Monat: Oktober 2019

Unsere Puritaner von links

Die Linke war immer stolz auf ihre Aufmüpfigkeit. Heute richtet die Bewegung ihre ganze Energie darauf, dass Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen. Was ist bloß schiefgelaufen?

Zu den Büchern, die mich durch das Studium begleiteten, gehörte ein schmaler Band mit schwarzem Wachsumschlag, von dem sich in roten Buchstaben der Titel abhob: „Schumann’s Barbuch: Drinks & Stories“.

Das Buch leistete mir wertvolle Dienste. Ich hatte neben dem Literaturstudium einen Job als Barkeeper angenommen, eine Nebenbeschäftigung, die mich viel über das Leben und seine Abgründe lehrte. Als ich mich an der Journalistenschule bewarb, fragte mich einer der Prüfer, wie denn ein Negroni beschaffen sei. Als ich es ihm, auch dank Schumanns Barbuch, erklären konnte, lehnte er sich zurück und sagte: „Wenn das hier nichts wird, haben Sie ja noch einen anderen Beruf in Aussicht.“ Es ist dann zum Glück doch etwas mit dem Journalismus geworden.

Charles Schumann ist heute 78 Jahre alt und wahrscheinlich der berühmteste Barkeeper der Welt. Weil er nichts davon hält, zu Hause seine Zeit zu vertrödeln, steht er nach wie vor in seiner Bar am Münchner Odeonsplatz und kümmert sich um die Gäste. Vor zweieinhalb Wochen habe ich ihn am Flughafen getroffen, er kam gerade aus London, wo er wieder einen Preis entgegengenommen hatte, den Industry Icon Award, verliehen von der Vereinigung „The World’s 50 Best Bars“. Wir teilten uns ein Taxi in die Stadt.

Er habe ein Problem, sagte er, ob ich ihm einen Rat geben könne. Seit dem Morgen gebe es im Netz eine Kampagne, dass man ihm keine Preise mehr verleihen dürfe. Ein paar Aktivisten hatten ein Interview mit der „Japan Times“ aus dem Jahr 2009 ausgegraben, in dem er gesagt hatte, dass Frauen abends nicht hinter die Bar gehörten.

Es war klar, dass der Satz nicht ganz ernst gemeint war, aber das war egal. Charles Schumann hindere Frauen, Geld in der Gastronomie zu verdienen, hieß es jetzt in dem Aufruf. Zwei Tage später veröffentlichte „The World’s 50 Best Bars“ eine „Entschuldigung“: Die Organisation bedaure die „Verletzungen“, die durch die Auszeichnung an Schumann entstanden seien. Man verurteile jegliche Form von „Frauenfeindlichkeit“ und „Sexismus“.

Vor zehn Jahren hat der Münchner Gastronom Charles Schumann also einmal gesagt, dass er Frauen nicht raten würde, ins Bargewerbe zu gehen. Das reicht, um ihn als Feind zu markieren, den man boykottieren muss. Wenn man einen Barmenschen wie Schumann zu einem Symbol im politischen Kampf machen kann, dann kann es jeden treffen, würde ich sagen. Aber das zu demonstrieren ist ja vielleicht auch das Ziel.

Wann ist die linke Bewegung auf den Weg des Pietismus eingeschwenkt? Die Linke, mit der ich aufgewachsen bin, war stolz auf ihre Aufmüpfigkeit und ihren Widerspruchsgeist. Bei den sogenannten K-Gruppen gab es schon damals nichts zu lachen. Wer gläubiger Marxist ist, hält Ironie für ein Zeichen von Dekadenz.

Aber die eigentliche Anziehungskraft der Bewegung beruhte auf dem Regelbruch, der Unangepasstheit, der Aussicht auf ein wildes, ungebärdiges Leben, das sich den Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft verweigerte. Jimi Hendrix, „Easy Rider“ und der ewige Sommer der Liebe: Das waren die Versprechen der Counterculture, nicht eine besonders strenge Befolgung der Sittengesetze. Alles, was vom wilden Leben geblieben ist, ist ein bisschen Haschisch am Abend, und auch das nur, wenn keiner zuguckt.

Die moderne Linke, jedenfalls in ihrem akademischen Teil, scheint vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie dafür sorgen kann, dass niemand vom rechten, also linken Weg abkommt. Ihre ganze Energie ist darauf gerichtet, dass die Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen.

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau wurde mit 18 Jahren Verspätung dabei erwischt, dass er während seiner Studentenzeit einmal mit Turban und dunkler Schminke als Aladdin verkleidet bei einem Kostümfest aufgetaucht war. Er hat sich jetzt tausendmal entschuldigt, trotzdem hätte ihn der Vorgang fast die Wiederwahl gekostet.

Der neue Puritanismus stellt besondere Anforderungen an den Menschen, erst recht, wenn er als einflussreich gilt. Als vor einem Jahr Philip Roth starb, der Mann, der mit den Sexszenen in „Portnoys Beschwerden“ 1969 das amerikanische Establishment in Schockstarre versetzte, hieß es in einem Nachruf auf Spiegel Online: Philip Roth, ein bewunderter Schreiber, gut und schön, aber diese Form der Literatur, in der ein alter weißer Mann Frauen als Objekt der Begierde darstelle, gehöre doch der Vergangenheit an.

