Monat: September 2020

Der falsche Kandidat

Friedrich Merz gilt als Mann von gestern. Dabei ist sein Problem nicht die angebliche Rückwärtsgewandtheit, sondern das Verspannte und Verklemmte, dass bei nahezu jedem Auftritt zum Vorschein kommt

Friedrich Merz hat auf „Bild TV“ ein Interview gegeben. Es ging um die Kandidatur für den CDU-Vorsitz und seine Konkurrenten. Was er von einem schwulen Bundeskanzler halten würde, wurde er gefragt. Ob er da Vorbehalte hätte? Mit der Frage war Jens Spahn gemeint, der bei den Beliebtheitswerten vor Merz liegt und von dem man weiß, dass er mit einem Mann verheiratet ist.

Es gibt in so einem Fall mehrere Möglichkeiten zu antworten. Man könnte sagen, dass man die Frage nicht verstehe. Warum es von Bedeutung sei, mit wem ein Kanzler zusammenlebe? Man könnte darauf verweisen, dass die Homosexualität eines Politikers vielleicht für andere ein Problem sei, aber nicht für einen selbst. Man könnte natürlich auch sagen, dass man nur jemanden an der Spitze der Regierung sehen will, der dem klassischen Familienbild entspricht. Das wäre die Variante, mit der sich am meisten Aufmerksamkeit generieren ließe.

Merz entschied sich für den Mittelweg. Die sexuelle Orientierung sei Privatsache, sagte er, um dann hinzuzufügen, wo aus seiner Sicht diese Privatsache ende: wenn Gesetze missachtet würden oder Kinder im Spiel seien. Einer, der bei Homosexualität an Gesetzesbruch und Pädophilie denkt, und das auch so äußert: Das hat es an der Spitze der CDU zuletzt vor 60 Jahren gegeben. Nicht einmal Helmut Kohl hätte sich zu einer solchen Aussage verleiten lassen.

Merz hat anschließend erklärt, dass er sich falsch verstanden fühle. Aber man muss die Frage nur leicht abwandeln, um zu erkennen, dass die Antwort, die er gab, nicht so harmlos ist, wie er es im Nachhinein gerne dargestellt wüsste. Nehmen wir für einen Moment an, die Frage hätte gelautet: „Armin Laschet hat eine 30 Jahre jüngere Freundin. Hätten sie Vorbehalte gegen einen Bundeskanzler, der eine so junge Frau hat?“ Hätte Merz dann auch gesagt, dass für ihn alles okay sei, solange sich die beiden an die Gesetze hielten und keine Kinder belästigten? Schwer vorstellbar. Und wenn ja: Es hätte ebenfalls Befremden ausgelöst.

Ich gebe zu, dass ich zwischenzeitlich versucht war, Merz in Schutz zu nehmen. Wenn Saskia Esken erklärt, es seien „Abgründe, in die wir da blicken“, denke ich: Mutter Gottes, wenn sie schon in einen Abgrund blickt, sobald ein CDU-Politiker im Interview über die eigenen Füße stolpert, wie will sie es dann nennen, wenn jemand mal wirklich Abgründe offenbart? Die Hölle? Aber man soll nicht im Trotz schreiben. Die Kandidatur von Merz ist in ernsthaften Schwierigkeiten, allerdings aus anderen Gründen, als viele meinen.

Seit es ihn wieder in die Politik zieht, eilt ihm der Ruf voraus, er wolle in die 50er Jahre zurück. Er sei ein Mann von gestern, heißt es. Wäre dies das Problem, dann würde ich sagen: Damit lässt sich leben. Der Reiz des Neuen wird bei Wahlen deutlich überschätzt. Die meisten Menschen verbinden mit der Vergangenheit positive Erinnerungen; ganze Industrien leben vom Retro-Schick und der Verklärung des Gestern.

Davon abgesehen: Auch die Grünen sehnen sich nach der Vergangenheit. Ihr Sehnsuchtsjahrzehnt liegt irgendwo um 1880, vor der Erfindung des Automobils, als der Bauer noch das Pferd bestieg statt den Diesel und der Wald von den Alpen bis zur Elbe reichte. Warum das nun fortschrittlicher sein soll, erschließt sich mir nicht. Aber ich bin ja auch kein Kritiker der Moderne.

Ein Teil der Aufregung beruht auf ein er Verwechslung. Aus der Tatsache, dass sie in den Hamburger Redaktionen schäumen, wenn sie den Namen Merz hören, folgt nicht automatisch, dass seine Kandidatur erledigt wäre. Säßen seine Wähler beim „Stern“ oder beim „SPIEGEL“, dann hätte er es schon im ersten Anlauf nicht einmal in die Nähe des Parteitags geschafft. Ich glaube, dass Merz ein Problem hat, weil auch viele CDU-Anhänger in gesellschaftspolitischen Fragen weiter sind als der Kandidat. Selbst wenn sie gegen Schwule Vorbehalte hegen, wollen sie nicht, dass der Vorsitzende ihrer Partei und vermutlich nächste Kanzler solche äußert.

