Monat: April 2021

Das Hammer-Gesetz

Ich bin mit dem Thema Corona durch. Ich will davon nichts mehr wissen. Ich hoffe jetzt auf den Sommer, dann wird alles gut. Er rechne fest damit, dass wir im Sommer wieder im Biergarten sitzen, hat Olaf Scholz gesagt, und der ist immerhin Vizekanzler und Kanzlerkandidat der SPD.

Wobei, wenn ich darüber nachdenke, weiß ich nicht, ob das für oder gegen einen Corona-freien Sommer spricht. Olaf Scholz hat auch versprochen, es werde ab April zehn Millionen Impfdosen pro Woche geben. Er persönlich habe dafür gesorgt, dass das funktioniere. Als ich neulich nachfragte, wo denn die versprochenen Impfdosen bleiben würden, wurde ich belehrt, Scholz habe von „bis zu“ zehn Millionen Impfungen gesprochen. Irgendwo gibt es bei Politikersätzen immer eine Hintertür.

Auch die Ausgangsbeschränkungen, die sie jetzt beschlossen haben, können mich nicht schrecken. Wir haben in Bayern von Dezember bis März ab 21 Uhr nicht mehr auf die Straße gedurft. Wenn ich das Kollegen in Berlin erzählte, dachten die, ich mache einen Scherz. Ein Bekannter von mir wurde um 22.10 Uhr in München an der Tankstelle von einer Polizeistreife beim Zigarettenholen gestellt. 500 Euro Strafe! Das waren die teuersten Zigaretten seines Lebens. So gesehen ist es nur gerecht, dass sie auch in Berlin mal lernen, was ein echter Lockdown ist. Meinetwegen können die Beschränkungen gar nicht hart genug ausfallen. Das klingt für mich nach ausgleichender Gerechtigkeit.

Dann las ich, dass jetzt fünf Jahre Gefängnis drohen, wenn man nachts auf der Straße angetroffen wird. Im ersten Moment dachte ich, das sei ein Witz. Kann das sein, fragte ich meinen Dokumentar, den unbestechlichen Herrn Petersen. Er schrieb zurück: Paragraf 73 und 74 des neuen Infektionsschutzgesetzes.

Ich habe mir die Paragrafen genauer angesehen. Auch wer infektionsschutzwidrig ein Ladengeschäft öffnet, wandert ins Gefängnis, wenn es dumm läuft. Selbst ein Getränk oder eine öffentlich verzehrte Speise können einen hinter Gitter bringen. Ich weiß nicht, ob allen Abgeordneten klar war, was in dem Gesetz steht, das sie am Mittwoch im Bundestag beschlossen haben.

Ich finde es ein bisschen happig: fünf Jahre Knast, weil man sich nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal draußen die Beine vertritt oder in der Öffentlichkeit eine Cola trinkt? Das hat es nicht mal in der DDR gegeben, und die war bekanntlich nicht zimperlich, was die Einschränkungen von Bürgerrechten angeht. Einige werden jetzt drauf hinweisen, dass im neuen Infektionsschutzgesetz Geld- oder Freiheitsstrafe „bis zu fünf Jahren“ angedroht wird. Aber darauf falle ich nicht rein. Ich bin aus Schaden klug geworden. Mich führt man nicht mehr so schnell an der Nase herum.

Erinnern Sie sich noch an den Beginn der Pandemie? An die Märztage im vergangenen Jahr, als wir erstmals Bekanntschaft mit dem Virus schlossen? Damals machte eine Strategie die Runde, die als „Hammer und Tanz“ Bekanntheit erlangte. Ich würde gerne mal wieder den Tanz erleben. Ich kann in der Hand der Bundesregierung nur noch den Hammer erkennen.

Es gibt ernsthafte Zweifel, ob Ausgangsbeschränkungen etwas bewirken. Es gibt sogar Forscher, die glauben, dass sie alles nur schlimmer machen. Ich habe ein Interview mit einem Aerosolforscher gelesen. Der Mann heißt Gerhard Scheuch und ist einer der führenden Experten für die Ausbreitung von Kleinstpartikeln wie Viren.

Herrn Scheuchs Empfehlung ist eindeutig: Gehen Sie so viel raus wie möglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich draußen anstecken, tendiert gegen null. Also Zoos auf, Heizpilze und Stühle raus, um die Außengastronomie in Schwung zu bringen, überhaupt das Leben nach draußen verlagern: Das ist, was Wissenschaftler wie Scheuch raten. Je weniger Zeit die Menschen in schlecht gelüfteten Innenräumen verbringen, desto besser. Doch merkwürdig, im Kanzleramt wird genau das Gegenteil für richtig gehalten.

