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Der sensible Robert

Ausgerechnet Robert Habeck, der Kandidat der Herzen, verklagt jeden, der sich über ihn lustig macht. Aber so ist das, wenn nur die eigene Betroffenheit zählt, dann rückt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit

Von allen Auftritten zum vorzeitigen Ende der Regierung war der von Robert Habeck der schönste. Um einen Kommentar zum Aus gebeten, legte er den Kopf zur Seite, lauschte in sich hinein und sagte dann, „dass sich das nicht richtig anfühlt.“ Kein Wort des Vorwurfs, kein Nachkarten. Stattdessen: Betroffenheit.

Nicht alle bei den Grünen haben das durchgehalten. Auf dem Parteitag am Wochenende brach es aus der Fraktionschefin Britta Haßelmann heraus, was für eine üble Truppe die FDP doch sei. Man sah die Enttäuschung und Wut darüber, dass nun schon am 23. Februar gewählt wird und nicht erst am 28. September. So viele schöne Projekte, die man nicht mehr zu Ende bringen kann, so viel Geld, das man noch gerne unter die Leute gebracht hätte! Eigentlich gilt bei Scheidungen das Zerrüttungsprinzip, aber in diesem Fall kehren selbst Linke zum Schuldprinzip zurück.

Habeck ist in Lübeck geboren. Auch Björn Engholm kommt von dort. Nicht allen wird der Name Engholm noch etwas sagen, was schade ist, schließlich darf Engholm als Pionier des politischen Emotionalienhandels gelten, gewissermaßen ein Früh-Habeck der Sozialdemokratie. Es war Engholm, der sich als erster auf die „sensiblen Potenziale“ des Landes berief, die es zu heben gelte. Den Fontane entlehnten Satz, man solle mit dem Kopfe fühlen, verstand er nicht als Selbstbezichtigung, sondern als Kompliment.

Keine Ahnung, weshalb gerade die Nordlichter zu vermehrtem Gefühlsausstoß neigen. Auch Daniel Günther von der CDU empfiehlt sich ja als die sanfte Variante seiner Partei. Ist es der lange Blick übers Watt, die Ereignislosigkeit der Landschaft, die Geducktheit der Reetkate? Den Wikingertyp sucht man unter den Talenten im Land zwischen den Meeren jedenfalls vergeblich, der scheint vor Langem ausgestorben.

Habeck verzichtet auf Fontane, aber sensibel geht es auch bei ihm zu. „Ich bin hier bei Freunden in der Küche“, begann das Video, in dem er seine Bewerbung für das Amt des Kanzlers vortrug. Der Küchentisch sei der Ort, an dem man zusammenkomme und die Nachrichten des Tages höre, wie zum Beispiel die von der Wiederwahl Trumps. Treuer Augenaufschlag: „Ich auch.”

Im Wahlkampf muss man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber dass der Wirtschaftsminister der drittgrößten Industrienation der Welt Nachrichten von der Tragweite einer US-Wahl am Küchentisch von Freunden erfährt, lässt einen dann doch an der Informationsbeschaffung der Regierung zweifeln. Anderseits erklärt das möglicherweise die Entrücktheit mancher Ideen.

Das Angebot des grünen Kanzlerkandidaten ist weniger ein inhaltliches, sondern vielmehr ein stilistisches. Wenn einer die Feminisierung der Politik zur Vollendung gebracht hat, dann der Mann aus dem hohen Norden. Gegen die Mischung aus verwuschelter Nachdenklichkeit und einfühlsamen Therapeutenton kommt nicht mal Annalena Baerbock an. Wenn Habeck den Kopf leicht zur Seite legt (Vorsicht: Signaturemove!), schmilzt das eisigste Frauenherz. Ich glaube, sogar Anna Schneider, die tapfere Freiheitskämpferin von der „Welt“, wird dann für einen Moment schwach.

Man ahnt, dass der sanfte Robert nicht nur sanft ist. Wäre es anders, wäre er am Sonntag nicht zum Spitzenkandidaten seiner Partei nominiert worden. Wobei, auch das hat er jetzt den Bedürfnissen seiner Wähler angepasst: Wir Journalisten sollen lieber vom „Kandidaten für die Menschen“ reden. Oder war es vom „Kandidaten der Herzen“? Egal, jedenfalls irgendwas mit viel Nähe und viel Gefühl.

