Monat: Januar 2025

Die Pforte zur Hölle

Was lehrt der Fall Stefan Gelbhaar? Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen: Von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie vielleicht besser fernhalten

In Umfragen geben 13 Prozent der Deutschen an, sie würden für die Grünen stimmen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Weitere zwölf Prozent sagen, dass sie sich eine Wahl der Grünen grundsätzlich vorstellen könnten.

Was macht die Grünen für Wähler attraktiv? Der Einsatz für den Klimaschutz? Sicher. Der Kampf für Gleichberechtigung und Minderheitenrechte? Auch das. Aber das eigentliche Versprechen ist ein anderes. Dass es in der Gesellschaft menschlich zugehe, dass nicht Neid und Missgunst regieren, sondern Anstand und Ehrlichkeit, das ist das wahre Angebot.

So steht es auch auf den Plakaten. Wo die anderen mehr Rente oder günstigere Mieten in Aussicht stellen, prangt bei den Grünen einfach das Wort „Zusammen“. „Ein Mensch. Ein Wort“, das ist der Satz, mit dem Robert Habeck und Annalena Baerbock für sich werben.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind 48 Jahre alt, mit zwei Kindern, seit sieben Jahren sitzen Sie im Deutschen Bundestag. Wenige Tage vor der für Sie entscheidenden Abstimmung, in der über den Listenplatz für die nächste Bundestagswahl befunden wird, tauchen Gerüchte auf, Sie hätten sich Frauen in ungebührlicher Weise genährt.

Es gibt nichts Fassbares, keine Namen oder konkrete Angaben, nur allgemeine, dazu anonyme Anschuldigungen. Aber das reicht, um Ihnen den Rücktritt nahezulegen. Sie müssten zurückziehen, werden Sie aus der Spitze der Partei bedrängt, dazu gäbe es keine Alternative.

Sie sind wie vom Donner gerührt, sie können sich auf alles keinen Reim machen. Dann steigt das Fernsehen ein. Und die Anschuldigungen werden immer wilder. Es heißt, sie hätten sich eine Frau gefügig gemacht, indem sie diese mit K.-o.-Tropfen betäubt hätten. Einer anderen Frau sollen Sie gegen ihren Willen an den Busen gefasst, einer weiteren einen Kuss aufgezwungen haben. Woher die Journalisten die Informationen haben? Sie können nur raten. Bis eben galten Sie als einer der Stars Ihrer Partei, Sie haben eines der wenigen Direktmandate gewonnen. Aber binnen weniger Tage bricht alles zusammen.

Wohin Sie sich auch wenden: Niemand ist bereit, sich für Sie zu verwenden. Die Bundestagsfraktion umfasst 117 Abgeordnete, jeder kennt jeden. Aber auch hier regt sich keine Hand zu Ihrem Schutz. Es gibt allenfalls ein verlegen genuscheltes Wort des Bedauerns, das ist es.

Sie bitten darum, dass man Ihnen die Chance einräumt, sich zu verteidigen. Aber das wird Ihnen verwehrt. Genauere Angaben, was Ihnen vorgeworfen wird? Das sei leider aus Rücksicht auf die Opfer nicht möglich. Sie ziehen einen Anwalt bei und strengen eine Strafanzeige wegen Verleumdung an. Aber es nützt nichts. Am Ende nimmt man ihnen auch noch das Direktmandat.

Eigentlich ist längst entschieden, dass Sie wieder für Ihren Wahlkreis antreten werden. Aber Ihre Gegner setzen eine Wiederholung der Abstimmung an. Die Gegenkandidatin erklärt, sie wolle, dass die Partei auch für Frauen sicher sei. Es klingt, als seien Sie ein gefährlicher Triebtäter, den man unschädlich machen müsse. Sie haben keine Chance.