Ich frage mich manchmal, was im Buchregal einer aufrechten Feministin steht. Jojo Moyes wahrscheinlich oder Nicholas Sparks. Wenn man die heutigen Maßstäbe an die geforderte Harmlosigkeit anlegt, muss vieles raus, angefangen bei Goethe (er 73, sie 17), Thomas Mann (hat ständig den Kellnern auf den Hosenstall gestarrt), Bertolt Brecht natürlich (räkelte sich beim Sex gelangweilt auf dem Sofa, während ihm Helene Weigel zu Diensten war). Leider gehen Genialität und mustergültige Lebensführung selten Hand in Hand, tatsächlich ist die Zahl der Scheusale unter Künstlern sogar relativ hoch.

Weil theoretisch alles verstörend sein kann, was sich auf dem Terrain zwischen Mann und Frau abspielt, gehen Museen dazu über, vor Räumen mit anstößigen Bildern Warntafeln anzubringen. Studenten erhalten vor der Lektüre von Textpassagen, die sie belasten könnten, sogenannte Trigger-Warnungen. Die Rechte habe ein Problem mit freier, selbstbestimmter Sexualität, hat die Feministin Margarete Stokowski dieser Tage geschrieben. Mag sein, ließe sich einwenden, aber zumindest muss man als Rechter vor dem Beischlaf nicht lange Verträge unterschreiben, um mögliche Klagen abzuwenden, wenn einer oder eine anschließend enttäuscht ist.

Manchmal frage ich mich, was dieses freudlose Leben so reizvoll macht, dass ihm eine ganze Generation von Studenten folgt. Anderseits fühlten sich auch jahrhundertelang junge Mädchen vom Klosterleben angezogen.

Wir reden viel über den Wert der Freiheit, aber in Wahrheit ist Freiheit für ängstliche Naturen eher Drohung denn Verheißung. Der Nachteil des Glücksversprechens der siebziger Jahre war, dass es jedem Einzelnen die Verantwortung aufbürdete, sein Glück zu finden. Wer einsam zu Hause saß, weil er keinen Anschluss fand, musste es sich selbst zuschreiben, wenn das wilde Leben an ihm vorbeizog. Von dieser Last ist die nachfolgende Generation befreit. Die Freuden der Selbstkasteiung stehen jedem offen. Wer sich bei den linken Flagellanten einschreibt, muss nie fürchten, dass andernorts die bessere Party stattfindet.

Charles Schumann hat jetzt übrigens den Icon Award zurückgegeben. „Ich will ihn nicht mehr“, schrieb er auf seiner Facebook-Seite. Wenn man 78 Jahre alt ist, können einem bestimmte Dinge einfach egal sein. Das ist ein Vorteil des Alters.

Lass niemals eine Krise ungenutzt

Die Juden in Deutschland hatten lange nicht mehr so viele Freunde wie derzeit. Sie waren seit Langem auch nicht mehr so nützlich. Wer dem politischen Gegner am Zeug flicken will, muss nur laut „Nie wieder“ rufen

Jeder nutzt die Gunst der Stunde, so gut er kann. Der Attentäter von Halle war noch nicht dem Haftrichter vorgeführt, da erinnerte die Amadeu Antonio Stiftung aus Berlin bereits daran, dass ihr Projektgelder gekürzt worden seien.

„Statt Mittel zu kürzen, muss Arbeit gegen Rechtsextremismus endlich konsequent unterstützt werden. Wenn die Politik das nicht leistet, bleiben alle Bekundungen rund um Halle leere Worte“, schrieb die Initiative, die noch zwei Tage vor dem Anschlag hatte bekannt geben müssen, dass sie ein Büro in Hannover schließen werde. „Never let a good crisis go to waste“, hat Winston Churchill einmal gesagt: Lass niemals eine Krise ungenutzt verstreichen.

Die Juden in Deutschland hatten lange nicht mehr so viele Freunde wie derzeit. Sie waren seit Langem auch nicht mehr so nützlich. Wenn man es einigermaßen clever anstellt, fällt ein wenig von der Anteilnahme für einen selbst ab. Oder man kann einen Feind, dem man schon lange einen verpassen wollte, mit einem flotten „Nie wieder“ ein Bein stellen.

„Einen Angriff auf uns alle“ hat der Bundespräsident den Anschlag genannt, dabei ist er genau das nicht. Es macht nämlich einen Riesenunterschied, ob man sich mit einem Kreuz oder dem Davidstern um den Hals in der Öffentlichkeit bewegt (so wie es übrigens auch im Alltag einen großen Unterschied macht, ob man schwarze oder weiße Hautfarbe hat).

Ich war zwei Tage vor dem Anschlag in Halle bei der jüdischen Gemeinde in Duisburg. Der Gemeindevorstand hatte mich eingeladen, die Festrede zum Neujahrsempfang zu halten. Für die jüdische Welt hat am 1. Oktober das Jahr 5780 begonnen. Vor mir sprach die Bürgermeisterin, eine brave Sozialdemokratin, die daran erinnerte, wie wichtig der Kampf gegen rechts und jede Form der Ausgrenzung sei. Man applaudierte höflich.