Habeck ist der perfekte Kandidat für Leute, die von Selbstwirksamkeit sprechen, wenn sich das Kind auf den Boden wirft, weil man ihm den Schnuller wegnimmt. Vor 30 Jahren hieß Selbstwirksamkeit noch Selbstverwirklichung, gemeint ist dasselbe.

Das eigene Empfinden zum Maßstab der Weltbeurteilung zu machen, radikale Subjektivität als Mittel der Wirklichkeitsbetrachtung, das ist die eigentliche Errungenschaft der Linken. Umgekehrt ist alles, was rational und damit kalt und herzlos wirkt, verdächtig. Deshalb hatten Leute, die mit der schnöden ökonomischen Wirklichkeit argumentieren, immer schon einen schweren Stand.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich war 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal auf dem Heißen Stuhl Platz nahm, um in die Grundregeln der Gruppentherapie eingeführt zu werden. An die Sitzungen im evangelischen Pfarrhaus schlossen sich während des Zivildiensts dann wöchentliche Supervisionsstunden an, in denen ich unter der kundigen Leitung eines Gestalttherapeuten meine Projektionen zu verstehen lernte.

Ich weiß seitdem, wie der Hase läuft. Mir muss man mit „Du- und Ich-Botschaften“ nicht mehr kommen. Ich formuliere bei Bedarf gerne jeden Vorwurf so perfekt als Ich-Botschaft, dass dem Gegenüber die Ohren glühen, wenn ich fertig bin.

„Was macht das mit Dir“ beziehungsweise „Wie geht es Dir damit“, sind die beiden Zentralsätze der neuen emotionalen Aufgeschlossenheit. Neben das „Problem“, das in unzähligen Varianten als „Beziehungsproblem“, „Umweltproblem“ oder „Sozialproblem“ die politische Sprache bereichert, tritt die „Angst“ als Gefühlswort allerersten Ranges. Es muss nur jemand in einer Diskussion sagen, dass er sich unwohl fühle, und schon erübrigt sich jede weitere Debatte.

Wenn Gefühle zu Fakten werden, werden umgekehrt auch Fakten zu einer Frage der Empfindung. Bis heute hält sich bei den Grünen die Gewissheit, dass die Atomkatastrophe in Fukushima Tausenden das Leben gekostet habe. In Wahrheit ist bei dem Reaktorbrand kein einziger Mensch ums Leben gekommen.

Ein Arbeiter erlag später einer Krebserkrankung aufgrund der Strahlung, der er bei Aufräumarbeiten ausgesetzt war. Alle anderen hat ein schnöder Tsunami ins Wasser gespült. Trotzdem kann man die Uhr danach stellen, dass zum Jahrestag wieder ein grüner Landesverband die Mahnung postet, ja nicht die 10000 Fukushima-Toten zu vergessen.

Unbedarfte werden einwenden, dass es sich schlecht mit der proklamierten Empfindsamkeit verträgt, wenn man Bürgern die Polizei auf den Hals hetzt, nur weil sie einen „Schwachkopf“ genannt haben. Kein Politiker hat mehr Beleidigungen zur Anzeige gebracht als der sensible Robert. 805 Mal wurde die Staatsanwaltschaft seit der Regierungsübernahme im September 2021 bemüht – damit führt er die Liste der Bundesminister mit weitem Abstand an.

Unter den Angezeigten ist auch Stefan Niehoff aus Unterfranken, 64 Jahre alt, Vater einer Tochter mit Downsyndrom. Ich habe mir das Video angesehen, in dem der Mann berichtet, wie er in aller Herrgottsfrühe von zwei Beamten aus dem Bett geklingelt wurde. Der Mann wirkte darin relativ vernünftig.

Habeck versucht jetzt den Eindruck zu erwecken, es sei bei dem Hausbesuch gar nicht um seine Anzeige gegangen. Auf Nachfrage im Fernsehen murmelte etwas von rassistischen und antisemitischen Hintergründen, womit er den bis dato unbescholtenen Rentner im Vorbeigehen auch noch zum Rechtsradikalen stempelte.