Die meisten Wähler wünschen sich als Regierungschef eine bessere Variante ihrer selbst, deshalb reagieren sie bei Politikern ja auch so allergisch auf Verfehlungen, die sie sich selbst oder ihrem Nachbarn sofort durchgehen ließen. Wer sich als Kanzler bewirbt, soll nicht abgehoben sein, aber eben auch nicht zu sehr wie das normale Volk. Die Leute mögen es nicht, wenn man auf sie herabschaut. Sie blicken jedoch ganz gerne zu den Menschen auf, die sie mit Macht ausstatten.

In einer Befragung durch das Meinungsforschungsinstitut Allensbach haben 41 Prozent die CDU/CSU als die sympathischste Partei in Deutschland genannt, mit weitem Abstand vor den Grünen, die 21 Prozent erreichen, und der SPD, die nur auf 15 Prozent kommt. Gemocht zu werden ist nicht alles, aber es ist als Wahlmotiv auch nicht zu unterschätzen. Kompetenz, politische Erfahrung, Durchsetzungsstärke: zweifellos wichtige Pluspunkte. Doch die Möglichkeit, sich durch die Stimmabgabe einer Gruppe anzuschließen, die als sympathisch wahrgenommen wird, wiegt mehr.

Sympathie ist allerdings schnell verspielt, auch deshalb sind die Einlassungen von Merz so dummerhaft. Es wirkt nun einmal nicht besonders sympathisch, in der Öffentlichkeit Vorurteile über Minderheiten zu äußern, schon gar nicht, wenn es gegen jemanden geht, mit dem man konkurriert. Da kann Merz noch so oft erklären, so sei das nie gemeint gewesen. Spahn hat den Satz auf sich bezogen, damit ist die Sache für ihn und gegen den Mann aus dem Sauerland entschieden.

Das Problem an Merz ist nicht seine angebliche Rückwärtsgewandtheit, sondern die Verspanntheit, die in nahezu jedem Interview zu Tage tritt. Nur Merz bringt es fertig, auf die Frage, worüber er mit seinen Kindern am Abendbrottisch rede, zu antworten: über die Generationengerechtigkeit. Klar, worüber auch sonst? Ich kenne kaum einen Politiker, der so auf Distanz zu Menschen bleibt. Vielleicht verachtet er sie insgeheim, das ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist er im Kontakt erstaunlich unbeholfen. Ein Auftritt von Merz geht so: Er kommt rein. Er hält seinen Vortrag. Er grüßt ins Publikum. Er geht.

Seine Sprödigkeit hat ihn nicht daran gehindert, eine treue Fangemeinschaft auszubilden. Merz erfüllt die Sehnsucht von Menschen, die denken, dass Politik eine schmutzige Sache sei. Er verkörpert den Typus des Anti Politikers, der mit kaltem Sachverstand aufräumen wird, wenn die Zeit gekommen ist. Dass gerade die Politik ein Geschäft ist, dass ein Gefühl für Menschen, ihre Stimmungen, Nöte und Ängste verlangt, wird dabei leicht übersehen.

Wäre Spahn der bessere Kandidat? Ich habe für den Gesundheitsminister eine gewisse Schwäche, muss ich zugeben. Mir hat gefallen, wie er in der Corona Krise Führung zeigte, ohne ins Autoritäre zu verfallen. Als er im Bundestag mit dem Satz um Verständnis bat, man werde im Nachhinein auch für vieles um Verzeihung zu bitten haben, unterschied sich das wohltuend von den Auftritten anderer Corona Bekämpfer, wonach die Politik die Zügel anziehen müsse, wenn sich die Bürger nicht am Riemen rissen.

Vielleicht hat mich Spahns Entscheidung, sich eine Millionenvilla in Dahlem zuzulegen, deshalb so irritiert. Ich verstehe, wenn man nicht alles der Politik unterordnen will. Ich bin ebenfalls gegen die Neidgesellschaft. Aber es gehört nun einmal zu den Tatsachen des politischen Lebens, dass man sich nicht zu weit von den Leuten entfernen sollte, die einen wählen – jedenfalls dann nicht, wenn man später einmal Kanzler werden will.

