Monat: August 2020

Schnattern für Deutschland

Die Grünen betonen gerne, dass sie aufseiten der Wissenschaft stünden. Wie sich zeigt, haben sie allerdings einen ganz eigenen Bezug zu Fakten. Verständlich: Mindestens so wichtig wie die reale Wirklichkeit ist bei ihnen die gefühlte

Erinnert sich noch jemand an Rudolf Scharping, den Kanzlerkandidaten der SPD 1994? Den Mann, der angetreten war, Helmut Kohl aus dem Amt zu schubsen? Eigentlich waren die Ausgangsbedingungen gar nicht so schlecht. Zwölf Jahre Kohl, da fan den viele, das sei genug.

Aber dann verwechselte Scharping bei einer neu ersonnenen Abgabe für Besserverdiener brutto und netto. Das war’s mit seiner Kampagne. Von dem Fehler hat sich der brave Mann nicht mehr erholt. Er wurde später noch Verteidigungsminister, aber auch das Engagement endete unglücklich. Planschte im Pool mit seiner neuen Liebe, der Gräfin Pilati, was die Leser der „Bunten“ belustigte, aber nicht die Soldaten bei der Bundeswehr.

Ein Glück für die Grünen, dass wir nicht mehr 1994 haben, sondern in sehr viel verzeihenderen Zeiten leben.

Vor einigen Tagen saß Annalena Baerbock, die sympathische Vorsitzende der Grünen, bei Markus Lanz und gab Auskunft darüber, was sie in den vergangenen Monaten besonders bewegt habe. Trump, Corona, klar, alles furchtbar. Aber es gebe ein Ereignis, das habe sie besonders erschüttert, sagte sie mit traurigem Blick: dass in Thüringen beinahe ein Nazi zum Ministerpräsidenten gewählt worden wäre.

Ein Nazi als Fast-Ministerpräsident, fragte sich der eine oder andere Zuschauer irritiert: In Deutschland passieren ja viele schlimme Dinge, aber das ist doch irgendwie an einem vorbeigegangen.

Bodo Ramelow, der amtierende Ministerpräsident in Thüringen, konnte schon mal nicht gemeint sein, der kommt von der Linkspartei. Thomas Kemmerich war im Februar Ministerpräsident, für vier Wochen, aber der ist Mitglied der FDP. Wen hatte Frau Baerbock also vor Augen, als sie über das für sie erschütterndste Ereignis dieses Jahres sprach? Es stellte sich heraus: keinen der beiden. Sie habe sich undeutlich ausgedrückt, ließ sie erklären. Sie habe an die AfD gedacht. Deren Kandidat hatte allerdings nie den Hauch einer Chance, zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden, nicht im ersten, nicht im zweiten und auch nicht im dritten Wahlgang.

Es kommt bei Frau Baerbock öfter vor, dass sie so ergriffen ist, dass die Dinge bei ihr durcheinandergeraten. In einem ARD-Sommerinterview sprach sie länger über Elektromobilität, ein Herzensanliegen der Grünen.

„Rohstoffe wie Kobold – wo kommt das eigentlich her? Wie kann das recycelt werden?“, fragte sie sich selbst, um dann stolz zu verkünden, dass es Batterien gebe, die auf Kobold verzichten könnten, und zwar aus China. Kobold? Das ist als Staubsaugermarke geläufig. Kleiner Scherz. Frau Baerbock meinte natürlich Kobalt, ein Metall, das für die Batterie unerlässlich ist, beim Abbau allerdings eine ziemliche Sauerei hinterlässt.

Die größten Kobalt-Reserven liegen im Kongo. Dass im Kongo nicht das deutsche Arbeitsrecht gilt, liegt auf der Hand. Viele der Arbeiter, die in den Kobalt-Minen schuften, sind leider dazu noch minderjährig. Wie bei manchen Produkten, die als besonders umweltschonend gelten, sollte man lieber nicht so genau nachfragen, wie sie zustande kommen.

Ich warte auf den Tag, an dem Leonardo DiCaprio seinem Sozial-Schocker „Blood Diamond“ über die Ausbeutung in den Diamantenminen von Sierra Leone den Anschlussfilm folgen lässt: „Blood Electric Car“. Oder sollte man sagen: „Blood Tesla“? Wobei, das ist nicht ganz fair. Tesla arbeitet an Kobalt-freien Batterien. Da kam das Know-how bislang allerdings von Panasonic aus Japan und nicht aus China, wie Frau Baerbock meinte. Immerhin, die grobe Himmelsrichtung stimmte.

So geht es immer weiter. Am vergangenen Sonntag war die Parteivorsitzende wieder auf Sendung. Wieder Sommerinterview. Diesmal sprach sie über die Flüchtlingspolitik. „Wir stehen klar auf dem Boden nicht nur des Grundgesetzes, sondern der Menschenrechte“, sagte sie. „Und das bedeutet: Jeder Mensch hat ein Recht auf Asyl.“ Steht so nicht im Grundgesetz und noch nicht einmal in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Gott sei Dank, würde ich sagen, wäre es anders, würde es bei uns ziemlich schnell ziemlich eng. In Deutschland genießen aus gutem Grund nicht alle Menschen Recht auf Asyl, sondern nur politisch Verfolgte, und auch die nur eingeschränkt.

Bevor jetzt alle die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und fragen: Warum ist immer nur von der Parteivorsitzenden die Rede, wo bleibt die Gendergerechtigkeit? Keine Sorge, bei den Grünen herrscht auch beim Schnattern Parität. Wenn der Co-Vorsitzende Robert Habeck nicht gerade für Fotos posiert, plappert er sich ebenfalls durch die Welt, bis sich die Balken und die Fakten biegen und am Ende die BaFin den Benzinpreis überwacht und das Finanzamt die Pendlerpauschale (oder war es umgekehrt?).