Der Durchsuchungsbeschluss ist allerdings eindeutig: In dem Schreiben wird allein auf ein Bild Bezug genommen, das einer Haarpflege-Anzeige nachempfunden ist und den Werbesatz „Schwarzkopf Professional“ zu „Schwachkopf Professional“ verballhornt. Wer weiß, wenn der Mann aus Bayern sich ökologisch korrekt das Shampoo von Dr. Hauschka zum Vorbild genommen hätte, gäbe es vielleicht mildernde Umstände. Aber so: kein Pardon.

Am Dienstag las ich von einer Frau, die mit der Ordnungsmacht in Konflikt geriet, weil sie Habecks berühmte Ausführungen zum Insolvenzrecht zitiert hatte. Dummerweise war ihr dabei ein Fehler unterlaufen. Statt Habecks Zitat („Und dann sind die nicht insolvent, automatisch, aber sie hören vielleicht auf zu verkaufen“) ganz korrekt wiederzugeben, verbreitete sie eine Zitattafel mit dem Satz: „Ein Laden, der aufhört zu verkaufen, ist doch nicht insolvent, er verdient nur kein Geld mehr.“

Zack, Strafantrag wegen übler Nachrede, Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchung.

Das sind nicht die Meldungen, die man sich als Kandidat für die Menschen wünscht, sollte man meinen. Aber das ist ja das Besondere an der neuen Sensibilität: Wo nur die eigene Betroffenheit zählt, tritt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit.

© Michael Szyszka

Der Zwergenkanzler

Er wäre so gerne ein Großer. Manchmal steht Olaf Scholz vor dem Spiegel und übt heimlich Helmut-Schmidt-Gesten. Aber er ist nicht mal ein Schmidtchen, wie die vergangenen Tage gezeigt haben

Der unglücklichste Kanzler war Ludwig Erhard. Als er das Amt übernahm, hielt er sich für den richtigen Mann am richtigen Platz. Der Aufstieg Deutschlands vom niedergebombten Ruinenstaat zum bewunderten Wirtschaftsriesen verband sich mit seinem Namen. „Vater des Wirtschaftswunders“ nannten sie ihn.

Aber kaum im Kanzleramt eingezogen, wendete sich das Schicksal. Erhard war zu freundlich und zu konziliant für das Amt. Die Menschen machten Witze über ihn und den Bonner Kanzlerbungalow, das „Palais Schaumbad“ mit dem Mini-Schwimmbecken in der Mitte. Wofür, fragten die Zeitgenossen, braucht ein Nichtschwimmer einen Pool? Dazu kam der Spott des Erst- und Altkanzlers Konrad Adenauer, der keine Gelegenheit ausließ, seinen Nachfolger mit fiesen Kommentaren zu piesacken.

An zweiter Stelle der gescheiterten Kanzler steht Kurt Georg Kiesinger. Ein feinsinniger Mann, der nachts, wenn ihn die Schlafstörung heimsuchte, gerne im Badezimmer Gedichte las. Aber auch er war ein Mann des Übergangs. Kiesinger gilt heute als eher mediokre Gestalt. Am ehesten ist noch die Ohrfeige in Erinnerung, die ihm die Journalistin Beate Klarsfeld aus Empörung über seine NSDAP-Mitgliedschaft verpasste.

Wo steht Olaf Scholz, wo sieht er sich selbst? Dass es für die erste Reihe nicht reicht, dämmert ihm möglicherweise selbst, auch wenn er sich grundsätzlich für den Klügsten und Weitsichtigsten im Raum hält. Adenauer, Brandt, Kohl – das sind Namen aus einer anderen Liga. Wer es mit ihm sehr gut meint, wird ihm einen Platz im Mittelfeld zuweisen, neben Angela Merkel und Gerhard Schröder.

Die Historiker dürften weitaus ungnädiger urteilen. Wenn Scholz nicht noch auf den allerletzten Meter ein Husarenstück gelingt, wird er als glücklosester Kanzler aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Ein Zwergenkanzler, der vor der Wirklichkeit die Augen verschloss und die Dinge treiben ließ – und dann Führung beweisen wollte, als es zu spät war.