Kohl wohnte Zeit seines Lebens in einem Bungalow in Oggersheim, Willy Brandt blieb bis zum Schluss in Unkel. Beide hätten sich leicht ein Millionenanwesen in Berlin leisten können. Dass sie es nicht taten, entsprang dem Wunsch, ihren Anhängern zu zeigen: Ich bin ein er von euch. Am En de ist das die Frage, auf die für den Wähler alles zuläuft: Gehört er noch zu uns? Je größer die Gruppe, die diese Frage mit Ja beantwortet, desto höher kann man steigen.

Der mit der Stimmung reitet

Die Mehrheit wünscht sich Markus Söder als Kanzlerkandidaten. Er selbst hält sich ohnehin für den besten Mann an der Spitze der Union. Aber wäre er auch ein guter Kanzler?

Markus Söder soll Kanzlerkandidat werden, so sagen es die Umfragen. 56 Prozent der Deutschen finden, dass er ein guter Kandidat wäre. Von Friedrich Merz glauben das nur 33 Prozent. Über den armen Armin Laschet sagt das nicht mal ein Viertel der Wähler, daran wird auch die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen wenig ändern.

Ich bin bei Söder befangen, wie bei allem, was Bayern und die CSU angeht. Ich lebe seit sechs Jahren in München. Wie viele Migranten neige ich zur Überidentifikation mit der neuen Heimat. Ich sage „Grüß Gott“, wenn ich ein Geschäft betrete, und verabschiede mich mit einem herzlichen „Pfiati“. Irgendwo habe ich sogar eine Lederhose, die ich gleich nach meinem Umzug erstanden habe.

Ich gehöre auch zu den wenigen Journalisten, die sich für Söder als bayerischen Ministerpräsidenten ausgesprochen haben, und zwar zu einem Zeitpunkt, als noch unklar war, ob es Horst Seehofer nicht doch gelingen würde, ihn als Nachfolger zu verhindern. Ich weiß nicht, ob das für oder gegen mich spricht. Aus Sicht der Mehrheit meiner Kollegen vermutlich klar gegen mich. Immerhin zeigt es, denke ich, dass ich bei meinen Einschätzungen zum Verlauf der söderschen Karriere nicht ganz falsch liege.

Söder würde gerne Kanzler werden, daran habe ich keinen Zweifel. Im Augenblick spielt er auf Zeit, das heißt, er sagt, dass sein Platz in Bayern sei (wo sollte er auch sonst sein, auf Bornholm?). Auch habe die CDU als größere Schwester das geborene Vorschlagsrecht. Was man eben so sagt, wenn noch nicht einmal ausgemacht ist, dass einen die eigenen Leute als Kandidaten wollen.

Im Gegensatz zu seinem Image ist Söder ein vorsichtiger Mensch. Wie alle Instinktpolitiker hat er ein Gefühl für Stimmungen und Stimmungsumschwünge. Notfalls hilft er mit Umfragen nach. Wenn er einen politischen Standortwechsel einleitet, heißt das also, dass er dort bleibt, wo er schon vorher war: nämlich bei der Mehrheit.

Söder ist kein Politiker, der den Menschen Größeres zumuten würde. Er käme nie auf die Idee, wie sein Vorvorgänger Edmund Stoiber aus politischem Ehrgeiz ein Projekt anzuschieben, das zwar sachlich geboten erscheint, aber bei einer nennenswerten Zahl von Wählern nur Missmut weckt. Man kann das für Opportunismus halten – oder für eine erfrischend unideologische Herangehensweise.

Als die AfD zulegte, war Söder der entschiedenste Flüchtlingspolitik-Kritiker in der Union. Als die Grünen ihren Höhenflug antraten, umarmte er jeden Zweig und jeden Strauch, der nicht rechtzeitig Reißaus nehmen konnte. Selbstverständlich setzte er sich auch an die Spitze des Volksbegehrens gegen das Bienensterben, als sich die Schlange der Unterzeichner vor dem Münchner Rathaus bis zum Stachus zu ziehen drohte. In ganz Deutschland wird man keinen größeren Bienenfreund als den bayerischen Ministerpräsidenten antreffen!

Jetzt ist er eben der oberste Corona-Bekämpfer, jedenfalls bis zu dem Moment, an dem die Stimmung kippt und sich die Vorstellung durchsetzt, man übertreibe es mit der Maskenpflicht. Dann wird er davor warnen, dass man bei aller Sorge um die Gesundheit auch die Freiheitsrechte im Blick behalten müsse.

Zwei Mal in der Geschichte der Bundesrepublik haben Politiker aus Bayern versucht, ins Kanzleramt vorzustoßen, der eine war Franz Josef Strauß, der andere Stoiber. Beide Male ging es schief. Strauß, den sie bis heute in der CSU wie einen Heiligen verehren, war die Personifikation des bayerischen Starkbier-Politikers: hinreißend im Auftritt, intellektuell brillant und erstaunlich emotional, was seine Feinde dann erfolgreich gegen ihn zu wenden wussten. Der sehr viel diszipliniertere Stoiber kam dem Kanzleramt bis auf ein paar Tausend Stimmen nahe, aber auch hier überwog am Ende das Misstrauen des evangelischen Nordens gegenüber dem katholischen Süden.