Das Thema meiner Rede war die Meinungsfreiheit, also was man sagen darf und was tabu ist und tabu bleiben sollte. Dabei kam ich auch auf den Aufstieg der neuen Rechten und die Reaktion darauf zu sprechen. Mir erschiene das Engagement gegen rechts noch glaubwürdiger, sagte ich, wenn es auf der Linken nicht ausgerechnet beim Antisemitismus eine seltsame Übereinstimmung mit dem politischen Gegner gäbe.

Linker Antisemitismus sei unmöglich, hat der Schriftsteller Gerhard Zwerenz einmal gesagt. Mit diesem selbst ausgestellten Persilschein segelt man seitdem durch die Debatten. Aber schon ein Blick in führende linksliberale Zeitungen und Zeitschriften zeigt, dass auch Leute, die sich für aufgeklärt halten, stärkere Vorbehalte gegen Juden haben, als sie je zugeben könnten.

Anschließend gab es einen Empfang, bei dem die Gäste noch etwas beisammenstanden. Was ich bemerkenswert fand, war, dass viele Zuhörer die Passage zu der unheiligen Allianz zwischen links und rechts als besonders gelungen lobten. Die Leute wissen, so muss man daraus schließen, auf wen sie sich verlassen können und auf wen nicht. Sie wissen auch, vor wem sie sich in Acht nehmen müssen, wenn sie auf die Straße gehen.

Was die AfD angeht, ist man gespalten, so mein Eindruck. Alle Transgressionen, die sich die Partei leistet, werden aufmerksam registriert. Dass viele AfD-Anhänger es gerne hätten, wenn nicht mehr vom Holocaust die Rede wäre, darüber machen sie sich in der jüdischen Gemeinde keine Illusionen. Andererseits sind es nicht Leute wie Gauland und Höcke, die ihnen die Kippa vom Kopf schlagen, sondern in der Regel junge arabische Männer, die nur die Schwulen noch mehr hassen als die Juden.

Gibt es in der AfD Antisemiten? Aber ja! Ist die Zahl größer als in anderen Parteien? Auch das. 55 Prozent der Anhänger dieser Partei stimmen in Umfragen der Aussage zu, dass Juden in der Welt zu viel Einfluss hätten, ein Wert, der mehr als doppelt so hoch ist wie bei anderen Parteien.

Der Antisemitismus zieht sich bis in die Spitze. Der Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner, immerhin Vorsitzender des Rechtsausschusses, vermochte nach dem Anschlag in Halle nicht einmal zwei Tage stillzuhalten. Dann musste er per Twitter die Frage weiterleiten, warum Politiker in Synagogen „lungern“ würden, wenn doch die wahren Opfer ein „Bio-Deutscher“ und eine Deutsche mit Vorliebe für Volksmusik seien.

Eine ganz andere Frage ist, inwieweit die neue Rechte für eine Tat wie den Angriff auf die Synagoge in Haftung genommen werden kann. So etwas kommt von so etwas, lautet, kurz gesagt, die Verdächtigungsthese. Man kennt das Muster: Wenn ein Syrer messerschwingend durch eine Einkaufspassage rennt, kann man die Uhr danach stellen, bis Alice Weidel den Islam anklagt. Jetzt wendet man diese Form der geistigen Inhaftnahme eben auf die andere Seite an.

Auch verwirrte Köpfe entnehmen ihre Stichworte aus der aktuellen Debatte. Nur, was folgt daraus? Dass man bei allem, was man sagt oder schreibt, bedenken sollte, was jemand in seiner Wahnwelt daraus macht? Der Terrorist bringt den Gedanken an sein ultimatives Ende, das führt ihn ja zum Terrorismus. Dieser Radikalitätsschub gilt theoretisch allerdings für alles, was einen ideologischen Kern besitzt: die Islamkritik, den Tierschutz oder den Kampf gegen genveränderten Mais.

Der nächste Attentäter ist möglicherweise ein ÖkoTerrorist, der sich auf die grünen Untergangsprophezeiungen bezieht. Wer kann ausschließen, dass nicht morgen ein verwirrter 17-Jähriger eine Drohne in das Triebwerk eines startenden Jumbos lenkt, weil er ein Zeichen gegen das massenhafte Artensterben setzen will, von dem er in der Zeitung gelesen hat? Wollen wir dann auch, analog zum Umgang mit rechts, ein Auftrittsverbot für Robert Habeck und Annalena Baerbock im ZDF-„Morgenmagazin“ fordern, weil wir sie für die geistigen Brandstifter halten?