Mich verbindet mit der SPD eine lange, sentimentale Geschichte. Ich hielt sie immer für eine im Kern anständige Partei, glücklos mitunter, sicher, in ihren Ansprüchen nicht selten vermessen, ja hochtrabend, aber am Ende, wenn es darauf ankam, doch verlässlich.

Auch davon muss ich mich trennen. Der Kanzler erweist sich als rachsüchtiger Kleingeist, der ein Temperament erst entdeckt, wenn es um ihn selbst geht. Alles hat er an sich abperlen lassen: die Nöte des deutschen Mittelstands; die desaströsen Lageberichte des deutschen Heeres; die zunehmend verzweifelten Hilferufe der Ukraine, deren Jugend im Kampf für die Freiheit Europas verblutet.

Aber als ihm sein Finanzminister die Gefolgschaft aufkündigte, kannte er plötzlich kein Halten mehr. Ein „schlechter Mensch“ sei dieser Lindner, unseriös, egoistisch, skrupellos, ein Politiker, mit dem man nicht einen Tag länger zusammenarbeiten könne. So steigerte er sich in eine Suada der Erregung.

Leider sind die anderen Leute, die in der SPD den Ton angeben, nicht besser. Lars Klingbeil: ein Parteisoldat, der den Parteiegoismus unter seinem jungenhaften Charme verbirgt. Die unvermeidliche Saskia Esken, die noch dann die Lauterkeit der Sozialdemokratie beschwören würde, wenn sie morgen Nord Stream 2 wiedereröffneten. Und natürlich Rolf Mützenich, der Fraktionschef im Hintergrund, ohne den Scholz schon lange nicht mehr Kanzler wäre.

Wer mit falschen Heiligen vertraut ist, kennt den Typus. Wenn Mützenich vor die Presse tritt, dann mit dem gequälten Gesichtsausdruck des am Unrecht der Welt Verzweifelnden. Jede Entscheidung trägt er im sorgenvollen Tonfall eines Mannes vor, der sich wahrlich nichts leicht gemacht hat, auch wenn’s nur um den schnöden Machterhalt geht.

Bei Sonnenschein und mäßigem Wind lässt sich leicht regieren. Dazu braucht es nicht viel Könnerschaft. Der wahre Charakter zeigt sich im Sturm. So gesehen war der Überfall auf die Ukraine ein Glücksfall. Und zunächst sah es so aus, als wolle Scholz die Gelegenheit beim Schopf greifen und endlich Führungskraft zeigen. Die „Zeitenwende“, die er ausrief, sollte auch eine Wende in eigener Sache sein. Aber leider folgte dem nichts.

Die Bilanz nach drei Jahren fällt entsprechend düster aus. Die Sozialpolitik? Auf Pump finanziert, und in Teilen deshalb schon wieder notabgewickelt. Die Außenpolitik? Ein Trümmerfeld. In nur drei Jahren gelang es, nicht nur das Verhältnis zu Frankreich zu ruinieren, sondern das zu Polen gleich mit. Die Wirtschaftspolitik? Ein einziges Trauerspiel.

Im ARD-Presseclub erinnerte der „Wirtschaftswoche”-Chefredakteur Horst von Buttlar daran, dass derselbe Kanzler, der die Wirtschaft im Sommer dafür verspottete, dass sie ihm ihre Klagen vortrug, dem Land noch vor einem Jahr ein grünes Wirtschaftswunder in Aussicht gestellt hatte, mit Wachstumsraten von drei Prozent. Nun sind wir schon froh, wenn wir nicht Jahr um Jahr ärmer werden.

Scholz wäre so gerne ein Großer. Sein heimliches Vorbild ist Helmut Schmidt, der Mann mit der Lotsenmütze, Inbegriff des hanseatischen Krisenmanagers. Manchmal steht er vor dem Spiegel und übt heimlich Schmidt-Gesten.

Auch der Bruch der Koalition wurde als Wiederholung inszeniert. Bis in die Wortwahl glich die Begründung der Rede, mit der der berühmte Lotse 1982 das Ende seiner Regierung verkündete. Auch damals war vom hinterhältigen Anschlag der FDP die Rede. Der Unterschied ist: In Olaf Scholz sieht niemand einen Helmut Schmidt. Er ist nicht mal ein Schmidtchen.