Hätte Söder das Zeug zum Kanzler? Das ist eine Frage, die interessanterweise kaum gestellt wird. Söder ist vor allem auch ein sehr misstrauischer Mensch, was man auf den ersten Blick nicht vermuten sollte. Niemand beackert so hingebungsvoll die Bierzelte wie er. Wenn es irgendwo ein Volksfest oder eine Feuerwehreinweihung zu feiern gibt, dann ist er zur Stelle. Hier liegt die Wurzel seiner Popularität, gegen die nicht einmal Seehofer ankam, der nun wirklich alles daran gesetzt hat, ihm den Weg in die Staatskanzlei zu verlegen.

Seine hart erarbeitete Volkstümlichkeit täuscht allerdings darüber hinweg, dass er in Wahrheit ein Einzelgänger ist. Söders größte Schwäche besteht darin, dass er unfähig ist, Loyalität zu stiften. Das verbindet ihn mit Seehofer. Aber im Gegensatz zum Bundesinnenminister, der Freude am Spiel mit anderen Menschen hat, ist Söder bei seinen Rochaden kalt bis ins Herz. Von wem er sich keinen Nutzen mehr verspricht, der wird abserviert, das gilt auch für Leute, die ihm bis gerade eben noch treu gedient haben.

Als Minister kann man so agieren, auch als Ministerpräsident. Im Zweifel ist die Angst vor der Bestrafung immer stärker als der Drang, sich der Presse anzuvertrauen. Bei einem Kanzler funktioniert dieses Führungsprinzip nicht mehr, dafür ist das Land und die Zahl derer, die trotz Parteibindung unabhängig von einem sind, zu groß. Wer aber auch in den eigenen Reihen mehr Menschen hat, die einem den Misserfolg wünschen, als Mitstreiter, die am Gelingen interessiert sind, der verzettelt sich irgendwann in Vergeltungs- und Rachegefechten.

Das andere, was mich an der Kanzlereignung zweifeln lässt, ist Söders Wendigkeit. Einer, der ihn seit Langem beobachtet, sagte vor ein paar Tagen zu mir den schönen Satz: „Söder ist immer nur so gut wie das Volk, das er regiert.“ Was bedeutet: Wenn das Volk eine Abbiegung ins Unanständige nimmt, dann ist er nicht der Mann, sich dem entgegenzustellen. Das unterscheidet ihn von Angela Merkel, bei der man trotz aller Umfragehörigkeit wusste, dass es einen Punkt gibt, an dem sie nicht mehr mitmachen würde.

Söder hat im kleinen Kreis erkennen lassen, dass er nur in die Schlacht zieht, wenn die CDU ihn will. Er hält sich für den besten Kandidaten, alles andere wäre bei einem, der sich das wichtigste Staatsamt zutraut, auch widernatürlich. Aber er will nicht enden wie Stoiber, der sich der Union aufdrängte und am Ende von ihr im Wahlkampf im Stich gelassen wurde. Also wird es davon abhängen, was für die CDU mehr zählt: der Stolz, bislang alle Kanzler der Union gestellt zu haben, oder der Blick auf die Umfragen.

Wie wichtig ist die Herkunft? Wir reden viel über Diversität und Vielfalt, aber es ist ganz grundsätzlich die Frage, ob Abstammung und Geburtsort für Söder bei der Kanzlerwahl nicht ein zu großes Handicap sind. Einerseits wird der Bayer an und für sich bewundert, auch wenn man sich das außerhalb nicht gerne eingesteht. Alles an Bayern glänzt: die Verwaltung, die Wirtschaft, der Himmel über den Alpen. Aber das heißt noch lange nicht, dass man einen aus Bayern deshalb im Rest der Republik ans Ruder lassen würde (auch wenn Söder Franke und Protestant ist und damit streng genommen gar kein richtiger Bayer).

Wenn sie eines in Bayern nicht beherrschen, dann, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erinnern sie die ärmeren Verwandten daran, dass sie es sind, die am Ende die Zeche zahlen. Das entspricht durchaus der Realität, macht einen aber halt nicht beliebter. Wenn der arme Verwandte die Gelegenheit hat, es dem reichen Onkel heimzuzahlen, dann nutzt er diese in der Regel, auch wenn er sich selbst damit schadet.

Würden in der Politik nur Ratio und Verstand zählen, dann hätte längst ein Bayer das Land regieren müssen. Dass es bislang immer anders gekommen ist, sagt uns auch etwas über den Vernunftgrad von Politik.