Ein Mensch, ein Wort? Der Mann, der seinen Ruf und sein Amt verlor, heißt Stefan Gelbhaar. Seit ein paar Tagen kennt ihn die halbe Republik. Denn das alles war erfunden: die Geschichten über den erzwungenen Beischlaf, die aufgedrängten Küsse, der Griff an den Busen. Die wichtigste Belastungszeugin hat es nie gegeben, sie ist die Erfindung einer Parteikollegin. Die Frau, die sich das alles ausgedacht hat: eine Bezirkspolitikerin vom linken Flügel der Partei, gut vernetzt, wie es heißt.

Gibt es einen vergleichbaren Fall in der deutschen Parteiengeschichte? Ich kann mich an keinen erinnern. Dass man in der Politik mit Gerüchten und Unterstellungen arbeitet, um Konkurrenten zu Fall zu bringen, das hat es immer wieder gegeben. Aber eine Verleumdung, die eine Karriere zerstört, ohne dass jemand aus der Parteispitze auch nur eine Nachfrage stellt: Das ist einmalig. Auch einmalig beängstigend.

Viel war in den vergangenen Tagen von den eidesstattlichen Erklärungen die Rede, die vorgelegen hätten, so wollte man den Vorwürfen Glaubwürdigkeit verleihen. „Wer eine falsche stattliche Erklärung abgibt, macht sich strafbar“, hieß es in der ersten Stellungnahme der grünen Parteispitze – so steht es auch auf der Webseite des RBB, der die Anschuldigungen in Umlauf brachte.

Auch das gehört zum Mummenschanz, mit dem Gelbhaar zur Strecke gebracht wurde. Bei Journalisten abgegebene Versicherungen an Eides statt kennt das Strafrecht nicht, sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Wie eine Nachfrage des „Tagesspiegel“ ans Licht brachte, hat der RBB sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Identitäten der angeblichen Zeugen zu prüfen. Eine eidesstattliche Versicherung ohne Geburtsdatum und ladefähige Adresse: Das gibt es nur in der Berliner Welt.

Muss man noch erwähnen, dass die personellen Verflechtungen der Redaktion mit der grünen Partei außergewöhnlich eng sind? Man kennt sich, man schätzt sich. Der heutige Wahlkampfmanager der Grünen, Andreas Audretsch, der den Machtkampf gegen Gelbhaar für sich entschied: ein ehemaliger RBB-Redakteur. Der Ehemann der Berliner Spitzenkandidatin für die Bürgermeisterwahl Bettina Jarasch: war unter anderem Leiter der Abteilung „Aktuelle Magazine“.

Es ist nicht ganz klar, was der Ombudsstelle der Grünen vorlag, als sie den Stab über Gelbhaar brach. Waren es die Vorhaltungen, die dann auch beim RBB landeten und die, wie man jetzt weiß, größtenteils auf falschen Vorwürfen beruhten? Lagen ihr weitere Aussagen vor? Und wenn ja, waren diese ebenfalls anonym oder hat sich jemand im Bundesvorstand mal die Mühe gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen? Dem Beschuldigten gegenüber wurde die Partei nie konkret, über Andeutungen ging es nie hinaus.

Dem „Business Insider“ gegenüber hat Gelbhaar geschildert, wie ihm die Situation zugesetzt hat. Wie er nächtelang wach lag und darüber grübelte, was vorgefallen sein könnte. Wie er sich mit Beruhigungsmitteln runterzubringen versuchte. „Das Ganze zieht enorm Kraft, es macht einen fertig. Man weiß, da ist nichts dran, aber man sucht trotzdem nach einer Erklärung. Wo kann was so krass missverstanden worden sein, das ist ein zielloses Selbstgespräch. Es zermürbt einen.“

Und nun? Nun will es keiner gewesen sein. Die Schuld trägt aus Sicht der Partei allein der RBB und die bis eben noch für ihre „intersektionale, feministische Perspektive“ geschätzte Bezirkspolitikerin, die den Stein ins Rollen brachte.

Der grüne Kanzlerkandidat zog es zunächst vor, sich gar nicht zu äußern. Wäre man Spötter, würde man sagen, er brauchte halt Zeit, seine Gedanken zu sortieren, um zu überprüfen, wer er ist und was wir sein können. Die Außenministerin erklärte, als Außenministerin könne sie zu dem Fall gar nichts sagen, es gebe gerade andere Herausforderungen weltweit.