Verantwortung ist konkret, oder sie ist gar nicht, das ist jedenfalls meine Erfahrung. Ich finde, man kann zum Beispiel von einem Parteiführer wie Alexander Gauland erwarten, dass er eine Wahlkampfrede unterbricht, wenn er unter seinen Zuhörern Leute sieht, die Plakate hochhalten, auf denen die Mitglieder des Bundeskabinetts an Galgen baumeln. Es würde sich für mich auch gehören, dass jemand Herrn Brandner zur Seite nimmt und mit ihm über seine Twitter-Aktivitäten redet. Oder dass man im Parlament seinem Fraktionskollegen auf die Schulter tippt, wenn er beim Totengedenken an einen ermordeten Politiker wie den Regierungspräsidenten Walter Lübcke als Einziger sitzen bleibt.

Am Sonntag retweetete der Grünen-Politiker Volker Beck ein Foto von einem Aufzug der Jugendorganisation der Linkspartei in Köln, auf dem für Palästina, die Intifada und damit den Tod von Juden demonstriert wurde. „Hallo, die Linke, könnt ihr das bitte erklären“, schrieb er darunter: „Antisemitismus im Alltag bekämpfen, wo wir ihn treffen, das ist eine Lehre von Halle.“

Ich sehe es genauso wie Volker Beck, in diesem Punkt sind wir uns 100 Prozent einig. Auch Anti-Antisemitismus ist unteilbar. 

Wenn sich Kleingeister groß fühlen

Was muss man sich zuschulden kommen lassen, um seinen Job zu verlieren? Wenn man in der deutschen Film- und Theaterwelt arbeitet: ein Mittagessen mit dem falschen Politiker. Das reicht dort

Ein Mann trifft einen Politiker. Der Mann steht einer Kulturorganisation vor, die staatliche Gelder an Künstler verteilt. Der Politiker ist Vorsitzender der größten Oppositionspartei des Landes. Die beiden sind in einem italienischen Restaurant verabredet, sie essen zu Mittag. Kurz darauf veröffentlicht der Politiker ein Foto des Treffens auf seiner Instagram-Seite. „Sehr angeregter und konstruktiver politischer Gedankenaustausch heute“, schreibt er dazu.

Kaum ist das Bild in der Welt, setzen Verdächtigungen ein. Eine Reihe von Künstlern, die der Regierung zugetan sind, äußert ihr Missfallen. Sie sagen, dass sie nicht länger mit dem Kulturmanager zusammenarbeiten könnten, weil er durch das Mittagessen kompromittiert sei.

Man sammelt Unterschriften. Es gehen Petitionen heraus, die eine Entlassung fordern. Die Ministerin für Wissenschaft und Kunst beruft eine Krisensitzung ein. Erst heißt es, man müsse die Lage prüfen. Dann steht in den Zeitungen, dass der Mann seinen Posten verloren habe. An seine Stelle soll eine Person rücken, die das Vertrauen der Kunstschaffenden genieße. Von dem Entlassenen hört man nichts mehr.

Die Geschichte liest sich, als würde sie in einem fernen Staat im Osten spielen, einer dieser Autokratien, in denen die Bürger gut beraten sind, bei allem, was sie sagen oder tun, vorsichtig zu sein. Aber ist keine Geschichte aus der Ferne. Es ist eine deutsche Geschichte.

Der Mann, der seinen Job verlor, heißt Hans Joachim Mendig. Er war drei Jahre lang Geschäftsführer der hessischen Filmförderung – bis er sich auf einen Lunch mit dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen traf. Vor zwei Wochen wurde er seines Amtes enthoben. Man habe den Imageschaden begrenzen müssen, der durch das Treffen entstanden sei, erklärte die Kulturministerin Angela Dorn, die dem Aufsichtsrat der hessischen Filmförderung vorsteht und für die Grünen in der Landesregierung sitzt.

Ich beschreibe den Fall hier so ausführlich, weil ich ihn für außergewöhnlich halte, auch für außergewöhnlich hinterhältig. Es kommt nicht oft vor, dass Menschen ihren Job verlieren, weil sie mit den falschen Leuten zu Mittag gegessen haben. Ich kann mich, ehrlich gesagt, an keinen vergleichbaren Fall in den letzten 30 Jahren erinnern. Ich hätte deshalb erwartet, dass er größere Beachtung findet. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat berichtet, etwas ausführlicher die „Welt“. Aber in der Regel blieb der Fall eine Randnotiz im Feuilleton, eine dieser Personalien, über die man beim Lesen schnell hinwegliest.

Was ist da los? 600 Leute aus der deutschen Filmszene unterschreiben eine Erklärung, in der sie androhen, nicht mehr mit der Hessen-Film zusammenarbeiten zu wollen, wenn deren Geschäftsführer weiter im Amt bleibe. Ein Subventionsannahmeboykott als Druckmittel, das ist originell. Andererseits: Niemand ist gezwungen, Fördermittel entgegenzunehmen. Es gibt sogar Menschen, die meinen, dass der deutsche Film in einer deutlich besseren Verfassung wäre, wenn es keine staatliche Filmförderung gebe. Als förderwürdig gelten in Deutschland vor allem Filme, die viel Kunstwillen, aber wenig Aussicht auf Publikum haben. So sagt es natürlich keiner, aber das ist die Praxis.