Die braunen Wurzeln der grünen Bewegung

Die Schnittmenge zwischen grünem Stammpublikum und anthroposophisch bewegten Corona-Leugnern ist größer, als viele denken. Der Parteispitze ist der Esoterik-Klüngel peinlich. Aber verärgern will sie ihn auch nicht

Ich habe überlegt, meinen Sohn auf einer Waldorfschule anzumelden. Er kommt nächstes Jahr in die Schule. Er ist ein wissbegieriger Junge, interessiert an allem Neuen. Im Augenblick beschäftigt er sich mit dem Leben in der Tiefsee. Letzte Woche überraschte er mich mit der Erkenntnis, dass Pottwale auf der Suche nach Tintenfischen bis zu 2500 Meter tief tauchen können. Ich wusste das nicht.

Ich habe gehört, dass sie in der Waldorfschule in besonderer Weise die Lernbegeisterung von Kindern fördern, das hat mir gefallen. Dafür würde ich auch in Kauf nehmen, dass man seinen Namen tanzen muss. Ich habe mit der Schulleiterin telefoniert, um mich nach einem Vorstellungstermin zu erkundigen. Sie wirkte am Telefon eigentlich sehr vernünftig. Als ich fragte, wie sie denn durch die Corona Zeit gekommen sei, da die Anthroposophie das Internet ja sicherlich ablehne, sagte sie, die Schule hätte mit den Kindern über den Computer Kontakt gehalten. Das klang beruhigend.

Meine Frau ist skeptisch. Sie fürchtet, dass unser Sohn kein vernünftiges Abitur macht, weil sie in der Schule zu sehr vom offiziellen Lehrplan abweichen. Außerdem hält sie Anthroposophie für Hokuspokus. Ich will nicht, dass er am Ende zu einer Sekte kommt, sagt sie. Ich habe mich daraufhin im Netz kundig gemacht. Es ist erstaunlich, dass noch niemand im Zuge des Bildersturms auf die Idee gekommen ist, gegen Rudolf Steiner, den Begründer der Waldorfschule, vorzugehen. Wenn es Winston Churchill verdient hat, dass man seine Denkmäler attackiert, dann Steiner allemal.

Neben Thesen zu Reinkarnation und dem geheimen Wissen durch Intuition findet man Ausführungen zu einer lemurischen, einer atlantischen und einer arischen „Wurzelrasse“, die Steiner nach einer „übersinnlichen Wesensschau“ der Reihe nach anordnet. Es gibt haarsträubende Zitate („Der Neger hat ein starkes Triebleben, sein ganzer Stoffwechsel geht so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selbst gekocht würde“); im Geschichtsunterricht folgen sie in der Waldorfpädagogik angeblich einer fiktiven Völkerwanderung, die in einem sagenhaften Königreich beginnt und in der germanisch angelsächsischen Kulturepoche als Höhepunkt endet. Ich denke, ich sollte die Einschulung noch einmal überdenken.

Viele hat es überrascht, bei den Corona Demonstrationen Menschen zu sehen, die man eher im Umfeld eines Grünen Parteitags vermuten sollte. Vor Erleuchtung glühende Frauen in Wallekleidern, die „Liebe ist die Antwort“ skandieren. Anhänger der Chakrenzentrierten Meditation, die das Virus einfach wegatmen. Dazwischen Freunde der Sonnenblume, die auch im Kampf gegen Covid19 ganz auf die Heilkraft der Pflanze setzen.

Wer einmal auf einem Esoterikkongress war, der ahnt, dass die Schnittmenge zwischen grünem Stammpublikum und Corona Leugnern größer ist, als man vielleicht vermuten sollte. Von der Heilpraktikerin aus der Eifel zum Reichsbürger in der Hauptstadt ist es manchmal nur ein kleiner Schritt. Den Grünen sind die esoterischen Schwestern und Brüder mit dem rechten Einschlag verständlicherweise etwas peinlich. Andererseits will man sie auch nicht verärgern. Zwei bis drei Prozent sind im politischen Geschäft eine Größe, auf die man nicht verzichten möchte, schon gar nicht, wenn man sich daran macht, das Kanzleramt zu erobern.

Auch im Vorstand der grünen Partei weiß man, dass Quarz und Kuhmist im Stierhorn, bei Mondlicht vergraben, nicht wirklich den Ernteertrag steigern – oder dass der Genuss von Zuckerkügelchen keine unmittelbar gesundheitsfördernde Wirkung hat, selbst wenn sie verschüttelt und nicht gerührt wurden. Andererseits behält man diese Wahrheiten lieber für sich, weil eben ein beträchtlicher Teil der Anhänger an die Wunderwirkung von Zuckerkugeln und nächtlich vergrabenem Stierhorn glaubt. Mit nichts bringt man Anhänger der Homöopathie so verlässlich auf die Palme wie dem Vorwurf, sie würden an Quacksalberei glauben.