Warum man sich dort über den Rat der Wissenschaft hinwegsetzt? Man müsse ein Zeichen setzen, um den Leuten die Dramatik der Lage vor Augen zu führen, hat der Bundeswirtschaftsminister zur Begründung genannt. Etwas Unsinniges beschließen, damit die Bürger merken, dass es ernst ist? Früher hätte man den Mann schallend ausgelacht. Heute geht so etwas als Zeichen von Besonnenheit durch. Mehr braucht es eigentlich nicht, um zu erkennen, wie sehr Corona uns alle durcheinandergebracht hat.

Eine andere Begründung hat der SPD-Vorsitzende in Nordrhein-Westfalen geliefert. Wenn die Leute nachts nicht mehr vor die Tür dürften, käme man ihnen bei Fehlverhalten leichter auf die Schliche. Es sei nicht das Ziel der Politik, in Wohnungen zu gucken, aber auf dem Weg dahin könne man die Menschen erwischen. Er sagte das wörtlich: „erwischen“.

Immerhin ehrlich der Mann. Ich nehme an, er will in einem Jahr, wenn die nächste Landtagswahl ansteht, wiedergewählt werden. Aber wer weiß, vielleicht überwiegt bei den Sozialdemokraten der masochistische Charakter, der es toll findet, wenn man ihm mit der Knute des Staates droht.

Bei den Grünen ist das eindeutig so: Die stehen auf Strafe. Deshalb ist die Zahl der Lockdown-Befürworter auch in keiner Partei so hoch wie dort. Davon abgesehen: Ich glaube, wir unterschätzen die Findigkeit junger Menschen. Wer es als Heranwachsender schafft, sich Alkohol zu besorgen oder einen Joint an den Eltern vorbei in sein Zimmer zu schmuggeln, der schafft es auch, die Ausgangssperre zu umgehen.

Ein Freund, mit dem ich telefonierte, ist der festen Überzeugung, dass das Infektionsschutzgesetz nur der Anfang ist. Heute seien es die Inzidenzzahlen, die der Bundesregierung erlauben, an den Ländern vorbei das öffentliche Leben zum Erliegen zu bringen – morgen zu hohe CO2-Werte oder zu viel Feinstaub in der Luft.

Man könne sich auch nicht mehr wehren, sagte er. Bislang habe man vor das nächste Verwaltungsgericht ziehen können, wenn einem eine Regel als ungerecht oder unsinnig erschien. In Zukunft bleibe einem nur noch der Gang vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe. Das sei nicht nur teuer, sondern auch ziemlich aussichtslos.

Ich habe den Freund zu beruhigen versucht. So werde es schon nicht kommen. Aber während ich auf ihn einredete, merkte ich, wie ich mir selbst nicht mehr richtig glauben konnte. Ich kam mir vor wie jemand, der einem Verletzten, der mit dem Bein unter den Laster geraten ist, versichert, dass er sich keine Sorgen machen müsse: Schon morgen sei das Bein bestimmt wieder wie neu.

Ich denke, ich habe zu oft Versprechungen gehört, die sich schon bald darauf als haltlos erwiesen. Das fängt mit dem Wort „kurz“ an. Wie oft haben wir jetzt von der Politik gesagt bekommen, es bräuchte noch eine letzte, kurze Kraftanstrengung? So sagte es gerade erst wieder die Kanzlerin: Die Forderung nach einem kurzen, einheitlichen Lockdown sei richtig.

Hören sie sich in Berlin manchmal selbst beim Reden zu, frage ich mich. Wann wären wir jemals aus dem Lockdown heraus gewesen? Das erste Mal, dass uns jemand einen kurzen Lockdown versprochen hat, war Mitte Dezember. Das ist jetzt fast fünf Monate her. Ich glaube, es war Armin Laschet, der von einem „End-Lockdown“ sprach.

Ausgenommen von den bundesweiten Ausgangsbeschränkungen, die sie am Mittwoch beschlossen haben, sind Journalisten, alle, die einen Hund haben, und Abgeordnete. Vielleicht wäre ich versöhnter, wenn das Ausgangsverbot auch für Volksvertreter gelten würde. Kann man an der Stelle nicht noch nachbessern? In Zukunft kein Auftritt mehr zu später Stunde von Karl Lauterbach bei Maischberger oder Lanz: Okay, Deal, würde ich sagen, das ist es wert.

Was war der Holocaust?