Einige Leser mögen einwenden, dass die Kompetenz der Grünen nun einmal bei der Umwelt liege, aber das hieße, ihnen unrecht zu tun: Die Partei hat im November letzten Jahres beschlossen, die Wirtschafts- und Finanzpolitik ins Zentrum zu stellen. Im Leitantrag wurde die „sozial-ökologische Neubegründung der Marktwirtschaft“ festgeschrieben, unter Neubegründung machen sie es auf einem Grünen-Parteitag nicht. Wie sich zeigt, haben Ökologen halt nur einen ganz eigenen Bezug zu Zahlen und Fakten.

Es wird spannend, das kann man jetzt schon sagen. Wenn es im nächsten Jahr für Rot-Rot-Grün reichen sollte, dann am ehesten unter Führung eines grünen Bundeskanzlers. Das wird ein einmaliges Experiment, auch für die Deutschen. Die Grünen betonen gerne, dass sie aufseiten der Wissenschaft stünden beziehungsweise die Wissenschaften ganz nah bei ihnen, aber das sollte man nicht zu wörtlich nehmen.

Wissenschaft ist im grünen Milieu immer nur Wissenschaft, solange sie zum Parteiprogramm passt. Was darüber hinausgeht, heißt Big Pharma, Großchemie oder Apparatemedizin. Dass Kartoffeln besonders gut gedeihen, wenn man sie mit Glyphosat düngt, glaubt man lediglich bei den Grünen. Kein Bauer käme auf die Idee, Unkrautvernichter über seine Knollen zu kippen, damit die Kartoffeln besser wachsen. Trotzdem schafft es die Behauptung aufs grüne Plakat.

So ist das halt, wenn man alles, was von Bayer Leverkusen kommt, für Teufelszeug hält, dann glaubt man auch an die wachstumsverstärkende Wirkung von Unkrautvernichtern. Man muss sich nur ansehen, welchen Eiertanz die Partei beim Thema Homöopathie veranstaltet, und man ahnt, wie brüchig in Wahrheit der wissenschaftliche Friede in den eigenen Reihen ist.

Es wird heute schnell vergessen, aber die Ursprünge der grünen Partei liegen nicht nur im Anti-Atom-Protest, sondern mindestens zu gleichen Teilen in der Esoterik- und Innerlichkeitsbewegung der siebziger Jahre, als sich eine ganze Generation auf die Suche nach dem Ich begab. Überall sprossen Selbsterfahrungsgruppen und Therapiezirkel, um der Selbstverwirklichung, wie das neue Zauberwort hieß, auf die Sprünge zu helfen. Vor der Beschäftigung mit den Produktionsbedingungen des Proletariats kam die Analyse der persönlichen Beziehungsverhältnisse, neben die gesellschaftliche Realität trat die gefühlte Wirklichkeit.

Von nun an reichte es, dass man sich mitbetroffen oder irgendwie involviert fühlte, damit ein Problem als politisch bedeutsam anerkannt war. Mehr noch: Die eigene Beziehung zum politischen Gegenstand wurde zum wesentlichen Kriterium für die Relevanz von Themen. Was keine Emotionen hervorzurufen vermag, gilt seitdem als nebensächlich und politisch nicht wirklich diskussionswürdig. Oder wie Claudia Roth einmal sagte: „Wie soll ich Sozialpolitik machen, wenn ich nichts empfinde?“

Leider entspricht die gefühlte Wirklichkeit nicht immer der realen.

Ausschalt-Kultur

Früher wollten die Konservativen immer alles Mögliche weghaben: Schriftsteller, die zu frech waren, Künstler, die missfielen. Heute sind es die Linken, die Publikationsverbote verlangen. Aber psst, ja nicht ansprechen, sonst gibt’s Ärger!

Mit dem „Zeit“-Kolumnisten Harald Martenstein sprach ich vor einiger Zeit über die Veränderung des Meinungsklimas. Martenstein war mal ganz links, in seiner Studentenzeit gehörte er der DKP an. Die DKP war die einzige Partei in Deutschland, die von der Überlegenheit der DDR überzeugt war – das glaubten sie nicht mal in der SED. Dann ereignete sich bei ihm das, was der große amerikanische Konservative Irving Kristol den „Überfall durch die Realität“ genannt hat. Heute steht Martenstein irgendwo in der Mitte, so wie die meisten Deutschen.

Meist schreibt er über seinen Hund oder sein Kind oder über Alltagsphänomene wie den Pilz, der in seinem Landhaus wächst. Hin und wieder wendet er sich politischen Dingen zu. Ein wiederkehrendes Thema ist bei ihm die Gendersprache. Wie alle Menschen, die Literatur und Sprache lieben, leidet Martenstein, wenn die Schönheit der Ideologie weichen muss. Auch die Gleichberechtigung und der Kampf gegen Diskriminierung kommen bei ihm öfter vor. Martenstein neigt hier einem unsentimentalen Standpunkt zu, was möglicherweise mit seiner Vergangenheit zusammenhängt. Wer bei der DKP war, weiß, was es bedeutet, einer radikalen Minderheit anzugehören. Das erhöht die Mitleidsschwelle.

Wenn man sich politisch äußert, bleibt es nicht aus, dass sich Leser beschweren. Martenstein hat dabei eine interessante Beobachtung gemacht, wie er mir berichtete. Rechte Leser drohen ihm Prügel an, wenn sie sich sehr geärgert haben. Linke Leser wenden sich an die Chefredaktion und verlangen seine Absetzung. „Jeder droht im Rahmen seiner Möglichkeiten“, lautet seine Schlussfolgerung „Ein Rechter käme nie auf die Idee, dass seine Eingabe an die Chefredaktion Erfolg haben könnte, deshalb setzt er aufs Faustrecht.“

In den Feuilletons tobt gerade eine leidenschaftlich geführte Debatte über die sogenannte Cancel Culture, also den Versuch, die Meinungsräume von missliebigen Personen frei zu halten. Muss man sich um die Meinungsfreiheit Sorgen machen, wie 153 berühmte Intellektuelle in einem Aufruf behaupten, der Anfang Juli in einer Reihe großer Zeitungen abgedruckt wurde? Oder ist Cancel Culture in Wahrheit nur eine Erfindung rechter Kreise, um die Kritik an rassistischen, sexistischen und anderen fragwürdigen Positionen in ein schiefes Licht zu rücken, wie die Gegenseite vorträgt?