Die Kultur ist ein eigenes Milieu, mit eigenen Gesetzen und Regeln. Es ist schon schwer, in der Medienwelt jemanden zu finden, dessen Herz nicht für die linke Sache pocht. In der Kulturwelt ist dies nahezu unmöglich. Was wäre das deutsche Petitionswesen ohne die „Filmschaffenden“, wie sie sich bei der Gelegenheit gern nennen. Keine Unterschriftenliste, auf der sich nicht der Name von Schauspielern, Bühnenbildnern oder Regisseuren findet, die im hohen Maße empört oder besorgt sind.

Mit der Bereitschaft zur Empörung korrespondiert ein ausgeprägtes Kuschelbedürfnis, das in interessantem Widerspruch zum Widerstandsgestus steht. Früher war man stolz darauf, die Bürger aus der Fassung gebracht zu haben. Wenn es im Parkett zum Aufstand kam, galt das als Gütesiegel. Heute lassen sich deutsche Bühnen beraten, wie sie mit Unmutsbekundungen und Störungen umgehen sollen. „Viele Theater fühlen sich auf solche Anfeindungen nicht hinreichend vorbereitet“, berichtete die Geschäftsführerin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus neulich in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie schwer sich Menschen, die ansonsten bei jeder Gelegenheit betonen, wie bereichernd das Fremde sei, in dem Moment tun, in dem sie tatsächlich mit dem Fremden konfrontiert sind. Die Künstler, denen man in der Theater- und Filmwelt begegnet, gleichen einander auf verblüffende Weise. Sie sehen vielleicht unterschiedlich aus, sie mögen aus exotischen Gegenden kommen oder fremd klingende Namen tragen: Aber was die Überzeugungen und Wertvorstellungen angeht, könnten sie nicht homogener sein.

In Wahrheit ist der im Kulturbetrieb vorherrschende Fremdheitsbegriff sehr oberflächlich, ja man könnte sagen: kolonialistisch. Er macht sich allein am Aussehen fest, also an Hautfarbe, Geschlecht oder ethnischer Herkunft. Der wahre Fremde hingegen wäre jemand, der radikal anders denkt. In dem Sinne ist ein Meuthen tausendmal fremder als jeder senegalesische Regisseur, der auf Festivals herumgereicht wird.

Regelmäßige Leser meiner Kolumne wissen, wie wenig ich mit der AfD am Hut habe. Ich käme im Leben nicht auf die Idee, diese Partei zu wählen. Aber es stört mich, wenn sich alle gegen einen zusammenrotten. Auf einer Unterschriftenliste gegen jemanden Stimmung zu machen ist für mich kein Zeichen von Mut, sondern eher ein Ausdruck von Niedertracht.

Mich erinnert das Ganze an die unselige Zeit in den siebziger Jahren, als man sich daranmachte, Leute auszuheben, die angeblich mit der RAF und ihren Zielen sympathisierten. Wobei man sagen muss: Bei der RAF handelte es sich immerhin um eine Terrororganisation. Die AfD hingehen mag man verachten, aber sie ist weder verfassungsfeindlich noch kriminell.

Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Schon jetzt sitzen die ersten AfD-Vertreter in den Rundfunkräten. Demnächst werden sie in die Kulturförderung und in die Aufsichtsgremien staatlicher Kulturinstitutionen einziehen. Will man dann im Ernst nach jedem verfänglichen Mittagessen, bei dem sich ein Kulturfunktionär erwischen lässt, mit Boykott drohen? Wer weiß, vielleicht werden die Kulturetats in Deutschland schon bald nicht mehr ausgeschöpft, weil niemand das Geld haben will. Das wäre dann allerdings eine wirklich radikale Entwicklung.

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen

Es ist der reine Wahnsinn, was im Internet an Verleumdung und Bedrohung möglich ist, ohne dass jemand einschreitet. Dabei ist die Lösung zur Beendigung der Facebook-Anarchie viel einfacher, als viele denken

 Wer sich für Deutschland und das Internet interessiert, der stößt unweigerlich auf Sascha Lobo. Es gibt Leute, die meinen, das sage schon alles über den Stand der Digitalisierung in Deutschland. In jedem Fall gehört Lobo zu den Menschen, die einträglich davon leben, anderen zu erklären, warum sie nichts vom Netz verstehen.

Die Deutung des Digitalen ist ein prosperierender Geschäftszweig. Um auf diesem Feld als Experte zu gelten, muss man nicht einmal im Gelobten Land gewesen sein oder mit einer entsprechenden Firma Erfolg gehabt haben. Es reicht, dass man jemanden kennt, der mal im Silicon Valley war. Was einem an Originalität fehlt, macht man mit Pathos wett. Im Kreis der Kolumnisten bei Spiegel Online haben wir uns an trüben Tagen gerne mit verteilten Rollen Lobo-Kolumnen vorgelesen, womit regelmäßig für Heiterkeit gesorgt war.