So gleicht das Stück, dass die SPD aufführt, nicht der Tragödie, die sie so gerne auf dem Spielplan sehen würden, sondern bis in die Nebenrollen nur einer unfreiwilligen Komödie. Wer immer auf die Idee gekommen ist, dem FDP-Mann Wissing zusätzlich zum Verkehrsministerium auch noch das Justizministerium anzutragen, hat einen Sinn für abgründigen Humor. Jetzt darf der arme Mann bis Februar so tun, als sei er ein zweiter Karl Schiller, ein Superminister, auf dessen Wort ganz Deutschland hört. Das Lachen darüber hört man bis nach München.

Zwergenkanzler verzwergen auch das Land, dem sie vorstehen. Am Wochenende hieß es, es mangele an ausreichend Papier, deswegen könnten die Deutschen nicht schon im Januar oder Februar wählen. Das ist der Grund, den die Bundeswahlleiterin Ruth Brand nannte, um vor zu frühen Neuwahlen zu warnen.

Erst war es die Instabilität, die man Deutschland in so schwerer Zeit nicht zumuten könne, weshalb es besser sei, bis März eine Minderheitsregierung im Amt zu belassen. Dann war es die Erinnerung an die Nazis, derentwegen sich eine schnelle Vertrauensfrage des Kanzlers verbiete.

Kein Scherz, so sagte es der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese im Bundestag: Schon die Nationalsozialisten hätten die Republik in die Regierungsunfähigkeit zu manövrieren versucht, indem sie Zweifel an den Institutionen des Staates schürten. Dann, Ultima Ratio, die Papierknappheit.

Anderseits: Das passt zu einem Land, in dem führende Regierungsvertreter die Bürger vor dem Betreten von Brücken warnen, weil man deren Tragfähigkeit nicht länger gewährleisten könne, und jede Bahnfahrt zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang wird. Man fragt sich gelegentlich, wie es uns jemals gelingen konnte, die besten Flugzeuge und Autos der Welt zu bauen. Aber diese Errungenschaft stammt ja auch aus einer Zeit, als man sich noch nicht vor einem Wahltermin fürchtete.

Viel ist von dem Bild die Rede, das Deutschland im Ausland abgibt. Bei jedem Prozentpunkt mehr für die AfD wird warnend der Zeigefinger gehoben, welche abschreckende Wirkung der Erfolg der Rechten auf die Fachkräfte habe, die wir dringend bräuchten.

Ich gelange immer mehr zur Überzeugung, dass der größte Abschreckungseffekt von der Dysfunktionalität Deutschlands ausgeht. Wie attraktiv ist ein Land, in dem sich die Bahn im Postkutschentempo bewegt, das Internet auf dem Niveau von Burkina Faso liegt und man sich schon von einem außerplanmäßigen Wahlgang überfordert zeigt? Dann geht man doch lieber dahin, wo wenigstens die Steuern und Abgaben entsprechend niedrig sind.

Auch das spricht ganz klar gegen Deutschland: Nix hinbekommen – aber dafür die Bürger so zur Kasse bitten wie kein anderes Land in Europa.

© Sören Kunz

Unser Joe

Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche wie Joe Biden. Aber die Entrücktheit und Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm

Also Harald Staun, der Medienkritiker der „FAS“, glaubt bestimmt noch an Joe Biden. Die Diffamierung als seniler Mann sei eine beliebte Waffe seiner politischen Gegner, schrieb er vor drei Wochen, als im Netz Bilder auftauchten, auf denen der Präsident nach einem imaginären Stuhl griff. Fast immer erwiesen sich die Videos, in denen Biden scheinbar desorientiert wirke, im Nachhinein als Fälschungen oder aus dem Kontext gerissene Szenen.