Ausgelöst wurde die aktuelle Diskussion durch die Entscheidung des Nochtspeichers, eines Veranstaltungsortes in Hamburg, die Kabarettistin Lisa Eckhart von einer Lesung auszuladen, weil man Störungen durch die linke Szene fürchtete. Wenn Sie noch nicht von Frau Eckhart gehört haben, grämen Sie sich nicht: Sie ist eine erschreckend dünne, oft furchtbar angestrengt wirkende junge Frau, die in sehr gewählten Worten möglichst schockierende Dinge sagt. Wie sich herausstellte, hatte es keine Drohungen gegeben, wie von den Veranstaltern behauptet, sondern irgendjemand im Nochtspeicher meinte aufgeschnappt zu haben, dass es Ärger geben könnte, wenn man Frau Eckhart auftreten lasse. Ein klassischer Fall von vorauseilendem Gehorsam.

Für alle, die sich immer schon darüber geärgert haben, dass ihnen der Ruf der Zensur-Ursel anhaftet, war das die Gelegenheit, Entwarnung zu geben. Seht her, hieß es, so sieht also eure Cancel Culture aus: Nichts damit linkem Gesinnungsterror, alles in Wirklichkeit übertrieben! Ich glaube, man nennt das ein Strohmann-Argument. Man bläst eine Lächerlichkeit so groß auf, dass man dann alles mit wegwischen kann, was nicht ganz so lächerlich ist.

Einige Namen der Cancel-Culture- Leugner kamen mir vertraut vor. Habe ich nicht zum Beispiel den Namen Margarete Stokowski unter einem Aufruf gelesen, in dem der Rowohlt-Verlag aufgefordert wurde, auf keinen Fall die Autobiografie von Woody Allen zu veröffentlichen? Wie kurz doch manchmal das Gedächtnis von Menschen ist.

Falls Sie sich auch nicht mehr daran erinnern: Im März warfen 15 Rowohlt-Autoren ihrem Verlag vor, mit der geplanten Publikation „unethisch“ zu handeln. Woody Allen habe sich nie „überzeugend mit den Vorwürfen seiner Tochter auseinandergesetzt“, sie als Kind missbraucht zu haben, deshalb sollte das Buch „keinen Platz in einem Verlag haben, für den wir gerne und mit großem Engagement schreiben“. Sich „überzeugend“ mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen, hieß in dem Fall vermutlich, dass der Regisseur hätte zugeben sollen, sich an seiner Tochter vergangen zu haben – trotz mehrerer entlastender Gutachten.

Seit 1945 ist es im deutschen Verlagswesen unüblich geworden, auf politischen Druck hin sein Programm anzupassen. Der Vorgang besaß also Novitätscharakter, worauf der Rowohlt-Verleger Florian Illies den 15 Autoren in seiner freundlichen Art klarmachte, dass Rowohlt kein House of Cancel Culture sei und auch nicht werden wolle. Der Hachette-Verlag in New York hingegen, bei dem die Originalausgabe der Autobiografie erscheinen sollte, hielt dem Druck aus den eigenen Reihen nicht stand und kündigte den Vertrag mit Allen.

Cancel Culture ist eine Machtdemonstration. Wenn man andere am Auftreten oder Veröffentlichen hindern kann, nutzt man das aus. Stößt man auf jemanden wie Illies, der sich widersetzt, wartet man die nächste Gelegenheit ab. Gleichzeitig will selbstverständlich niemand als Befürworter von Zensurmaßnahmen gelten. Ich kann das verstehen. Nazis wollen auch nicht Nazis genannt werden und Rassisten nicht Rassisten. Deshalb versuchen sich die Beteiligten bei Kritik, mit Witzchen aus der Affäre zu ziehen, indem sie Boykottaufrufe als „Storno“ bezeichnen oder mit dem Verzicht auf Roggenbrot beim Bäcker vergleichen.

Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach hat vor ein paar Monaten die Deutschen befragt, wie sie glauben, dass es um die Meinungsfreiheit bestellt sei. 78 Prozent der Befragten antworteten, dass man bei bestimmten Dingen vorsichtig sein müsse, was man in der Öffentlichkeit sage. Über die Umfrage wurde breit berichtet – in der Regel, um sie infrage zu stellen. Die Ergebnisse wurden entweder als unsinnig bezeichnet oder als gefährlich, weil sie rechte Ressentiments bedienten.

Ich glaube auch nicht, dass alle in Deutschland nur noch hinter vorgehaltener Hand offen sprechen. Tatsächlich scheint die Demokratie sogar gerade ziemlich lebendig. Meiner Meinung nach wurde die Umfrage falsch interpretiert: Sie zeigt nicht, was die Deutschen für sich selbst fürchten, sondern wie sich aus ihrer Sicht das allgemeine Meinungsklima entwickelt hat. Diesen Unterschied findet man auch in Umfragen zu den ökonomischen Aussichten: Menschen, die pessimistisch in die Zukunft schauen, schätzen ihre eigene finanzielle Situation oft überraschend gut ein. Wenn Leute lesen, dass man heute in der Kulturbranche seinen Job verlieren kann, wenn man sich mit einem AfD-Funktionär zum Mittagessen trifft, werden sie nachdenklich.

