicht sollten sie sich auf eine Überraschung einstellen. Mit einer gewissen Gefühlskälte geht ja mit-unter auch eine verblüffende Unberechenbarkeit einher.

©Sören Kunz