Auch Olaf Scholz steht weiter zum amerikanischen Präsidenten, wie ich doch annehmen möchte. Biden sei im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, erklärte der Kanzler am Rande des G7-Gipfels in Bari: „Das ist ein Mann, der genau weiß, was er tut.“ Ich habe die „Zeit“ noch nicht konsultiert, auch dies eine wichtige Stimme, wenn es darum ging, Zweifel am Gesundheitszustand des Anführers der freien Welt zu zerstreuen. Aber ich bin sicher, sie wird mir sagen können, weshalb Joe Biden trotz allem der richtige Mann am richtigen Platz ist.

Gut, dass es die Unterstützung aus Deutschland gibt. Darüber hinaus sieht es für den US-Präsidenten leider schlecht aus. Selbst langjährige Anhänger sind nach der TV-Debatte abgefallen. Zu alt, zu tattrig, zu verwirrt lautete das Urteil nach 90 Minuten. In gleich fünf Beiträgen legte die „New York Times“, bislang stets eine verlässliche Bank, dem 81-Jährigen nahe, für einen jüngeren Kandidaten Platz zu machen.

Ich habe mir die vollen 90 Minuten angesehen. Noch beunruhigender als die Aussetzer fand ich den leeren Gesichtsausdruck, mit dem Biden ins Studio starrte, wenn sein Gegenspieler an der Reihe war. Jeder, der sich gezwungen sah, seine Eltern im Altenheim unterzubringen, kennt diesen Ausdruck. Es war das Gesicht eines Menschen, der sich verzweifelt fragt, wo er eigentlich ist, und sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ihn jemand abholt und nach Hause bringt.

Was haben sich die Berater gedacht, als sie dem Fernsehduell zustimmten? Und wer wusste alles Bescheid, wie es um Joe Biden wirklich steht? Das sind die Fragen, die sich jetzt stellen.

Bislang galt die Zwei-Biden-Theorie. Neben dem öffentlichen Biden, also dem Mann, der mit den Toten redet, imaginäre Stühle sucht und zu früh aus dem Bild läuft, wenn man ihn nicht aufhält, existiere ein zweiter, geheimer Biden im Weißen Haus, verbreiteten die Demokraten. Dieser Arbeits-Biden sei wahnsinnig präsent und detailfixiert, treibe die Mitarbeiter zu Höchstleistungen und überrasche selbst Experten mit seinem Scharfsinn. Diese Scharade ist nun krachend ans Ende gekommen.

Wir sollten nicht zu spöttisch reden, auch wir haben unseren Joe. Unser Joe heißt Olaf. Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche, aber die Entrücktheit und die Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm. Wo Biden in die Luft starrt, lächelt Scholz alles weg. Wo der amerikanische Präsident einfach so weitermacht, als sei nichts geschehen, verteilt Scholz Selfies.

Die SPD fährt bei einer bundesweiten Wahl das schlechteste Ergebnis seit 1887 ein? Pah, es kommen auch wieder andere Zeiten. Ob er einen Kommentar habe? Nö. Es gab dann mit zwei Tagen Verspätung doch noch einen Kommentar. Quintessenz: Es ist schlecht, aber es wird gut.

Auch die Sozialdemokraten haben inzwischen eine Zwei-Körper-Theorie, an der sie sich festhalten. Hinter verschlossenen Türen sei der Kanzler mitreißend, führungsstark und zugewandt, ein Politiker, der in klaren Sätzen sage, wo es hingehen solle – so konnte man dieser Tage über den „Drinnenolaf“ lesen. Die Öffentlichkeit hingegen bekomme statt des „Drinnenolaf“ leider nur den „Draußenscholz“ zu sehen, der mit seiner spröden Art selbst treue Gefolgsleute zur Verzweiflung treibe.

Mag sein, dass es zwei Olafs gibt, so wie es ja bis zum Wochenende auch zwei Bidens gab. Für sehr viel naheliegender halte ich allerdings die Vermutung, dass der Mann, den man sieht, weitgehend identisch ist mit dem Mann, der das Land führt.

Eine gewisse Wirklichkeitsabgewandtheit gehört zum Geschäft. Wenn Sie sich als Kanzler von jeder schlechten Nachricht aus dem Konzept bringen lassen, können Sie das Regieren einstellen. Aber diese Regierung hat die Wirklichkeitsabgewandtheit noch einmal auf eine ganz neue Ebene gebracht.