Einmal im Monat erscheint die Mitarbeiterzeitschrift des Auswärtigen Amtes „intern AA“. Sie geht an alle aktiven und ehemaligen Diplomaten des Hauses, an die deutschen Konsulate sowie an Interessierte in den Bundestagsfraktionen der Parteien. Die Auflage liegt laut Impressum bei 11 400 Exemplaren.

Die Oktoberausgabe stand im Zeichen des Kampfs gegen den Rassismus. Das Heft war von den „Diplomats of Color“ gestaltet, einer Vereinigung von Beschäftigten mit nichtweißer Hautfarbe, und trug die Überschrift „Farbe bekennen“. Ein Leser aus dem Auswärtigen Amt hat mir am Wochenende ein Exemplar zugeschickt. Er meinte, es könnte mich interessieren.

Auf Seite acht stieß ich beim Blättern auf das Bild eines Straßenschilds in Berlin, das den Namen von George Floyd zeigt, des Schwarzen, der in Minneapolis im Würgegriff eines Polizeibeamten starb. Jemand hatte den ursprünglichen Namen überklebt, sodass es so aussah, als gäbe es jetzt in der Hauptstadt eine Straße, die an Floyd erinnert.

Ein kleines Schild, wie es manche Straßenschilder zur Erklärung tragen und das man bei der Umwidmungsaktion hatte stehen lassen, verriet, wessen Name ersetzt worden war: Es war der Name von Bernhard Weiß, dem jüdischen Vizepolizeipräsidenten, der von Joseph Goebbels als „Isidor Weiß“ geschmäht wurde und der sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nur durch großes Glück ins Exil hatte retten können.

Es gibt 9500 Straßen in Berlin. Es finden sich darunter Könige, Kirchenfürsten und Generäle als Namensgeber, auch Kaiser Wilhelm und die Hohenzollern haben bis heute ihren Platz im Gedenken der Stadt. Es hätte also viele Möglichkeiten gegeben, eine Straße in George-Floyd-Straße umzubenennen.

Warum wählt man ausgerechnet den Namen eines Mannes, der wie kaum ein anderer von den Nazis gehasst wurde, um ihn zu überkleben? Und warum findet das ohne jeden Kommentar seinen Eingang in die Mitarbeiterzeitschrift des Auswärtigen Amtes, also des Ministeriums, an dessen Spitze ein Mann steht, der von sich selbst sagt, dass er wegen Auschwitz in die Politik gegangen sei?

Weil genau das so gewollt ist. Das Bild ist ein Symbol, ein Zeichen. An die Stelle des Juden tritt die Person of Color, das ist die Botschaft.

Wir reden in diesen Tagen viel über kulturelle Aneignung. Die Grünen in Berlin haben gerade ihre Spitzenkandidatin gezwungen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie als Kind davon geträumt hat, Indianerhäuptling zu werden. Aber ausgerechnet wenn es um den Mord an den Juden geht, fallen im linksbürgerlichen Milieu die Hemmungen.

Wobei das, was wir erleben, mit dem Wort „Aneignung“ noch zu schwach bezeichnet ist. „Überschreibung“ wäre angebrachter. Oder soll man sagen: „Ersetzung“?

Ich bin mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass der Holocaust ein einzigartiges Verbrechen ist. Der Völkermord ist keine Erfindung der Deutschen. Aber ein Volk auszulöschen, weil man glaubt, dass einen die Vorsehung dazu bestimmt habe, das hat es so noch nicht gegeben. Der Historiker Saul Friedländer nannte das den „Erlösungsantisemitismus“.

Jetzt heißt es, der Glaube an die Singularität des Judenmordes sei eine deutsche Zwangsvorstellung. Oder wie es die Ägyptologin Aleida Assmann auszudrücken beliebt: eine „Fixierung“. Und es sind nicht irgendwelche randständigen Gestalten, die finden, dass man den Holocaust neu bewerten müsse, wie der Name Assmann zeigt, sondern hochgeachtete Intellektuelle und Gelehrte.

Gerade haben zwei Professoren in der „Zeit“ unter der Überschrift „Enttabuisiert den Vergleich!“ dafür plädiert, den deutschen „Fetischismus“ mit der Ausnahmestellung von Auschwitz zu überwinden, um zu einer neuen, inklusiven Erinnerungskultur zu kommen. „Inklusiv“ ist eines dieser Worte, die alles in den Schatten stellen, auch 50 Jahre deutsche Erinnerungspolitik und -praxis.

Wer darauf besteht, dass der Holocaust einzigartig sei, der denke provinziell, so lautet das Verdikt. Ja, schlimmer noch: Er leiste dem Rassismus Vorschub, weil er die Debatte um koloniale Verbrechen abwehre.

„Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die historisch Unterdrücker waren“, heißt es in einer Erklärung, die 1500 Künstler und Künstlerinnen unterzeichnet haben. „Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können.“

Deutlicher kann man es nicht sagen: Lange genug haben die Juden das Gedenken monopolisiert, jetzt sollen sie sich gefälligst mal hinten anstellen. Der Holocaust war schlimm. Aber das Leid der Schwarzen war mindestens genauso schlimm.

Es gab schon einmal jemanden, der die Singularität der Judenvernichtung infrage stellte. Der Name des Mannes war Ernst Nolte. Seine Interventionen, dass der Gulag, also der Mord der Bolschewiki an den Revolutionsfeinden, ursprünglicher gewesen sei als der Holocaust, führten zu einer der schärfsten Debatten der Nachkriegszeit. Als die Sache entschieden war, galt Nolte als Geächteter.

Vor vier Jahren reichte die Erinnerung daran noch, damit der „Spiegel“ in Panik die Bestsellerliste änderte, als dort ein Buch des Historikers Rolf Peter Sieferle auftauchte. Sieferle hatte den Holocaust als „Mythos“ bezeichnet – nicht in dem Sinne, dass es sich um eine Erfindung handeln würde, sondern dass er im Erinnerungsraum der Deutschen den Status von etwas Quasi-Religiösem eingenommen habe. Vom „Mythos“ zur „Fixierung“ beziehungsweise zum „Fetisch“ ist es nur ein kleiner Schritt.

Wer hätte gedacht, dass die Schublade noch einmal geöffnet werden würde, dieses Mal unter politisch umgedrehten Vorzeichen. Offenbar kommt es darauf an, was man beweisen will, damit das, was eben noch geächtet war, plötzlich als wegweisend gilt. Wenn es dar um geht, den Kolonialismus als das ursprünglichere Menschheitsverbrechen zu etablieren, scheint jedes Mittel recht, auch die erinnerungspolitische Wende.

Dass die Juden im Opfergedenken den ersten Platz einnehmen, war in Teilen des migrantischen Milieus immer schon ein Ärgernis. Der Satz, dass die Muslime die Juden von heute seien, ist nicht nur so dahingesagt. Angesichts des manifesten Antisemitismus in der muslimischen Welt könnte man es als Fortschritt betrachten, wenn sich der Aggressor mit dem Objekt seiner Aggression identifiziert. Aber so ist das selbstverständlich nicht gemeint. Erstrebenswert erscheint allein der mit der Pogromgeschichte verbundene Opferstatus.

Vielleicht ist es an der Zeit, Stopp zu sagen. Man muss nicht jede Unverschämtheit akzeptieren, nur weil jemand erklärt, er habe ebenfalls Diskriminierung erlebt. Ein Argument lautet, Deutsche mit Migrationserfahrung hätten andere Probleme und andere Familiengeschichten. Aber auch von einer Person of Color kann man verlangen, dass sie die Geschichte des Dritten Reichs kennt, zumal wenn sie Deutschland im Ausland vertritt.

Vor allem: Was folgt daraus für die Mehrheitsgesellschaft? Kaum ein Deutscher hat Vorfahren, die einen Fuß nach Namibia oder Tansania gesetzt haben. Das koloniale Erbe Deutschlands ist relativ überschaubar. Man kann natürlich behaupten, dass Verantwortung unabhängig von der konkreten historischen Schuld besteht. Aber wer die Erinnerungskultur in dieser Weise globalisiert, landet in der Abstraktion. Dann gibt es irgendwann auch keine Täter und Opfer mehr, weil jeder Mensch irgendwie schuldig ist.

Das Auswärtige Amt hat in der Dezembernummer des „intern AA“ dem George-Floyd-Bild eine Fußnote folgen lassen. Selbstverständlich habe man mit der Veröffentlichung nicht eine Erinnerungskultur gegen eine andere einführen oder die posthume Ehrung von Bernhard Weiß infrage stellen wollen, heißt es darin knapp.

Für Juni ist jetzt die nächste Ausgabe der „Diplomats of Color“ geplant.

Wer hat Angst vorm weißen Mann?

Wir hören viel darüber, wie wichtig der Austausch mit Leuten sei, die sonst wenig Gehör finden, dass es an Vielfalt in den Medien mangele. Aber wehe, man nimmt das ernst. Dann kann man eine Überraschung erleben.