Wer will es ihnen verdenken? Aber vielleicht geht es ja genau darum: um den Erziehungseffekt. Hans Joachim Mendig hieß der Mann, der nach einem Essen mit dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen seinen Posten als Chef der hessischen Filmförderung verlor, weil 600 Kulturschaffende fanden, man dürfe sich mit jemand wie Herrn Meuthen nicht mal beim Italiener treffen. Unter den 600 waren mit Sicherheit auch viele Menschen, die Cancel Culture für eine Erfindung der Rechten halten.

Er könne sich nicht erinnern, sagt Martenstein, dass man in den 80er Jahren versucht hätte, Bücher oder Lesungen zu verhindern. Vielleicht war die damalige Generation von Linken toleranter. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass die andere Seite das Sagen hatte. Damals wollten die Konservativen immer alles Mögliche weghaben: die Jelinek, weil sie ihnen zu männerhassend war, den Schlingensief, weil er ihnen zu aufmüpfig erschien, den Achternbusch, weil er ihnen als Nestbeschmutzer galt. Was für eine Pointe, dass viele Linke sich heute so verhalten wie die Leute, die sie immer bekämpft haben.

Woke Capitalism

Nach dem Turbokapitalismus kommt nun der „wache“ Kapitalismus, der auf jede politische Forderung mit einem sofortigen Kniefall reagiert. Der Opportunismus hat auch in der Wirtschaftswelt eine neue Stufe erreicht

Ein kleines Mädchen lehnt auf einem Foto lässig am Kühlergrill eines Autos. Sie trägt ein gepunktetes Sommerkleid, Jeansjacke und Sonnenbrille und isst eine Banane, während sie darauf wartet, dass jemand den Wagen aufschließt. Vielleicht muss sie zur Kita, oder es geht in den Urlaub, so genau kann man es nicht sagen. Das Bild ist eines der Motive, mit denen Audi für den RS4 wirbt, seinen neuen Turbo-Kombi. Weitere Motive der Kampagne zeigen die jungen Eltern, den Vater im T-Shirt, die Mutter in Lederweste und Leopardenhose. „Lets your heart beat faster – in every aspect“, steht über der Bildstrecke. Es ist etwas rätselhaft, warum das Kind eine Banane in der Hand hält. Andererseits, haben die Grünen nicht gerade dazu aufgerufen, dass Kinder mehr Obst essen sollen?

So weit, so unschuldig – und so dämlich, wie Werbung halt sein kann. Zu allem findet sich allerdings jemand, der sich tiefere Gedanken macht. Auch die Audi-Kampagne wurde einer genaueren Betrachtung unterzogen. Gerade kleine Kinder würden im Straßenverkehr immer häufiger übersehen, weil die Autos immer größer und immer stärker motorisiert seien, lautete darauf ein Vorwurf. Ein potenzielles Opfer als Werbefigur: wie geschmacklos! Außerdem habe das Bild so einen Lolita-Touch. „Verstörend“, kommentierte auf Twitter der Nutzer Christian Hasiewicz. „Kleines Mädchen mit Phallussymbol in der Hand. Klar, super“, meldete sich shiri@home zu Wort.

Ich würde meinen, dass bei jemandem, der bei einer Vierjährigen, die eine Banane isst, an Lolita denkt, etwas nicht stimmt. Manchmal fällt ein Vorwurf auf den zurück, der ihn äußert. Aber so gelassen kann man bei Audi in Ingolstadt die Twitter-Welt nicht sehen. Kaum hatten sich Christian Hasiewicz und shiri@home geäußert, zog Audi das Werbemotiv zurück. „Wir entschuldigen uns aufrichtig für dieses unsensible Bild und versichern, es in Zukunft nicht mehr zu nutzen“, erklärte der Konzern. Man werde unverzüglich untersuchen, wie diese Kampagne entstanden sei und welche Kontrollmechanismen versagt hätten.

Wir haben eine neue Stufe des Kapitalismus erreicht. Nach dem Raubtierkapitalismus und dem Turbokapitalismus kommt nun der woke Kapitalismus. Für alle, die nicht mit den neuesten Trends vertraut sind: Der Begriff „woke“ kommt aus der amerikanischen Studentenbewegung und bedeutet so viel wie „wach“, „achtsam“. Gemeint ist eine Geisteshaltung, die überall Ungerechtigkeit erkennt, auch dort, wo man sie nicht vermuten sollte. Die alten, linken Drugheads waren mir lieber, muss ich sagen. Die haben zumindest nicht hinter jedem Busch und jedem Kühlergrill gleich ein Moralverbrechen gewittert.

Drei spitze Schreie im Netz, und schon fallen sie in den Konzernzentralen um wie die Kegel. Gut, Standfestigkeit war noch nie eine Stärke von Wirtschaftslenkern. Rückgrat zu zeigen, ist nicht die erste Tugend, die einen in die Vorstandsetage bringt. Aber bislang war der Opportunismus auf das persönliche Fortkommen beschränkt, jetzt orientiert er sich auch an den Forderungen der Straße.

Es bleibt nicht bei Anzeigenmotiven. Wo die politische Lauterkeit zum Leitprinzip erhoben wird, kann es jeden treffen, dessen Gesinnung plötzlich als zweifelhaft gilt. Bei Google haben sie einen Programmierer gefeuert, weil er in einem internen Memo als Grund für den geringen Frauenanteil bei Google auf Theorien verwiesen hatte, wonach sich Frauen mehr für Menschen als für Dinge interessieren. Die Argumente, die er ins Feld führte, werden von einer Reihe von Wissenschaftlern unterstützt. Dennoch galt seine Meinung als so beleidigend, dass der Vorstandschef von Google seinen Urlaub unterbrach, um dem Mann persönlich zu kündigen.

Dass gerade das Silicon Valley ein besonders frauenfeindlicher Platz ist, das ist allgemein bekannt. Facebook begann als Seite zur Bewertung von Studentinnen, wer „hot“ sei und wer eher nicht so „hot“. Statt die Leute zur Rechenschaft zu ziehen, die es versäumt haben, mehr Frauen einzustellen, werden lieber diejenigen entfernt, die Vermutungen darüber anstellen, warum Frauen in der Belegschaft unterrepräsentiert sind. Auch das ist der neue woke Kapitalismus.