Das Tor zur Hölle hat sich nicht durch Zufall geöffnet. Der Verzicht auf die Unschuldsvermutung ist bei den Grünen kein Versehen, es ist für sie Ausdruck von Fortschrittlichkeit. Die Parteispitze hat sich ausdrücklich von dem Prinzip verabschiedet, Anschuldigungen zu überprüfen, bevor man aus ihnen Konsequenzen zieht. „Wir stellen die Betroffenengerechtigkeit in den Vordergrund. Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend“, erklärt die Ombudsstelle, bei der alle Verfahren landen, ihr Selbstverständnis.

Und daran soll sich auch nichts ändern. Eine feministische Partei könne sich keine Unschuldsvermutung leisten, erklärte die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, in Verteidigung der Parteilinie. Die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, aber die Grünen seien kein Gericht, sondern eine politische Organisation. Widerspruch vom grünen Kanzlerkandidaten? Keiner, jedenfalls keiner, den man vernehmen konnte. Lassen Sie es uns vielleicht so sagen: Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen – von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie besser fern halten.

© Sören Kunz

Schlangenölverkäufer

Viele haben sich aufgeregt, dass die Grünen ein Habeck-Bild auf das Siegestor in München projizierten. Dabei lautet die Frage: Warum nicht gleich die Feldherrnhalle? Das hätte doch bei dem Wahlkampf viel näher gelegen

Die Deutschen müssen ein glückliches Volk sein. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man gewinnt, wenn man sich den Wahlkampf der Regierung ansieht.

Sicher, hier und da klemmt es. Das eine oder andere könnte besser laufen. Aber im Prinzip ist das Land auf dem richtigen Weg. Deshalb kann man sich auch vor allem den Gefahren zuwenden, die außerhalb lauern, jenseits der Grenzen dieses kleinen Paradieses.

Da ist der amerikanische Präsident, dieser Berserker, der mal eben die Grenzen verschieben will. Grönland zu Amerika? Nein, das können wir ihm nicht durchgehen lassen. Also stellt sich der Kanzler ins Kanzleramt und erinnert Trump daran, dass das Völkerrecht für jeden gelte. So steht es dann anderntags auch in den Zeitungen: Scholz weist Trump in die Schranken.

Dann ist da natürlich Elon Musk, dieser überdrehte Kindskopf, von dem es heißt, dass er unsere Demokratie zerstören wolle. Als die „Welt“ neulich einen Gastbeitrag des Milliardärs veröffentliche, stand im „Spiegel“ zu lesen, das sei ein Tabubruch.

Ich habe mir unter Tabubruch bislang etwas anderes vorgestellt. Dass Jürgen Klopp zu Red Bull wechselt zum Beispiel, das fällt für mich unter Tabubruch. Aber die Veröffentlichung eines Gastkommentars des reichsten Mannes der Welt in einer deutschen Tageszeitung? Anderseits: Was verstehe ich schon von Tabus, nicht wahr? Deshalb lesen sich meine Kolumnen ja auch, wie sie sich lesen.

„Die deutsche Sprache ist die tiefste, die deutsche Rede die seichteste“, schrieb Karl Kraus. Er kannte die Grünen nicht. Hätte er sie gekannt, hätte er noch ganz anders geurteilt.

Robert Habeck hat Auskunft darüber gegeben, was aus seiner Sicht die Gesellschaft zusammenhält und was nicht. Was sie nicht zusammenhält, sind Fakten – sagt Habeck. „Wir kommen nicht weiter, meine ich, wenn wir uns nur die Zahlen um die Ohren hauen, der eine sagt drei, der andere sagt vier, und der Nächste sagt: Wenn der vier sagt, sage ich fünf, und die Wahrheit ist aber dreieinhalb. Das bindet noch nicht eine Gesellschaft zusammen. Wir sind ganz wesentlich das Land, das wir uns sagen, das wir sein wollen, über das wir reden“, erklärte er vor ein paar Tagen in einem Interview.