Ich bin in den siebziger Jahren groß geworden. Carlos Castaneda und die psychedelische Kraft des Schamanismus, die Weisheit des Pendels, die ewige Macht der Gestirne – das ist die Welt, die schon damals als alternativ galt. Dass man der Pharmaindustrie nicht glauben dürfe, weil sie uns nur vergiften wolle, war eine unumstößliche Gewissheit wie der gebetsmühlenhaft vorgetragene Argwohn gegenüber der sogenannten Schulmedizin. Es ist kein Zufall, dass das Epizentrum der Impfgegner im Prenzlauer Berg liegt, dem Viertel Berlins, das als das Walhalla der Grünen gelten darf.

Das Okkulte und Obskure sind vielfältig anschlussfähig. Tatsächlich verdankt die grüne Bewegung der völkisch orientierten Esoterikszene mehr, als man bei den diversen Erinnerungsmärschen und Jubiläumsveranstaltungen zu hören bekommt. Bereits Anfang der Achtziger, als man sich daran machte, die Parlamente zu erobern, saßen neben langhaarigen Sprossenjüngern in Batikhosen rechte Hutzelmännchen wie der Ökobauer Baldur Springmann, die von Blut und Boden nahtlos zur biodynamischen Landwirtschaft gewechselt waren. Dass die Unternehmensgeschichte beliebter Bio Label wie Demeter oder Weleda tief in die braune Zeit zurückreicht, fügt sich ins Bild, würde ich sagen.

Die Mitbegründerin der Grünen, Jutta Ditfurth, hat vor Jahren ein verdienstvolles Buch über diese seltsame Allianz von grünem und rechtem Denken geschrieben („Entspannt in die Barbarei“). Schon bei Ditfurth findet sich die Beobachtung, dass der Naturmystizismus in eine merkwürdige Gleichsetzung von Mensch und Krankheitserregern führt.

Wenn die Natur heilig ist, dann sind es auch Viren und Keime, folglich lässt man ihnen am besten ihren Lauf. Dass sich diese Weltsicht wunderbar mit einem offenen Öko Darwinismus verträgt, auch das steht schon bei Ditfurth: Wen das Virus hinwegrafft, der war entweder zu schwach oder nicht genug im Einklang mit sich und dem Universum. Ditfurths Fazit 1996: „Die Alternativbewegung ist inzwischen mehrheitlich esoterisch verblödet.“

In der medialen Befassung mit dem esoterischen Klüngel ist man in den Redaktionsstuben schnell dabei, Entwarnung zu geben: Klar, nicht schön, dieser frömmelnde Narrensaum, anderseits habe die Parteiführung das Problem ja erkannt und adressiert. Also Problem erkannt, Problem gebannt.

Wenn es denn so einfach wäre. Bis heute können sich die Grünen nicht entscheiden, wie sie es mit den Homöopathen halten sollen. Kritiker werden auf einen Entwurf des Grundsatzprogramms verwiesen, wonach von den Krankenkassen nur medizinische Leistungen ersetzt werden sollten, deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen sei. Aber die Homöopathen halten ihre Methoden für wissenschaftlich begründet, das ist ja genau der Witz. Insofern gibt es hier von ihnen auch wenig Widerspruch.

Selbst Führungskräfte der Partei scheuen vorm Flirt mit dem Esoterik Flügel nicht zurück. Einer der Helden der Anti Corona Szene, der Kennedy Spross Robert F. Jr., der von der Anti Atomkraft Bewegung zum Anti Corona Engagement fand, erfreute sich bei seinem Europatrip auch einer Einladung der EU-Grünen. Die grüne ehemalige Landwirtschaftsministerin Renate Künast verbreitet unverdrossen Tweets der Ökoaktivistin Vandana Shiva, die sich nach dem Kampf gegen den Goldenen Reis nun dem Kampf gegen Bill Gates und das Impfen angeschlossen hat.

Viel ist von der Gefahr die Rede, die von den Corona Demonstrationen für die Demokratie ausgehe. Was die nahe Zukunft angeht, fürchte ich mich allerdings mehr vor den antiwissenschaftlichen Reflexen des grünen Milieus als vor den Reichsbürgern. Eine große Zahl von Deutschen sagt in Umfragen, dass sie sich nicht mit einem Covid19Schutz impfen lassen würden, auch wenn er als unbedenklich zu gelassen wäre. Wenn man den Leuten über Jahre einredet, Gentechnik sei des Teufels, muss man sich nicht wundern, wenn die Menschen einem Impfstoff misstrauen, der allein der Gentechnik zu verdanken ist.