Was eben noch als Zeichen für fortschrittliche Gesinnung galt, kann morgen schon von einem neuen, noch fortschrittlicheren Standard überholt sein. Bei Adidas erwischte es vor sechs Wochen die Personalchefin Karen Parkin. Dass Parkin die einzige Frau im ansonsten rein weißen, rein männlichen Vorstand war? Egal. Ein paar Mitarbeiter hatten sich beklagt, weil sie bei einer internen Sitzung gesagt haben soll, sie halte die Klage über Rassismus bei Adidas für „Noise“, also ein Geräusch, das man nicht ernst nehmen müsse. Das reichte, um ihr den Stuhl vor die Tür zu setzen.

Ich habe mir im Netz Fotos von Vorstandschef Kasper Rorsted angesehen. Mir ist dabei eine bemerkenswerte Verwandlung aufgefallen. Auf den aktuellen Bildern trägt Rorsted Kapuzenjacke und Sneaker. Abgesehen davon, dass ich es ohnehin zweifelhaft finde, wenn Männer über 50 im Büro in Sportkleidung auflaufen: Nur zwei Mausklicks weiter findet man Bilder, die ihn brav im Anzug zeigen. Die Fotos stammen aus seiner Zeit beim Waschmittelhersteller Henkel. Die Metamorphose lässt sich nur so erklären, dass Rorsted sogar seine Kleidung danach aussucht, was er gerade für opportun hält.

Zur Erinnerung: Adidas war auch das Unternehmen, das verkündete, es werde künftig seine Miete schuldig bleiben, nachdem die Regierung die Mietstundung gesetzlich verankert hatte, um in Bedrängnis geratenen Kleinunternehmern zu helfen. Als die Sache dann breit in den Zeitungen stand, ruderte man schleunigst zurück, wobei man es nicht bei einer normalen Entschuldigung beließ: Die Entschuldigung musste selbstverständlich in gendergerechter Sprache abgefasst werden.

„Liebe Leser_innen, die Entscheidung, von Vermieter_ innen unserer Läden die Stundung der Miete für April zu verlangen, wurde von vielen von Ihnen als unsolidarisch empfunden“, begann das Schreiben. Was immer Adidas in Zukunft über seine Anzeigen schreiben mag, wenn ich jemanden mit den drei Streifen sehe, denke ich: Wendehals.

Man darf sich nicht täuschen. So schnell, wie es in die eine Richtung geht, so schnell geht es auch in die andere. Netflix hat die Produktion einer Serie in der Türkei gestoppt, weil die türkische Regierung Anstoß daran nahm, dass einer der Charaktere offen schwul sein sollte. Würde die chinesische Regierung Apple bitten, jede App zu entfernen, die chinesische Nutzer auf den Gedanken bringt, es könnte eine Welt außerhalb Chinas geben, würde Apple noch heute seinen App Store entsprechend umrüsten.

Das ist das Problem mit dem Kapitalismus, der bereitwillig der politischen Wetterlage folgt: Wenn sich der Wind dreht, ändert sich die Entscheidungsgrundlage. Ich verspreche Ihnen: Wenn in Deutschland in zehn Jahren die AfD regieren sollte, können wir gar nicht so schnell hinsehen, wie in Herzogenaurach die Genderflagge eingeholt und gegen eine himmelblaue Fahne ausgetauscht wird.

Auch für die Unternehmen ist diese Form der Wetterfühligkeit nicht ungefährlich, das nur nebenbei. Wer sich bei jedem Windhauch auf den Boden wirft, kommt irgendwann nicht mehr hoch. Die Kräfte der woken Welt geben nie Ruhe, man kann si e immer nur für kur ze Zeit besänftigen. Irgendwann wird es heißen: Darf man überhaupt noch für Autos werben? Ist nicht das Auto an sich ein verstörendes Symbol für Rücksichtslosigkeit?

Wenn ich darüber nachdenke: Werbung an sich ist doch hochproblematisch. Heißt Werbung nicht, den Leuten etwas unterzujubeln, was sie vielleicht gar nicht wollen? Das ist schlicht Manipulation! Wo bleibt da der Respekt vor dem Verbraucher! Der Tag ist nicht mehr fern, und wir diskutieren über ein grundsätzliches Werbeverbot. Oder über Werbung nur noch mit Warnhinweisen, wie wir es von Tabakpackungen kennen: Vorsicht, der Kauf dieses Produkts kann Ihnen und der Umwelt erheblichen Schaden zufügen! Bei Audi wären sie dann die Letzten, die sich beklagen dürften.

Die dunklen Flecken der Seele

Scientologen nehmen Blechdosen in die Hand, um zur Erlösung zu finden. Andere schreiben sich beim Opus Dei ein. Der moderne Heilssucher entdeckt den Rassisten in sich

Der Schriftsteller Friedemann Karig berichtet in der „Süddeutschen Zeitung“, wie er entdeckte, dass er ein Rassist ist. Er habe sich eigentlich nie viel Gedanken über Hautfarbe gemacht, schreibt er. Er hat sich in seinem Leben auch nie rassistisch geäußert. Der Bericht in der „SZ“ beginnt damit, wie er als 13-Jähriger dazwischengeht, als ein kurdischer Freund auf dem Fußballplatz von anderen Jugendlichen beleidigt wird.