Auf X schrieb jemand, der Auftritt erinnere ihn an seinen Gemeinschaftskundelehrer auf Abifahrt nach drei Bieren (alkoholfrei). Wer viel redet, liegt auch mal daneben, ließe sich anführen. Aber bei Habeck hat das Prinzip.

Wie sein Vorsatz für 2025 aussieht? „Kanzler werden, Mensch bleiben“. Als ich einem Freund in den USA von dem Plakat erzählte, dachte der, ich würde einen meiner üblichen Scherze machen. Zwei Tage später rief er mich an und sagte, das Plakat gäbe es ja wirklich, er habe es gerade im Netz gesehen.

Viele haben sich darüber aufgeregt, dass die Grünen ein überlebensgroßes Habeck-Bild auf das Siegestor in München projizierten. Ich habe mich gefragt: Warum nicht gleich die Feldherrnhalle? Das hätte doch viel näher gelegen.

Im Wahlkampf kommt ein Volk zu sich selbst. Hier bespricht es, was wichtig ist und was nicht so wichtig. So weit die Theorie. Auch die SPD legt eine Form der Unernsthaftigkeit an den Tag, die in merkwürdigem Kontrast zur Lage steht. Wenn der Kanzler Wachstum verspricht, und zwar „mit Sicherheit“, so als müsse ein Regierungschef nur den Hebel umlegen, damit die Sache wieder läuft, weiß man, dass sie sich bei den Sozialdemokraten von jeder Seriosität verabschiedet haben.

Im 19. Jahrhundert gab es die Schlangenölverkäufer, die übers Land zogen und den Leuten Wundertinkturen anboten, die alle Malaisen über Nacht zu heilen versprachen. Zur Ehrenrettung dieser Wunderheiler muss man sagen, dass sie immerhin nicht den Anspruch erhoben, das Land zu regieren.

Die Lage ist bedrohlich, anders kann man es nicht sagen. Deutschland ist gerade aus der Liste der 20 reichsten Nationen geflogen. Der Geschäftsklimaindex ist im Dezember auf den tiefsten Stand seit vier Jahren gesunken. Wenn kein Wunder geschieht, werden wir 2025 das dritte Jahr ohne Wachstum erleben. Wer einen Job hat, tut gut daran, an ihm festzuhalten. Noch sieht man den Abschwung nicht richtig auf dem Arbeitsmarkt. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er dort durchschlägt.

Man kann sich auch nicht damit herausreden, dass es im Rest von Europa ja nicht besser aussähe. Die Rahmenbedingungen sind überall nahezu gleich, aber nur Deutschland taumelt von einem Rezessionsmonat zum nächsten. „Überall läuft es, außer in Deutschland“: Das war die Überschrift in der „Süddeutschen Zeitung“, die nun wirklich nicht in Verdacht steht, ein neoliberales Kampfblatt zu sein.

Gut, die Bürokratie gedeiht. Allein im Regierungsapparat gab es einen Aufwuchs von 1600 Beamtenstellen, ein Plus von acht Prozent. Insgesamt stiegen die Personalkosten aller Bundesbehörden unter der Ampel auf 43,5 Milliarden Euro an, das ist gut ein Fünftel mehr als zu Regierungsbeginn. Aber ob auf Dauer ein Land funktioniert, in dem niemand mehr produktiv tätig ist, weil alle nur noch einander verwalten? Das wäre das Deutschland-Experiment.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe verglich die Wirtschaftslage in einem aufrüttelnden Aufsatz für die „FAZ“ mit der Spätphase der DDR. Dort wuchs am Ende auch nur noch der Staat. Tatsächlich ist ein hypertrophes Staatswachstum nicht Zeichen der Stärke, sondern im Gegenteil ein Zeichen des Niedergangs, wie der Historiker belegen kann. Doch eigenartig, in den Reden vieler Politiker kommt das nicht vor. Oder wenn, dann als Schicksal, das man halt ertragen muss.