Laboratorium des Wahnsinns

Wenn etwas den Berliner Senat auszeichnet, dann die Kombination aus Großsprecherei und Unfähigkeit. Wer sich fragt, wie eine rot-grün-rote Koalition auf Bundesebene aussehen würde, der bekommt in der Hauptstadt Anschauungsunterricht

Einmal im Jahr ziehen etwa 1200 vorwiegend arabischstämmige Menschen über den Ku’damm in Berlin und wünschen Israel den Tod. Die Demonstranten skandieren „Kindermörder Israel“ oder „Juden ins Gas“. Der sogenannte Al-Kuds-Tag, zu dem sich die Protestteilnehmer versammeln, ist eine Erfindung des iranischen Revolutionsführers Ajatollah Chomeini, mit dem dieser die muslimische Welt daran erinnern wollte, dass es erst dann Frieden im Nahen Osten geben könne, wenn Israel von der Landkarte getilgt sei.

Seit 1996 geht das so. Ihm seien die Hände gebunden, erklärte der Berliner Innensenator Andreas Geisel ein ums andere Mal, wenn Kritik laut wurde, die Versammlungsfreiheit sei in Deutschland ein hohes Gut. Er könne nicht nach Gutdünken entscheiden, wer in Berlin demonstrieren dürfe und wer nicht. Dass der Al-Kuds-Marsch dieses Jahr ausfiel, ist dem Coronavirus und nicht dem Berliner Senat zu verdanken.

Vor zehn Tagen hat sich der zögerliche Herr Geisel überraschend entschieden gezeigt. „Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird“, kommentierte er die Entscheidung seiner Behörde, den Aufmarsch der sogenannten Anti-Corona-Demonstranten zu verbieten. Die juristische Reaktion folgte prompt. Zwei Tage nach der Erklärung des Innensenators gab das Verwaltungsgericht einer Klage der Veranstalter statt: Das Verbot sei schlampig begründet und eindeutig rechtswidrig.

Ein Innensenator, der kein Mittel findet, eine Hardcore-Antisemiten-Demo aufzulösen, aber sobald es ihm opportun erscheint, erklärt, wen er auf der Straße dulden wolle und wen nicht: In jedem anderen Bundesland hätte das eine Debatte nach sich gezogen, ob der Mann noch geeignet sei für sein Amt. Nicht so in Berlin. Dort zog man vors Oberverwaltungsgericht, das der Polizeiführung noch einmal die Rechtswidrigkeit ihres Handelns bestätigte. Dann ging man zur Tagesordnung über. Beziehungsweise ließ die Dinge laufen, mit dem Ergebnis, dass sich am Wochenende ganz Deutschland wunderte, warum bei einer Großdemonstration im Regierungsviertel nur drei Polizisten vor dem Reichstag stehen, um diesen gegen Übergriffe zu schützen.

Es lohnt, sich näher mit den Berliner Verhältnissen zu beschäftigen. Die Stadt sieht sich von jeher als Laboratorium. Was hier passiert, darf man getrost als Vorbild verstehen, auch in politischer Hinsicht. Wer sich fragt, wie die Koalition von Grünen, Linkspartei und Sozialdemokraten aussehen würde, von der es mit Blick auf die Bundestagswahl heißt, dass ihr die Zukunft gehöre, der bekommt in der Hauptstadt Anschauungsunterricht.

Viel war zuletzt von dem beklagenswerten Mangel an Verfassungstreue in Teilen der Bevölkerung die Rede. Dass sich alle Bürger ans Grundgesetz halten, ist zweifellos wünschenswert – noch wichtiger wäre aus meiner Sicht allerdings, dass sich auch die politisch Verantwortlichen dar angebunden fühlen. Ich kann mir die Nonchalance, mit der in Berlin üb er das Versammlungsrecht hinweggegangen wird, nur so erklären, dass die Maßstäbe grundsätzlich verrutschen, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass man es mit Recht und Gesetz nicht so genau nehmen muss.

„Legal, illegal, scheißegal“, lautete ein Slogan der 80er Jahre. Nicht einmal die Punks von Slime hätten sich träumen lassen, dass dieses einmal zum Stadtmotto von Berlin werden würde. Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes hat der Senat schon Anfang des Jahres ausgehebelt, als er alle Immobilienbesitzer zur Einheitsmiete zwang. Dass das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel wieder kassieren wird, gilt unter Juristen als ausgemachte Sache. Die Folgen dieses einzigartigen Experiments in spätem Immobiliensozialismus sind schon jetzt zu besichtigen.