Ich will von einer Niederlage berichten. Ich bin gescheitert. Ich wünschte, ich müsste mir das nicht eingestehen, aber es ist die Wahrheit. Ich habe vor zwei Monaten mit einem neuen Podcast begonnen. Er heißt „Die falschen Fragen“. Zwei Menschen aus verschiedenen Welten, einer davon bin ich, reden eine halbe Stunde miteinander und schauen, was dabei herauskommt. Das ist die Idee.

Es klingt simpel, doch es ist ein ziemlich revolutionäres Konzept. Wir hören viel darüber, wie wichtig der Austausch mit Leuten sei, die nicht so denken wie man selbst, dass es an Vielfalt in den Medien mangele. Aber ich kenne kein Format, bei dem regelmäßig zwei Personen aufeinandertreffen, die nicht nur politisch, sondern auch lebensweltlich wirklich auseinanderliegen. Ich verstehe das in gewisser Weise: Schon die falschen Fragen können einen heute in Schwierigkeiten bringen, von den falschen Antworten ganz zu schweigen.

Wer würde sich als Partner eignen? Meine Produzentin schlug mir die Moderatorin Esra Karakaya vor. Großartige Idee, dachte ich. Wenn man eine Casting-Agentur beauftragt hätte, wäre man nicht weit entfernt von dieser Kombination gelandet. Hier: der FOCUS-Kolumnist, Besitzer einer Doppelhaushälfte in München-Pullach, Vater von vier Kindern, die idealtypische Personifizierung des alten, weißen Mannes. Dort: die junge Feministin aus der Generation Y, Muslima, Smart-Fahrerin und Mieterin einer Singlewohnung in Berlin-Wedding.

Die erste Folge ging am 5. Februar online. Es waren muntere 30 Minuten. Wir sprachen über Untergrund-Friseure und den Vorteil des Kopftuchs in der Corona-Zeit, Dating während der Pandemie (wo trifft man sich, wenn alle neutralen Orte geschlossen sind?), die Tücken des Homeoffice. Außerdem erzählte Esra, wie sie beinahe 9000 Euro vom Berliner Senat abgestaubt hätte, sich dann aber nicht getraut hatte, das Geld zu behalten, weil sie die Rache der AfD fürchtete.

Es war, wie gesagt, ein Experiment. Würden uns die Hörer folgen? Die meisten Menschen suchen die Bestätigung ihrer Weltsicht, nicht die Irritation derselben. Aber das Konzept schien aufzugehen. Nach zwei Folgen hatten wir bereits über 4000 Abonnenten, nicht schlecht für ein neues, noch unbekanntes Format. Wir hatten verabredet, dass wir bis Sommer durchhalten wollten. Dann würde man weitersehen.

Anfang März erreichte mich eine Mail. Sie wisse nicht, ob sie weitermachen könne, schrieb Esra. Dass es Schwierigkeiten geben würde, hatte sich bereits auf Instagram angekündigt. „Mein Kopf sagt, NEIN Esra. Nein, Nein, Nein!!“, schrieb dort einer ihrer Follower. „Fleischhauer? Ist das dein Ernst, Esra?“, ein anderer. Ein dritter fluchte: „Alleine, dass der ‚Focus‘ dich an Bord genommen hat, sollte jedem zeigen, dass du entweder ein Projekt bist oder eine Marionette.“

Eine Bekannte, mit der ich sprach, bestätigte den Eindruck: Die Community sei außer sich. Es werde mit Konsequenzen gedroht, was immer das auch heiße. Es folgte ein Telefonat, dann noch eins. Esra wird das Podcastprojekt aus Zeitmangel beenden. Sollen wir weitermachen? Ich wäre dafür, sagte ich. Meine Produzentin empfahl, Kontakt zu Phenix Kühnert aufzunehmen. Phenix ist Transfrau, Aktivistin der LGBTQIA+-Bewegung, wie sich die queere Szene heute nennt, dazu Model. Wir trafen uns in Berlin. Ich mochte sofort ihre offene, selbstbewusste Art.

Diesmal bekam ich schon nach der ersten Folge eine Mail. Sie habe viel Feedback bekommen, da wir ja sehr unterschiedliche Standpunkte vertreten würden, schrieb mir Phenix. Viele Hörer hätten das als nicht wirklich angenehmes Hörerlebnis empfunden. Ob wir einmal reden könnten? Wir telefonierten. Ja, es gebe Probleme. Phenix ging nicht ins Detail, aber es war klar, dass die Reaktionen ähnlich ausgefallen waren wie bei Esra.