Die Grünen haben sich komplett auf das Gefühlige verlegt. „Zusammen“ und „Zuversicht“ sind die Schlagworte, mit denen sie antreten. Im letzten Wahlkampf versprachen sie immerhin noch eine funktionierende Bahn und ein Internet, auf das man sich verlassen kann. Okay, wir wissen, wie das ausgegangen ist. Deshalb nun der sanfte Robert als Wahlkampfhit.

Wäre ich bei den Grünen, würde ich es nicht anders machen. Wenn ihr Kandidat mal konkret wird, wie mit dem Vorschlag, Sozialabgaben auf Kapitalerträge zu erheben, muss die gesamte Parteispitze ausrücken, um die Sache zurechtzubiegen. Wer im Wolkigen bleibt, braucht es mit den Fakten nicht so genau nehmen. Das ist ein unbestreitbarer Vorteil.

Wie wird der nächste Kanzler heißen? Natürlich Olaf Scholz. Sagt Olaf Scholz. Die große Mehrheit der Deutschen meint etwas anderes, aber das bekümmert den Kanzler nicht. Wenn die Wähler am Wahltag aufgefordert sind, sich zwischen Friedrich Merz und ihm zu entscheiden, werden mehr Leute für ihn als für den Herausforderer stimmen. So verkündet es Scholz.

Zumindest in der SPD scheint es genug Leute zu geben, die das glauben. An der Basis macht sich leichte Panik breit. Wenn sich die Umfragen bewahrheiten und die SPD bei 15 Prozent landet, muss ein Drittel der Abgeordneten seinen Platz räumen. Und nicht jeder, der dann ohne Mandat dasteht, hat eine gut gehende Anwaltskanzlei, in die er zurückkehren kann. Aber an der Parteispitze: kein Zucken.

Das Ganze nötigt mir schon wieder Respekt ab. Einfach sein Ding durchziehen. Sich nicht darum scheren, was die andern sagen. Ich kenne das von dem verhaltensauffälligen Kind aus der Nachbarschaft. Das lebt auch in seiner ganz eigenen Welt.

Historiker Plumpe erinnerte zum Ende seines „FAZ“- Textes an zwei Grundsätze, die er bei Gottfried Benn gefunden hatte: „1. Erkenne die Lage. 2. Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“

Wir haben das umgedreht: Wir gehen von den Parolen aus und halten sie für Bestände.

Die Meute

Wir wiegen uns im Glauben, wir wären als Mensch zivilisierter als unsere Vorfahren. Die Zeiten, als wir uns zusammenrotteten, um Jagd auf Einzelne zu machen, lägen hinter uns. So betrügen wir uns gern selbst

Der Universalgelehrte und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti war zeit seines Lebens vom hypnotischen Sog fasziniert, den das Aufgehen in der Menge auf den Menschen ausübt. „Masse und Macht“ heißt sein Hauptwerk, an dem er mit Unterbrechungen fast 30 Jahre arbeitete.

Ein Kapitel widmet sich der „Hetzmasse“, wie Canetti die Meute nannte, die erst ablässt, wenn sie ihr Opfer zur Strecke gebracht hat. „Die Hetzmasse bildet sich auf ein rasch erreichbares Ziel“, heißt es dort. „Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist ihr auch nah. Mit einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los; es ist unmöglich, sie darum zu betrügen.“

Jetzt hat die Meute also den Journalisten Thilo Mischke zu Fall gebracht. Seit die ARD verkündete, dass sie dem mehrfach prämierten Fernsehmann die Moderation der Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ übertragen wolle, setzte eine Gruppe „Kulturschaffender“ alles daran, ihn zu Fall zu bringen. Am vergangenen Samstag knickte der Sender ein und erklärte, Mischke sei raus, man werde sich nach einem anderen Moderator umsehen.

Das Vergehen des Reporters? Er hat vor 15 Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel „In 80 Frauen um die Welt“. Außerdem hat er in einem Podcast erklärt, dass Männer biologisch gesehen Vergewaltiger seien, eine These, für die man als Kulturchefin beim „Spiegel“ sofort zwei Seiten freigeräumt bekommt. Ach ja, und er hat den Namen einer Gesprächspartnerin falsch betont. Das reichte, um zur Jagd auf ihn zu blasen.