Ich gebe zu, ich habe nie ganz verstanden, weshalb selbst gestandene Manager sich die Welt von einem Mann erklären lassen, der seinen Morgen damit verbringt, seine Haare in die Form eines Besens zu toupieren. Wer als über 40-Jähriger so tun muss, als sei er die jüngere Ausgabe von Rezo, hat die Kontrolle über sein Leben verloren, würde ich sagen. Aber sobald es ums Netz geht, setzen normale Bewertungsmaßstäbe aus. Da bekommen die meisten weiche Knie.

Lobos Paraderolle ist die des unerschrockenen Freiheitskämpfers. Wann immer ein Politiker auf die Idee kommt, Regeln zu fordern, um das Netz zu einem zivileren Platz zu machen, steigt der Mann mit dem gefärbten Besenhaar auf die Barrikade und ruft: „Zensur!“ Gleichzeitig ist Lobo unter den Ersten, wenn es darum geht, die Verrohung von Umgangsformen im Netz zu beklagen. Das ist ein interessanter Widerspruch. Wenn Sie mich fragen, führt genau diese Doppelmoral zum Kern des Problems.

Seit die Grünen-Politikerin Renate Künast vor dem Landgericht Berlin mit einer Klage auf Herausgabe der Namen von Leuten gescheitert ist, die sie auf Facebook wüst beleidigt hatten, ist wieder viel über Hass im Netz die Rede. Ich bin fest davon überzeugt, dass es für eine Gesellschaft schädlich ist, wenn sich jedermann nach Lust und Laune austoben darf.

Die bürgerliche Gesellschaft hat aus gutem Grund Gesetze erlassen, die Beleidigung, Verleumdung oder üble Nachrede unter Strafe stellen. Aus weniger einsichtigen Gründen sind diese Regeln im digitalen Raum suspendiert. Wer einen Leserbrief veröffentlicht, in dem eine Politikerin als „Drecksfotze“ bezeichnet wird, hat den Staatsanwalt in der Tür. Wer einen solchen Ausfall im Netz postet, bei dem zuckt die Justiz mit den Achseln und erklärt die Entgleisung für eine Meinungsäußerung, die man nicht beanstanden könne.

Was ist da los? Eine Erklärung wäre: Auch viele Richter sehen das Internet als fremde Welt, in der die etablierten Regeln des Zusammenlebens ihre Gültigkeit verloren haben. Man kann es den Lobo-Effekt nennen. So wie Unternehmer dem Urteil eines Mannes mit roten Haaren trauen, weil ihnen alles, wovon er redet, neu vorkommt, haben auch deutsche Richter das Gefühl, beim Digitalen höre ihr Verständnis und damit ihre Zuständigkeit auf.

Es ist Wahnsinn, was möglich ist, ohne dass man belangt wird. Man kann einer Frau ungestraft androhen, sie zu vergewaltigen. Man kann sie als Kinderschänderin verleumden oder als Prostituierte. Es gibt keine Grenze mehr, es schreitet niemand ein. Die Verunsicherung der Justiz ist dabei ein Problem, ein noch größeres ist die unklare Rechtslage. Dass der Mensch von sich aus gut sei, glauben nur linke Träumer. Der Realist weiß, dass zwischen der Anarchie und dem Rechtsstaat allein die harte Hand des Gesetzes steht.

Nehmen wir Facebook, das größte soziale Netzwerk der Welt. Dass man es bei Facebook mit keinem normalen Unternehmen zu tun hat, merkt man als Journalist zum Beispiel, wenn man eine Frage nach dem Umgang mit Rechtsverstößen stellt und einen Smiley als Antwort erhält. Die Pressesprecherin ist eine lustige Person, die sicher auf jedem Firmen-Event für Bombenstimmung sorgt. Nur mit Öffentlichkeitsarbeit hat sie nicht viel am Hut.

Aber warum sollte sie auch? Facebook betrachtet deutsche Gesetze als lästiges Ärgernis. Es vertraut lieber seinen eigenen Gesetzen und seiner eigenen Gerichtsbarkeit. Versuchen Sie mal, eine Klage zuzustellen! Alles, was es dafür von Facebook in Deutschland gibt, ist ein sogenannter Zustellungsbevollmächtigter. Das ist in dem Fall die Anwaltskanzlei Freshfields in Berlin, bei der Sie gerne Ihr Schreiben abgeben dürfen.

Wirklich zuständig ist aber immer irgendjemand weit weg in Irland oder besser noch den USA. Denken Sie bitte auch daran, Ihr Anliegen in Englisch abzufassen. Deutsch spricht man bei Facebook nur, wenn man Anzeigen akquiriert beziehungsweise Werbekunden das Blaue vom Himmel verspricht.

24 Prozent der Deutschen sagen, sie nutzten Facebook als Nachrichtenquelle, in den USA sind es 39 Prozent. Das Unternehmen wertet und gewichtet Beiträge, es entscheidet, wem was wo gezeigt wird. Dennoch behauptet die Firmenspitze bis heute, der Konzern sei kein Medienunternehmen, sondern lediglich eine Art Super-Server, auf dem sich die Nutzer selbstständig frei bewegen und vergnügen würden.

Das ist wichtig für das Geschäftsmodell, denn an der Behauptung, kein Medienunternehmen zu sein, hängt das Privileg, auf alles verzichten zu dürfen, was ein Medienunternehmen beschwert – also Presserat, Jugendschutz oder das Gegendarstellungsrecht, das wir ansonsten für selbstverständlich halten.