Den Marginalisierten eine Bühne bieten, die Ausgegrenzten sichtbar machen: Ist das nicht die Forderung der Stunde? Gerade hat das Bundespresseamt Medien die Beratung durch die Neuen Deutschen Medienmacher*innen empfohlen, damit die Medienwelt bunter und diverser wird. Millionen fließen jedes Jahr in Vereine, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Präsenz von Menschen zu erhöhen, die Muslime sind oder Migranten oder Transpersonen. Was haben wir falsch gemacht?

Ich mache meinen Partnerinnen keinen Vorwurf. Ich weiß nicht, wie ich mich an ihrer Stelle verhalten hätte. Es ist von Menschen sehr viel verlangt, sich über die Erwartungen ihres Umfelds hinwegzusetzen. Was bleibt, wenn man das vertraute Milieu verlässt? Der Bruch kann nicht nur sozial und emotional gravierende Auswirkungen haben, sondern auch finanziell.

Esra lebt zu einem Gutteil vom Crowdfunding. Der ZDF-Sender Funk, bei dem sie eine Talkshow hatte, hat den Vertrag nicht verlängert. Es ist ein großer Schritt, sich von den Leuten loszusagen, auf deren Unterstützung man angewiesen ist. Und die Szene kann sehr unnachsichtig sein, wie man sieht. Jede Abweichung wird registriert und gegebenenfalls mit Ausschluss geahndet.

Was will die Community? Reden? Gehört werden? Geredet haben wir ja. Über die Anschläge in Hanau. Den alltäglichen Rassismus. Den Schmerz, den es bedeutet, wenn man als Transfrau mit dem Geburtsnamen angesprochen wird. Der Schlüsselsatz scheint mir zu sein, der Podcast habe kein angenehmes Hörerlebnis geliefert. Ich habe länger darüber nachgedacht, was damit gemeint sein könnte.

Der WDR hat neulich einen Themenabend zu Rassismus veranstaltet. Eingeladen waren unter anderem drei schwarze Frauen, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Kurz vor der Aufzeichnung sagten die drei ab. Sie hätten sich unwohl gefühlt, hieß es zur Begründung. Sie hätten gedacht, dass man ihnen zuhöre. Dann hätten sie festgestellt, dass in der Sendung auch debattiert werden sollte.

Ich glaube inzwischen, dass es nicht um Austausch geht, auch nicht um Sichtbarkeit im öffentlichen Diskurs, sondern um Monolog. Erwartet wird die Bestätigung, dass man mit allem, was man sagt und denkt, richtigliegt. Das allerdings ist ein Ansatz, der unter den Bedingungen, unter denen freie Presse funktioniert, nur schwer zu realisieren ist.

Dass man als Journalist seinen Gesprächspartnern mit Respekt begegnet, auch mit Neugier und Offenheit, das darf man verlangen. Aber dass man anderen einfach das Mikrofon hinhält und sich jeden Einwand und jede kritische Nachfrage verkneift? Das kennt man aus autoritären Systemen, aber nicht aus offenen Gesellschaften.

In der Podcast-Folge mit Phenix geraten wir an einen Punkt, an dem ich das falsche Personalpronomen benutze, also von „er“ statt „sie“ spreche. Es ist ein für mich etwas peinlicher Moment, da ich mir selbstverständlich auf meine Weitläufigkeit und Vorurteilsfreiheit viel einbilde, aber er ist auch erhellend. Er zeigt, dass Verständigung nicht ohne gelegentliche Irritation oder Fehlleistungen zu haben ist. Wir haben uns entschlossen, die Stelle stehen zu lassen. „Für die Folge ist es eigentlich ganz gut“, schrieb mir Phenix am Morgen nach der Aufnahme.

Ich hänge bis heute der naiven Vorstellung an, dass es sich lohnt, fremden Menschen zuzuhören. Nicht weil wir so werden wollen wie sie, sondern weil es uns zeigt, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, auf die Welt zu sehen. Ich muss die Meinung des anderen nicht teilen, ich muss nicht einmal verstehen, wie man zu ihr kommt. Mir reicht zu wissen, dass es sie gibt.

Aber vielleicht ist das unsere Zukunft: dass jeder in seiner Welt bleibt. Die radikale Rechte hat immer schon behauptet, dass man Kulturen am besten getrennt hält, weil sie ein fundamentaler Graben trennt. Was mich unendlich deprimiert, ist, dass diese Sicht mit jedem Tag mehr Bestätigung zu finden scheint.

Postheroische Führung

Was suchen wir als Eigenschaften in einem Regierungschef? Er soll in schwierigen Momenten den Überblick behalten, klar. Aber soll er uns auch durch Krisen führen können? Das ist die Frage.