Das Unglück will es, dass die Führung eines Landes die Isolation verstärkt. Wer einmal das Kanzleramt erreicht hat, lebt in einer anderen Welt. Der Apparat ist darauf ausgerichtet, seinen Bewohner von der Außenwelt abzuschirmen.

Das Zimmer des Kanzlers ist mit 142 Quadratmetern so groß wie ein Einfamilienhaus, Besucher müssen durch mehrere Sicherheitsschleusen. Aktenvorgänge werden ihm so präsentiert, dass er mit wenigen Blicken erfasst, was er wissen muss, inklusive der Antworten. Selbstverständlich bewegt sich der Regierungschef auch mit Lichtgeschwindigkeit durchs Land. Dass man stundenlang am Gleis stehen kann, weil der Zug umgeleitet wurde oder irgendwo mit Triebwerksschaden hängen geblieben ist, davon weiß er theoretisch. Schließlich war davon ja mal in der Presselage die Rede. Am eigenen Leib erfährt er davon nichts.

Hin und wieder geht es raus ins Land. Aber auch dort trifft man als Regierungschef in der Regel nur auf Menschen, die um Selfies bitten und ansonsten wahnsinnig stolz sind, dass der Kanzler da ist. Wenn er Krakeeler sieht, dann lediglich als Kulisse bei Wahlkampfauftritten. Näher als zwei Meter kommen ihm solche Schreihälse nicht, dafür sorgt die Sicherheit. Und falls doch mal jemand durchrutschen sollte, wird er mit schmerzhaftem Griff weggeführt.

Auch im Kontakt mit Wirtschaftsführern zieht sich Scholz immer mehr in seine eigene Wahrnehmungswelt zurück. Neulich traf er auf die Vertreter einiger großer Personalvermittlungsfirmen. Sie trugen ihm die Lage vor, auch die Sorge, dass sich die Arbeitslosigkeit sprunghaft verstärken könnte, wenn die Regierung nicht gegensteuert. Scholz hörte sich alles ruhig an, dann sagte er, man solle den Standort Deutschland nicht so schlecht reden. Das war seine Antwort auf die Zustandsbeschreibung der Fachleute. Der Mann, der mir von der Begegnung berichtete, war ernsthaft erschüttert. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mir die Geschichte erzählte, um sich wichtigzumachen.

Wenn man mit den Leuten des Kanzlers spricht, wie es weitergehen soll, dann klammern sie sich an zwei Hoffnungen. Die eine heißt Friedrich Merz. Wenn die Leute im September kommenden Jahres gezwungen seien, sich zwischen zwei Kandidaten zu entscheiden, werde sich die Waage zu Gunsten von Scholz senken. Die andere Hoffnung läuft unter dem Codewort „Populismus der Mitte“. So heißt die V2, die den Gegner und sein Programm pulverisieren soll. Wer weiß, vielleicht klappt es ja dieses Mal mit der Wunderwaffe, aber ich habe da Zweifel.

In den USA überlegen sie jetzt fieberhaft, wie sie Biden doch noch ersetzen können. Die neuesten Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner sich sagt: Lieber einen Mafiaboss im Weißen Haus als einen Greis, der den Lichtschalter nicht findet. So oder so sind die Aussichten für die Demokraten düster. Im August ist der Nominierungsparteitag, drei Monate später wird schon gewählt. Selbst wenn es gelingen sollte, Biden gegen einen jüngeren Kandidaten auszutauschen, hätte der kaum noch Gelegenheit, sich beim Wahlvolk bekannt zu machen.

Die SPD hätte genug Zeit für einen Wechsel an der Spitze, das ist die gute Nachricht. Die Sozialdemokraten verfügen außerdem über einen Alternativkandidaten, der nicht nur bekannt ist, sondern auch noch beliebt. Ja, man glaubt es kaum, aber mit Boris Pistorius stellt die SPD den beliebtesten Politiker Deutschlands. Der Verteidigungsminister verkörpert alles, was Scholz fehlt: Er ist führungsstark, zupackend, dazu mit einer klaren Sprache gesegnet. Und das Beste ist: Er ist das sowohl drinnen wie draußen.

© Silke Werzinger