Warum wir uns das gefallen lassen? Weil Netzaktivisten wie Sascha Lobo einen Riesenzauber veranstalten, wenn jemand Hand an „ihr“ Netz legt. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie erwachsene Menschen glauben können, ihnen gehöre etwas, nur weil sie es benutzen. Leider lassen sich auch viele Politiker vom Netzprotest beeindrucken. Wer das Internet reguliere, verärgere die jungen Menschen, heißt es, und wer will als Politiker schon die Jugend gegen sich aufbringen?

Man kann den Internet-Giganten beikommen. Das ist weniger schwer, als viele denken. Der erste Schritt wäre, dass man dafür sorgt, dass für soziale Medien die gleichen Regeln zum Schutz des Persönlichkeitsrechts gelten wie für alle anderen Unternehmen, die mit Inhalten handeln. Der zweite Schritt wäre, dass man gesetzlich verankert, dass jedes Internet-Unternehmen, das in Deutschland tätig ist, einen Verantwortlichen mit Wohnsitz in Deutschland benennen muss. Also nicht mehr Dublin oder Palo Alto, sondern Hamburg oder Stuttgart.

Ich garantiere Ihnen: So viel können sie dem armen Menschen, der dann im Zweifel den Kopf hinhalten muss, gar nicht zahlen. In kürzester Zeit würde Mark Zuckerberg persönlich dafür sorgen, dass in Deutschland niemand mehr über sein Netzwerk verleumdet oder bedroht wird. Das Klagerisiko wäre einfach zu hoch.

Den Autor dieser Kolumne erreichen Sie unter: j.fleischhauer@focus-magazin.de, Twitter: @janfleischhauer

 

Bürger, schaut auf diese Stadt

Allen, die von einem Bundeskanzler Robert Habeck träumen, kann man nur empfehlen, sich im grünen Ideenlabor Berlin umzusehen. Gegen die Grünen sind selbst die Nostalgiker von der AfD Modernitätsapostel

 Auch in Berlin kann man streng sein. Von wegen Party-Hauptstadt!

Anfang des Monats erhielt der Bäckermeister Karsten Greve ein Schreiben des Landesamtes für Mess- und Eichwesen, in dem ihm eine Strafzahlung in Höhe von 25000 Euro in Aussicht gestellt wurde. Der Mann, der im Bezirk Prenzlauer Berg die Bäckerei „100 Brote“ betreibt, hatte bei den Mengenangaben die falsche Schriftgröße verwendet.

Statt Kilogramm mit „kg“ abzukürzen, hatte er auf die Preistafel „KG“ geschrieben. Dies eröffne die Möglichkeit zu Fehldeutungen, schrieb ihm das Amt. Kunden könnten die Gewichtsangabe mit Kelvin und Gauß verwechseln oder mit der Abkürzung für „Kommanditgesellschaft“, was in jedem Fall eine Irreführung sei.

Da sage noch jemand, in Berlin würden sie nicht auf Recht und Ordnung achten. Zwei Buchstaben falsch, und schon steht man mit einem Bein im Gefängnis. So streng sind sie nicht mal in Bayern, das sich einiges darauf einbildet, die Bürger zur Gesetzestreue anzuhalten.

Die neue Null-Toleranz-Politik gilt allerdings nicht gegenüber jedermann, so grün ist Berlin dann doch. Wer seinen Unterhalt als Drogenhändler bestreitet, darf weiterhin mit Nachsicht rechnen. In einem Bericht des ARD-Polit-Magazins „Kontraste“ über den Görlitzer Park, den mutmaßlich größten Open-air-Drogenumschlagplatz Europas, erklärte die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, warum Drogenhandel in Berlin zu einer inklusiven Stadtkultur gehöre.

Man wolle niemanden ausgrenzen, sagte die Grünen-Politikerin vor laufender Kamera. Wenn man erst einmal damit anfange, dann fragten sich die Leute, wer als Nächstes dran sei: „Heute ist es die Dealergruppe, die rausgeschickt wird, und wer ist es morgen?“

Es kommt eben ganz darauf an, womit man in Berlin sein Geld verdient. Immobilienhandel oder Vermietung und Verpachtung gehen gar nicht. Selbst als normaler Gewerbetreibender ist man bestenfalls geduldet. Schwarzarbeit hingegen erfreut sich der Förderung durch die Politik, schon weil sie im Ruf steht, auch irregulären Arbeitskräften eine Erwerbschance zu bieten.

Die Grünen sind so etwas wie der Pandabär der deutschen Politik. Grüne gelten als süß und flauschig, so wie ihr Chef, der Oberpanda Robert Habeck. Dass Habeck selbst bei Kernanliegen nicht sattelfest ist und von der Pendlerpauschale offenbar so viel versteht wie einst der unglückliche Rudolf Scharping von brutto und netto – geschenkt. Er meint das Richtige, deshalb wird ihm verziehen.