Stellen wir uns vor, Gerhard Schröder wäre heute Bundeskanzler. Glauben wir, dass Schröder seine Tage damit zubringen würde, mit den Ministerpräsidenten zu diskutieren, warum man jetzt über Ostern nach Mallorca fahren darf, aber nicht ins Seebad Bansin? Oder ob Kinder nun ein oder zwei Spielkameraden sehen dürfen?

Der Gerd, wie ihn seine Freude nannten, hatte viele Schwächen. Er hatte Mühe, die eheliche Treue zu halten. Er konnte überraschend eitel sein und verstrickte sich deshalb in obskure Händel wie den zur Natürlichkeit seiner Haarfarbe. Er hatte ein Faible für zwielichtige Freunde. Gleichzeitig war er im Umgang mit seinen Leuten erstaunlich großzügig.

Vor allem war er ein entscheidungsfreudiger Kanzler.

Was hätte Schröder in der Pandemie getan? Er hätte einen Krisenstab gegründet, mit einem seiner Freunde aus der Wirtschaft an der Spitze, einem Managertyp, der weiß, wie man Dinge organisiert. So wie er den VW-Vorstand Peter Hartz beizog, als das Land auf fünf Millionen Arbeitslose zusteuerte. Schröder schätzte durchaus die Qualitäten der Berliner Ministerialbürokratie. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, von einem Beamten zu verlangen, unbürokratisch zu denken.

Er hätte einen wachen Blick auf die Impfstoffpolitik der EU-Kommission gehabt, da er selbstverständlich davon ausging, dass andere Länder nicht deshalb ihre nationalen Interessen hintanstellen, weil wir Deutsche das tun.

Er hätte auch nicht gezögert, sich ans Telefon zu hängen und Joe Biden im Weißen Haus anzurufen, um den US-Präsidenten zu fragen, ob er nicht ein paar Millionen der AstraZeneca-Impfungen abgeben könne, die sie in den USA nicht mehr brauchen. Jetzt gehen die überzähligen Impfdosen nach Kanada und Mexiko. Ein solcher Anruf wäre ja eine bilaterale Abmachung, und bilaterale Geschäfte macht Angela Merkel nicht.

Es ist ein interessantes Gedankenspiel, wie ich finde. Wir haben im September Wahlen. Mit unserer Stimme entscheiden wir nicht nur über Wahlprogramme, sondern auch über den künftigen Regierungsstil.

Was suchen wir als Eigenschaften in einem Regierungschef? Er soll in schwierigen Momenten den Überblick behalten, klar. Er soll charakterlich integer sein und sich nicht von niederen Motiven wie Rachsucht oder einem zu großen Selbstdarstellungsdrang leiten lassen. Aber soll er uns auch durch Krisen führen können? Das ist die Frage.

Es gibt eine Aversion gegen das Führen. Wer die anderen nicht bei der Entscheidungsfindung mitnimmt und einbindet, wie es so schön heißt, gilt als Autist. Oder schlimmer noch: als autoritärer Knochen. Das sei Führungsstil von oben, so könne man heute nicht mehr leiten. Schon das Wort „Führung“ gilt als suspekt.

Der Vorwurf, jemand trete zu autoritär auf, ist schnell erhoben. Bei der „Bild“ geriet gerade der Chefredakteur in Schwierigkeiten, weil er seine Redakteure zu ruppig behandelt haben soll. Er habe eine „Kultur der Angst“ verbreitet, stand in den Mediendiensten.

Möglicherweise habe ich so lange in einer Kultur der Angst gelebt, dass sie mich verdorben hat. Mein erster Chef war Werner Funk. Funk hatte in der Branche den Spitznamen Kim Il Funk. Es soll vorgekommen sein, dass Redakteure weinend aus seinem Zimmer liefen, nachdem er ihnen gesagt hatte, was er von ihren Texten hielt. Funk habe mit wenigen Halbsätzen einen Menschen töten können, hat ein Ressortleiter des „Spiegel“ über ihn gesagt.

Nach Funk kam Stefan Aust. Auch Aust stand, was das Verständnis für die Befindlichkeiten seiner Untergebenen angeht, nicht im besten Ruf. Er sei nicht dialogfähig und agiere selbstherrlich, hieß es über ihn. Er war dann als Chefredakteur so erfolgreich wie keiner vor ihm, von Augstein abgesehen. Leider war es anschließend auch kein anderer mehr. Zwischendurch veranstalteten sie beim „Spiegel“ dann Seminare über „postheroische Führung“, wo den Ressortleitern von Psychologen beigebracht wurde, wie man auf andere eingeht. Sagen wir so: Der Auflage hat das nicht geholfen.

Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Führungsstil und Ent- scheidungsstärke. Das ist, wenn man so will, die dunkle Seite der Krise. Was das Impf en an geht, liegt jetzt eine Reihe von Staaten vorne, die an der Spitze Regierungschefs haben (oder bis Januar hatten), von denen es eben noch hieß, sie seien aus der Zeit gefallen: Donald Trump, Boris Johnson, Benjamin Netanjahu.

Ich glaube, das ist kein Zufall. Diese Leute sind darauf trainiert, ihren Instinkten zu vertrauen. Es macht auf sie auch wenig Eindruck, wenn man ihnen sagt, dass sie sich nicht kooperativ verhielten. Im Zweifel sehen sie das als Kompliment.

An Angela Merkel haben die Kanzlerbeobachter immer gerühmt, wie konsensual und inklusiv sie regiere. Ihre Stärke liegt bis heute im Moderieren, nicht im Gestalten.

Am Sonntag war die Kanzlermoderatorin bei „Anne Will“ zu sehen. 60 Minuten erlebte man eine Regierungschefin, die bei allem dabei ist, aber nie beteiligt.

Konsens ist die Fluchttür von Leuten, die auch nicht weiterwissen. Führung setzt voraus, dass man eine Idee hat, wohin man führen will. Wer sich vor jeder Entscheidung der Zustimmung der Gruppe versichert, muss keine Richtung vorgeben. Er folgt einfach dem Ratschluss der Mehrheit. Wenn es schiefgeht, war er oder sie wenigstens nicht alleine schuld. Angela Merkel hat es zur Meisterschaft gebracht, nicht einmal für die Ergebnisse verantwortlich zu sein, die sie selbst herbeimoderiert hat.

Die Aversion gegen Führung ist mittlerweile so weitverbreitet, dass auch Expertise allein nichts mehr zählt. Die Soziologie spricht von Symmetrieerwartung. Gemeint ist die Vorstellung, dass nur im Konsens getroffene Entscheidungen gute Entscheidungen sind, weshalb jede Form der Hierarchie im Grund abzulehnen ist.

Ich saß mit einem Professor in München zum Mittagessen zusammen, der mir davon berichtete, dass er nicht einfach sagen könne, was er in seinem Fach für wichtig hält und was für entbehrlich. Früher wurde bei einem Professor stillschweigend vorausgesetzt, dass er mehr weiß als seine Studenten und deshalb bestimmt, was sie zu lernen haben. Das ist vorbei. Autorität ist nicht mehr selbstverständlich, sie muss erst im Gespräch etabliert werden.

So zieht sich das durch die Professionen. Von einem guten Chefarzt wird erwartet, dass er allen das Gefühl gibt, sie bei seinen Entscheidungen eingebunden zu haben. Am Ende muss einer sagen, ob lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet werden oder nicht, dar an führt kein Weg vorbei. Aber bevor es so weit ist, tagt eine Ethikkommission, in der sich alle Beschäftigten an einem Tisch versammeln, um auf Augenhöhe darüber zu beraten, was zu tun ist.

„Unsere modernen Selbstverständigungsdiskurse sind infiziert von der Vorstellung, Asymmetrien, Machtunterschiede und sonstige Ungleichheiten seien falsch“, hat die Soziologin Irmhild Saake beobachtet. „Die Sätze, die der Arzt sagt, gelten als zu technisch und kalt. Die ,weibliche‘ Intuition der Krankenschwester gewinnt dagegen an Einfluss, weil ihre eher emotionalen, warmen Sätze jeder verstehen kann. Am glücklichsten sind alle, wenn der Arzt plötzlich wie eine Krankenschwester redet und von der Lebensenergie eines Patienten schwärmt.“

Wenn man die Symmetrieerwartung weiterdenkt, ist schon die Annahme, dass sich das gute Argument gegen das schlechte durchsetzt, zweifelhaft. Wer die Qualität von Argumenten bewertet und damit hierarchisiert, stellt ein Machtgefälle her, also genau das, was es zu vermeiden gilt.

„Gut möglich, dass unsere Gesellschaft auf diese Weise freier, gleicher, gerechter wird“, schreibt die Soziologin über das Leben auf Augenhöhe. „Ganz sicher wird unser Leben komplizierter.“ Vor der Krise hätte ich wie Saake gesagt: Womöglich werden wir auch ein wenig dümmer. Seit Corona weiß ich: In jedem Fall ist der postheroische Weg tödlicher.