Die Zahl der auf dem Mietmarkt angebotenen Wohnungen hat sich halbiert. Dafür schreitet die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen munter voran. Wer das Glück hat, dennoch eine Mietwohnung zu finden, muss sich zur Zahlung einer sogenannten Schattenmiete bereit erklären. Wie immer, wenn der Sozialismus regiert, sind es die Findigen und politisch gut Vernetzten, die am ehesten zurecht- kommen. 572 Euro für 16 Quadratmeter in der Landgrafenstraße im Tiergarten in einer Vierer-WG, wie vergangene Woche bei „wgcompany.de“ ein Angebot lautete? Das dürfte den Mietendeckel mehrfach sprengen, auch wenn der Anbieter („queer“, „grün“) eine große Fensterfront und eigenen Balkon in Aussicht stellt. Aber hey, Gesetze sind in dieser Welt immer für die anderen da.

Von außen wirkt vieles wie Folklore. Nur in Berlin ist es möglich, dass man Drogendealern mit einer Ausstellung im Bezirksmuseum ein Denkmal setzt. Oder Kriminellen eine Art Sozialpartnerschaft anbietet, damit sie von ihrem verderblichen Tun ablassen: Ausbildungsplatz gegen gesetzestreues Verhalten, das ist die Offerte, mit der man ein ganz neues Miteinander, abseits von Repression und Ausgrenzung, initiieren wollte. Hat nicht wirklich funktioniert, wie dieser Tage die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann einräumen musste, in deren Amtszeit die Umwandlung des Görlitzer Parks in Kreuzberg zum größten Open-Air-Drogenumschlagplatz Europas fällt.

Umgekehrt kann der Senat im Umgang mit den Bürgern eine erstaunliche Kaltschnäuzigkeit an den Tag legen. Als sich im Juli die Anwohner mehrerer besetzter Häuser hilfesuchend an die Politik wandten, weil sie sich von den autonomen Nachbarn drangsaliert und bedroht fühlten, erhielten sie zur Antwort, dass Hausbesetzer nun einmal zur Identität der Stadt gehörten. „Es handelt sich um ein ,anarcha-queer-feministisches Hausprojekt‘, wo im Binnenverhältnis ‚als Kollektiv ohne patriarchale bzw. diskriminierende Strukturen zusammengelebt werden kann‘. Hiervon möchten wir nichts zurücknehmen.“ Unterzeichnet mit freundlichen Grüßen: Ihre lieben Grünen. Auch Bürgernähe ist in der großen Stadt eine Sache der politischen Gesinnung.

Wäre ich Polizist in Berlin, würde ich mich fragen, warum ich morgens überhaupt noch aufstehen soll. Andererseits: Jede Stadt hat ihre eigenen Regeln und Umgangsformen. Dass Berlin anders funktioniert als Stuttgart oder München, macht auch den Charme aus. Die Frage ist nur, ob dieses ein Modell für ganz Deutschland sein kann. Ich habe da Zweifel, allen Beschwichtigungen und Beschwörungen zum Trotz.

Das Bild von Rot-Grün wird von Politikern wie der sanften Katrin Göring-Eckardt oder dem konzilianten Dietmar Bartsch geprägt: nett, aber scheinbar harmlos. Schaut auf die zweite Reihe, wäre meine Empfehlung. Dann entdeckt man Leute wie Monika Herrmann.

Oder Katina Schubert, die Vorsitzende der Linkspartei in Berlin, die offen davon redet, dass man den Kapitalismus überwinden müsse, und als ersten Schritt auf diesem Weg die Umwandlung von Kaufhäusern in landeseigene Betriebe angeregt hat.

Mutiger Vorschlag, muss man sagen. Keine Ahnung, wie Frau Schubert das Problem lösen will, dass den Leuten in der Krise die Lust aufs Shoppen vergangen ist. Vielleicht lässt sie demnächst Einkaufsgutscheine vom Berliner Himmel regnen. Oder jeder, der einen Mitgliedsantrag bei der Linken unterschreibt, bekommt ein Shoppingwochenende im stadteigenen Karstadt obendrauf.

Wenn etwas den Berliner Senat auszeichnet, dann ist es die Kombination aus Großsprecherei und Unfähigkeit. Dass am Samstag ein Trupp Demonstranten bis auf die Stufen des Reichstags gelangen konnte, weil die Berliner Polizei leider versäumt hatte, mehr als drei Polizisten vor dem Gebäude zu postieren, ist kein Grund zur Zerknirschung, im Gegenteil. Das Versagen beweist aus Sicht des Innensenators, dass er mit seinem Verbotsantrag richtiglag. Gerade weil man in der Regierung selbst die nächstliegenden Dinge nicht hinbekommt, sollen einem die Wähler vertrauen: Das ist rot-grün-rote Dialektik.