Einer der Gründe, sich für die Grünen auszusprechen, liegt gerade in ihrer Unbestimmtheit. Wo die Leute an der Spitze so ungemein freundlich und entspannt wirken, erscheint das Bekenntnis zu ihnen als ungefährlich. Grün wählen funktioniert aus Sicht vieler Wähler wie Rosenkranzbeten am Sonntag: Man bereut seine Sünden, verspricht Buße und Einkehr und macht dann ab Montag so weiter wie gewohnt.

Wenn es Kritik an den Grünen gibt, dann setzt sie genau hier an: In Wahrheit würde sich gar nichts ändern, wenn sie an die Regierung kämen. „Der Schein trägt“ war neulich ein Artikel in der „Zeit“ überschrieben, in dem den Grünen vorgehalten wurde, sie würden nur so tun, als seien sie radikal.

Ich wäre mir, was die Folgenlosigkeit des Grünwählens angeht, nicht so sicher. Allen, die von einem Bundeskanzler Robert Habeck träumen, kann ich nur empfehlen, sich im Ideenlabor Berlin umzusehen. Wenn es einen Ort gibt, an dem der Grüne zu sich selbst kommt, dann ist es die deutsche Hauptstadt. Hier holt die Partei seit Jahren verlässlich ihr einziges Direktmandat für den Bundestag; hier hat sie eine Parallelwelt errichtet, in der sich alle Vorlieben und Abneigungen beobachten lassen, über die man in Stuttgart und Esslingen nur den Kopf schüttelt.

Als Feinde gelten in dieser Welt schon mal alle Leute, die von außen kommen und Geld mitbringen. Was dem AfDler der syrische Flüchtling, das ist dem Grünen der ausländische Investor. In jeder anderen Stadt würde man sich freuen, wenn der Karstadt-Eigentümer auf die Idee käme, eine innerstädtische Kaufhaus-Ruine im Glanz der 20er-Jahre auferstehen zu lassen. In Kreuzberg erklärt der grüne Baustadtrat kühl, die Fassadenrekonstruktion sei „eine Replik, die befürchten lässt, dass sie in ihrer Wirkung nicht authentisch ist“. Dann doch lieber der Steinklotz aus den 50er-Jahren, der ist in seiner Hässlichkeit wenigstens echt.

Tatsächlich legen die Grünen für eine Partei, die sich viel auf ihre Weltgewandtheit zugutehält, eine erstaunliche Provinzialität an den Tag. Ich folge auf Twitter fasziniert den Versuchen der Senatsverwaltung, die Bergmannstraße in Kreuzberg in eine „Begegnungszone“ umzuwandeln. Nachdem es mit grünen Punkten, die sie für 145000 Euro aufs Pflaster malen ließ, nicht klappte, versuchte sie es mit sogenannten Parklets, einer Kombination aus Pflanze und Sitzmöbel. Weil auch dies nicht den gewünschten Effekt hatte, sollen nun riesige Felsbrocken die Straße in eine Art verkehrstechnische Paläo-Zone verwandeln.

Selbst der „taz“, die in der grünen Szene so verankert ist wie keine andere Zeitung, geht die Musealisierung ganzer Stadtviertel zu weit. Schon ein Kinderzirkus reicht heute aus, um die Fußtruppen der Bewegung auf den Plan zu rufen, wie das Blatt vermeldete. Als der Wanderzirkus Cabuwazi auf dem Tempelhofer Feld, einer riesigen Brache in der Mitte der Stadt, sein gelb-rotes Zelt errichtete, hieß es, das Zelt könne nicht stehen bleiben, da es der weiteren Bebauung Vorschub leiste. Bei Cabuwazi lernen Jugendliche und Kinder aus allen Schichten und Herkünften, wie man jongliert und seiltanzt, eine urlinke Idee. Leider gilt das Tempelhofer Feld als heiliger Ort, auf dem nur die Kornblume und der Klatschmohn frei sprießen dürfen. Also Schluss mit Cabuwazi!

Solange es lediglich um die Stilllegung eines Stadtteils geht, muss einen das außerhalb nicht weiter bekümmern. Problematisch wird es, wenn eine Industrienation Leute in die Bundesregierung wählt, die mit der Moderne hadern.

Gegen die Grünen sind selbst die Nostalgiker von der AfD Modernitätsapostel. Der AfD wird vorgeworfen, sie wolle zurück in die 50er-Jahre. Wenn das wahr ist, dann liegt das Sehnsuchtsjahrzehnt der grünen Partei vor 1810, als die Dinge des täglichen Lebens noch handgeklöppelt wurden, jedes Tier einen Namen hatte und der Bauer das Pferd anspannte, statt den Trecker zu besteigen.

Sie meinen, es sei unfair, die grüne Partei für ihren Berliner Landesverband in Haftung zu nehmen? Ich würde sagen, das ist so gerecht oder ungerecht, wie es fair oder unfair ist, von ihrem Thüringer Landesverband auf die gesamte AfD zu schließen. Manchmal ist der Blick auf die erste Reihe in der Politik trügerisch, denn die Entscheidungsgewalt liegt hier bei den Mitgliedern.