Trotzdem entscheidet Karig, sich einem rassismuskritischen Training zu unterziehen. So wie man sich bei übertriebener Schüchternheit oder Konfliktscheuheit professionelle Hilfe holen kann, so kann man sich inzwischen auch gegen Rassismus coachen lassen. Es wird nie ganz klar, warum Karig so ein Training für nötig hält. Vielleicht spürte er, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Vielleicht wollte er es auch einfach genau wissen, um anschließend sagen zu können, dass bei ihm alles okay sei. Jeder Coachingkurs endet in der Regel damit, dass man eine Bescheinigung über den erfolgreichen Abschluss erhält. Eine Art Anti-Rassismus-Bescheinigung, das ist natürlich sehr praktisch angesichts der aktuellen Diskussion.

Karig verbringt Stunden in Videotelefonaten, in denen er lernt, „den Blick auf sich selbst zu richten“, wie die Anti-Rassismus-Beraterin das nennt. Die Trainerin fragt ihn, wann ihm sein Weißsein zum ersten Mal bewusst geworden sei. Ob er schon einmal gespürt habe, dass er als Weißer Privilegien genieße. Hat er die Privilegien vielleicht sogar ausgenutzt? Seinen Durchbruch erzielt Karig, als er der Trainerin erzählt, wie er bei der Suche nach einem Nachmieter für eine Wohnung einmal jemanden auswählte, der so aussah wie er selbst. „In mir bäumt sich etwas auf. Ich will mich wehren. Ich bin kein Rassist“, schreibt er. „Dann merke ich: Sie hat recht.“ Psychologen wird diese Szene bekannt vorkommen.

Der Therapeut spricht in so einem Fall von Blockade: Je größer der Widerstand gegen einen unangenehmen Gedanken, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass man sich wehrt, weil man die Wahrheit nicht sehen will. Die Abwehr ist der Beweis, dass der Therapeut mit seiner Vermutung recht hat – eine Logik, aus der es kein Entrinnen gibt. Sagt man Ja, stimmt man ihm zu; sagt man Nein, ebenfalls.

Die Technik ist nicht ganz neu. Im Prinzip funktionieren alle religiösen Verbindungen so. „Die sogenannte Sekte oder Psychogruppe verspricht, die Welt beziehungsweise den Einzelnen erlösen zu können“, heißt es in einem Leitfaden des Bayerischen Familienministeriums zur Frage, woran man Sekten erkennt. „Um den entscheidenden ‚Durchbruch‘ zur ‚eigentlichen‘ Persönlichkeit zu erreichen, müssen durch wesentliche Verhaltens- und Einstellungsänderungen angebliche Blockaden im Gehirn beseitigt werden.“ Gäbe es noch die berühmte Sektenbeauftragte Ursula Caberta, dann wäre das Anti-Rassismus-Training eindeutig ein Fall für sie. Scientologen nehmen Blechdosen in die Hand, um ihre inneren Widerstände zu überwinden. Manche schreiben sich beim Opus Dei ein, wo eine Welt der freudvollen Leiden auf sie wartet. Der moderne Heilssucher entdeckt den Rassisten in sich.

Die Anti-Rassismus-Diskussion ist auf der Ebene der Teufelsaustreibung angekommen. Darauf zielte sie im Grunde schon immer. Der zentrale Begriff ist Schuld, darum dreht sich all es. Wer weiß ist, muss sich schuldig fühlen, weil am Weißsein Privilegien und Macht hängen. Und Privilegien, das weiß jeder gute Linke, muss man bekämpfen, weil sie uns von Menschen trennen, die schwächer sind. „Check your Privilege“, lautet der Satz, mit dem man zur Einkehr gemahnt wird. „Bereue!“, hieß das früher, „beichte deine Sünden!“ Gemeint ist das Gleiche.

Wo der Ernst der Religion beginnt, da wächst das Komische auch, das ist hier nicht anders. Die Komik liegt in diesem Fall darin, dass akademisch geprägte Menschen, die man umstandslos zur kulturellen Elite zählen kann, anderen Menschen, die zu den eher prekär Beschäftigten gehören, erklären, warum sie in Wahrheit die Privilegierten im Land seien. Ich weiß nicht, wie viele Gabelstaplerfahrer oder Lidl-Verkäuferinnen sich privilegiert fühlen. Nicht so wahnsinnig viele, denke ich. Ich würde allen, die das anders sehen, empfehlen, einen Test zu machen. „Hey, du hinter der Ladenkasse: Check your Privilege!“ Im besten Fall erntet man mit so einem Satz Unverständnis, im wahrscheinlichsten wird einem der Vogel gezeigt, wäre meine Vermutung.

Ich habe dafür keine Erklärung, aber es gibt bei manchen Menschen ganz offensichtlich ein tiefes Bedürfnis, sich schuldig zu fühlen. Während die meisten froh sind, wenn sie einigermaßen unbelastet von Selbstvorwürfen durch den Alltag kommen, üben Schuldgefühle auf einige eine geradezu magische Wirkung aus. Entweder leben sie falsch, oder sie essen falsch, oder sie haben die falschen Freunde oder überhaupt die falsche Einstellung. Die Erlösungshoffnung richtet sich entsprechend der jeweiligen Mode an einen spirituellen Führer, der Rettung verspricht – den Priester, den Yogi, den vegan Er leuchteten, jetzt eben an die Anti-Rassismus-Beraterin.

Unnötig zu sagen, dass diese Form der Selbsterforschung oft mit einem gewissen sozialen Status einhergeht. Wer den ganzen Tag im kapitalistischen Hamsterrad sitzt, dem fehlt schlicht eine entscheidende Ressource für die Seelenprüfung, und das ist Zeit. Deshalb gedeiht das Bußritual auch besonders gut im Kloster oder artverwandten Einrichtungen wie Schule und Universität, wo Zeit im Überfluss vorhanden ist.

Es gibt historische Vorbilder. Im 13. Jahrhundert verbreitete sich von Perugia ausgehend die Geißlerbewegung in Europa. Die Flagellanten zogen in Prozessionen von Ort zu Ort, sangen Hymnen und peitschten sich selbst, um sich ihrer Sünden zu entledigen. Bevorzugtes Instrument der Selbstbestrafung war eine Geißel, deren Riemen mit Knoten oder eisernen Spitzen versehen waren. Papst Clemens VI. ließ die Umzüge Mitte des 14. Jahrhunderts verbieten, womit die Bewegung allerdings nicht erlosch, sondern sich ins Private verlagerte. Jetzt traf man sich mit Gleichgesinnten eben zu Hause, um der gerechten Welt näher zu rücken. Die Anstrengungen reichen nie aus, das ist die Tragik des Glaubenssuchers. Mit allem kann man es übertreiben, nur mit der Bußfertigkeit nicht. Immer gibt es jemanden, der noch häufiger in die Kirche geht und noch gewissenhafter seine Seele nach dunklen Flecken erforscht.

Einmal im Jahr vergibt die feministische Plattform „Edition F“ zusammen mit dem „Handelsblatt“ und „Zeit Online“ den „25 Frauen Award“ an 25 weibliche Vorbilder. Dieses Jahr hatten die Veranstalter großen Wert auf eine möglichst breit gefächerte Auswahl gelegt, die allen Anforderungen an Vielfalt und Inklusion Rechnung tragen sollte.

Wenige Wochen vor Vergabe des Preises erklärten sieben der Nominierten, ihren Namen zurückzuziehen. Ihnen sei aufgefallen, wie wenig divers die Auswahl der schwarzen Frauen sei, schrieben sie. Alle schwarzen Frauen, die nominiert worden seien, hätten eine vergleichsweise hellere Haut, das befördere den strukturellen Rassismus. Deshalb hätten sie sich entschieden, Platz zu machen für Frauen mit einem dunkleren Hautton, erklärten die sieben, allesamt selbst People of Color. Unnötig zu sagen, dass die Veranstalter die Preisvergabe darauf für alle Nominierten absagten und gelobten, beim nächsten Mal noch inklusiver zu denken.

So ist das mit Sekten. Wer sich auf ihre Gedankenwelt einlässt, ist auch mit dabei, wenn die Abzweigung ins Fundamentalistische genommen wird. Mit einem Appell an die Vernunft oder gutem Zureden ist hier nichts mehr auszurichten. Dass sich darauf kein politisches Programm begründen lässt, versteht sich von selbst. Es ist das Wesen der Sekte, dass sie ein Verband von Auserwählten ist und damit exklusiv. Das kann man bei der Anti-Rassismus-Bewegung für ein Glück oder für eine Tragödie halten. Über ihre Sympathisanten in den Medien wird sie so in jedem Fall nicht hinauskommen.

Die verlorene Ehre des Oberstleutnant B.

Wir haben es mit einer neuen Form des Politjournalismus zu tun. An die Stelle der Neugier ist das Urteil getreten, an die Stelle der Frage die Verdächtigung. Ein falscher Like reicht, und man bläst zur Gesinnungsjagd

Der Gesinnungsjäger hasst Uneindeutigkeit. Nichts ist ihm so zuwider wie Ambiguität. Er kann oder will sich nicht vorstellen, dass einer die Bücher rechter Autoren liest und dennoch die Grünen wählt. Oder dass jemand vor einer Studentenverbindung spricht und gleichzeitig mit Menschen befreundet ist, die über einen Migrationshintergrund verfügen. Es gibt bei ihm nur Entweder- oder. Anders würde die Gesinnungsjagd ja auch nicht funktionieren.

Auch der Journalismus lebt von Ambiguitätsreduktion. Das erleichtert den Überblick. Wenn es gegen Mächtige geht, gegen Fleischfabrikanten, Finanzgrößen oder Politiker, mag das gerechtfertigt sein, selbst wenn am Ende nur Abziehbilder übrigbleiben. In jedem Fall problematisch wird es, wenn sich der Furor gegen Privatpersonen richtet, die sich nicht zur Wehr zu setzen wissen. Dann wird Journalismus zur Vernichtungsmaschine.

Heinrich Böll hat vor vielen Jahren einen Roman über die unheimliche Macht der Medien geschrieben. Der Roman heißt „Die verlorene Ehre der Katharina Blum” und schildert die Geschichte einer Angestellten, die von einer Party eine Zufallsbekanntschaft mit nach Hause nimmt, einen jungen Mann, der der Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe verdächtigt wird. Eine Boulevardzeitung bekommt Wind von der Sache und stellt der Frau nach. Sie wird über die Zeitungsseiten gejagt, bis sie schließlich die Waffe gegen den Reporter richtet, der ihr Leben zerstört hat.

Das ARD-Politmagazin „Panorama” hat am Donnerstag vergangener Woche einen Filmbeitrag über einen Oberstleutnant der Bundeswehr gesendet, den die Redaktion der Sympathie mit Rechtsradikalen verdächtigt. Der Soldat ist in der Pressestelle der Bundeswehr als Referent beschäftigt, bis zu dem Fernsehbeitrag dürfte ihn außer seinen Kameraden kaum jemand gekannt haben. Das hat sich schlagartig geändert. Seit diesem Donnerstag ist Oberstleutnant Marcel Bohnert der Beweis, dass rechte Gesinnung in der Bundeswehr allen Ankündigungen zum Trotz seinen Platz hat, wie es die Redaktionsleiterin Anja Reschke in ihrer Anmoderation ausführte.

Die Beweislage sieht so aus: Als Beleg für die Vernetzung des Soldaten ins rechtsradikale Milieu präsentierte das Magazin zwei Likes, die die Redaktion nach einer „Instagram- Recherche” zutage gefördert hatte. In einem Fall hatte Oberstleutnant Bohnert ein Foto von Büchern des rechten Antaios-Verlags mit „gefällt mir” markiert. Bei dem zweiten Like handelte es sich um ein Herzchen unter dem Urlaubsfoto eines Wasserfalls, das unter anderem mit dem Hashtag „Defend Europe” versehen war, ein Motto, das auch bei der extremen Rechten beliebt ist.

Beide Fotos stammten vom Profil eines Instagram-Nutzers, der sich selbst als „identitär” bezeichnete. Es gab weder Stimmen aus dem Umfeld des Soldaten, die den Verdacht einer zweifelhaften Gesinnung bestätigten, noch eigene Texte oder Äußerungen. Dass das Verteidigungsministerium den Referenten auf Anfrage umgehend seines Postens enthob, wurde mit Genugtuung quittiert: „Immerhin. Aber warum erst jetzt?” lautete das Fazit des Beitrags.

Wenn „Panorama” sendet, schauen viele Menschen zu. So konnte es nicht ausbleiben, dass sich auch andere auf die Suche nach den Social-Media-Aktivitäten von Leutnant Bohnert machten. Wie sich herausstellte, hatte der Soldat vieles gelikt, zum Beispiel einen Tweet für Black Lives Matter; eine Fotomontage, mit der zur Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin aufgerufen wurde. Es fand sich sogar ein Like für den ZDF-Moderator Jan Böhmermann. Hätte die „Panorama”-Redaktion mehr als eine „Insta gram- Recherche” betrieben, wäre sie möglicherweise auch auf den Verein Deutscher Soldat gestoßen, eine Vereinigung von Bundeswehrangehörigen mit Migrationshintergrund, die sich umgehend mit dem von ihnen geschätzten Kameraden solidarisierten.

Schlimmer als ein denunziatorischer Beitrag ist für den Betroffenen ein denunziatorischer Beitrag, für den der Sender unter Rechtfertigungsdruck gerät. Undenkbar, dass man einen Fehler eingesteht oder die Recherche im Nachhinein korrigiert. Stattdessen werden die Anstrengungen verdoppelt. Erst wenn das Ansehen des Opfers vollständig ruiniert und ausgelöscht ist, gibt man sich zufrieden.

Jetzt hat man noch einen Vortrag bei einer Burschenschaft in München gefunden und eine Rede vor dem rechtskonservativen Studienzentrum Weikersheim. Die Redaktion zitiert dazu die Rechtsextremismus-Expertin Natascha Strobl mit der Einschätzung, dass es sich bei Weikersheim um ein „Zentrum der neuen Rechten” handele. Auch hier hätte eine weitergehende Recherche geholfen. In Weikersheim sind, außer Marcel Bohnert, bereits Gerhard Schröder, Joachim Gauck, Gesine Schwan und Wolfgang Schäuble aufgetreten.

Der Journalist Claus Richter hat vor ein paar Wochen im „Cicero” an die journalistischen Standards erinnert, die Briten und Amerikaner nach dem Krieg als Grundlage eines fairen, unparteilichen Journalismus etablierten: Unvoreingenommenheit, die genaue Prüfung der Fakten, die Pflicht, die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen, Meinungspluralismus. Richter hat 13 Jahre das ZDF-Politmagazin „Frontal21” geleitet; bis heute steht er der Jury des prestigeträchtigen Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises vor. Seine Generation sei keineswegs Gegner eines engagierten Journalismus gewesen, schreibt er, „aber wer mit seiner Arbeit kritisches Nachdenken fördern wollte, sollte sich vor allem an die wenden, die nicht schon zu 100 Prozent die Meinung der Autoren teilten”.

Wir haben es mit einer neuen Form des Politjournalismus zu tun. Dieser Journalismus will nicht mehr aufklären, er will recht behalten. An die Stelle der Neugier ist das Urteil getreten, an die Stelle der Frage die Verdächtigung. Abkehr vom „Neutralitätswahn” heißt das heute. Warum nicht? Es gibt kein Gesetz, dass einen als Journalist zur Fairness verpflichtet. Die Frage ist nur, ob sich diese Haltung mit dem Auftrag einer Institution verträgt, die sich aus Gebühren finanziert, auch von denen, die sie ablehnen. Im Staatsvertrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten ist ausdrücklich festgeschrieben, dass die Redakteure unparteilich und ausgewogen zu berichten haben.

Wenn schon ein falscher Like eine Existenz vernichten kann, dann ist niemand mehr sicher, das wird oft übersehen. Die Extremismus- Expertin Natascha Strobl, die bei Magazinen wie „Panorama” hoch im Kurs steht, ist in der Vergangenheit bei einer Reihe linksradikaler Organisationen aufgetreten, die, anders als das Studienzentrum Weikersheim, regelmäßig im Verfassungsschutzbericht stehen. Nach den Kriterien der „Panorama”-Redaktion müsste man also im Fall von Frau Strobl von einer linksradikalen Vernetzung sprechen. Einige findige Menschen haben auch Likes der Autorin des „Panorama”-Beitrags, Caroline Walter, unter linksradikalen Seiten ausgegraben. Soll man jetzt wirklich behaupten dürfen, dass bei „Panorama” Leute arbeiten, die mit Linksradikalen sympathisieren?

Die Autorin hat sich in mehreren Tweets zu d en Vorwürfen geäußert, sie habe nicht umfassend genug recherchiert. Ich bin ein Fan von Twitter, weil es ein en viel direkteren Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt von Menschen ermöglicht als ein Pressetext. Ich weiß nicht, inwieweit die Mischung aus Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit, die sie dort an den Tag legt, typisch für di e Redaktion ist, der sie an gehört: In jedem Fall gewährt sie den Blick in eine Welt, in der es nur Feinde oder Gefolgsleute zu geben scheint.

Auf der Höhe der Relotius-Affäre hat sich Caroline Walter im Dezember 2018 auch über journalistische Integrität geäußert. „Es gibt zu viele Journalisten, die nur in Scoops denken, an ihre Karriere”, schrieb sie damals. „Es ist nicht cool, Journalist zu sein, es bedeutet, verdammt viel Verantwortung zu übernehmen!” Manche Aussagen entfalten im Nachhinein eine gewisse Komik, mitunter unfreiwillig.