Mischke hat niemanden unsittlich berührt. Er hat keine Frau durch anzügliche Bemerkungen in Verlegenheit gebracht oder seinen Status ausgespielt, um eine Kollegin herumzukriegen. Alles, was man ihm zu Lasten legen konnte, war loses Reden.

In dem offenen Brief, die seine Absetzung verlangte, hieß es, er befördere den Sexismus in der Gesellschaft. Das ist das Argument, auf das sich die Erstunterzeichner verständigten. Aber das ist erkennbar Unsinn. Mischkes Buch ist so alt, dass es nicht einmal als E-Book mehr verfügbar ist. Wie soll ein Text, den keiner mehr lesen kann, den Sexismus befördern?

Tatsächlich hat sich Mischke eines viel simpleren Vergehens schuldig gemacht: Er hat den Verhaltenskodex der Leute, die ihn verfolgen, missachtet. Er hat sich über ihre Benimm- und Sprachregeln hinweggesetzt – das war unverzeihlich.

Stilfragen sind auch immer Fragen der Exklusion. Mischke ist der seltene Fall eines Journalisten, dessen Karriere nicht über die Journalistenschule, sondern über Populärorgane wie „Playboy“, „GQ“ und ProSieben führte. Der 43-Jährige kommt aus dem proletarischen Osten und damit einer Welt, die man in den Kreisen, in denen man nun zum Halali blies, bestenfalls vom Hörensagen kennt. Darüber kann auch die Selbstproletarisierung als „Kulturschaffende“ nicht hinweghelfen.

Nichts triggert die Meute so verlässlich wie die Erkenntnis, dass einer nicht dazugehört. Das funktioniert wie vor 500 Jahren. Das Opfer steht immer am Rand, es ist der Außenseiter, der entweder als zu privilegiert oder als zu glaubensschwach oder als politisch nicht verlässlich genug gilt. Da kann sich einer noch so sehr bemühen, den richtigen Ton zu treffen, um nicht aufzufallen. Die Meute riecht sofort, ob er einer der ihrigen ist oder eben doch nur ein Parvenu.

Selbstverständlich hält man in dem Milieu, aus dem Mischke stammt, einen Titel wie „In 80 Frauen um die Welt“ nicht für degoutant, sondern für lustig. Zumal wenn am Ende der Weltreise die große Liebe steht. Hier käme auch niemand auf die Idee, von einem Moderator grundsätzlich als „Moderator*in“ zu sprechen, weil man nicht von Außen beurteilen könne, welches Geschlecht jemand als das seine bevorzuge.

Am Ende ist es die Feigheit der Institutionen, die der Meute den Triumph ermöglicht. Die meisten, die gelobten, niemals mehr einen Fuß in eine „Titel, Thesen, Temperamente“-Sendung zu setzen, würden nie in die Verlegenheit geraten, auch nur in die Nähe einer Erwähnung zu kommen. Wer hätte je von Zara Zerbe, Luca Mael Milsch oder Fikri Anıl Altıntaş gehört?

Und die drei, vier Namen, die man kennt, gehören zu den üblichen Verdächtigen, die immer dabei sind, wenn es darum geht, sich aufzublasen. Der Autor Saša Stanišić, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – Leute, die alles dafür geben, dass ihr Name in der Zeitung steht, und für die man früher, als der Tag noch nicht mit einem Blick über die Schulter begann, das schöne Wort Arschkrampe verwendet hätte.

Es wäre so einfach, man müsste nur für ein paar Tage die Neven behalten. Am Ende hat die Petition „Verhindert Thilo Mischkes Moderation von ‚Titel, Thesen, Temperamente‘“ nicht einmal das selbst gesteckte Ziel von 5000 Unterschriften erreicht, sondern blieb bei 3600 stecken. Aber zu solcher Gelassenheit sind sie bei der ARD nicht in der Lage, das ist die politische Dimension. Die Journalistin Wiebke Hollersen hat das klar erfasst, als sie den Kotau der Programmdirektion in der „Berliner Zeitung“ eine „Katastrophe“ nannte: „Ein paar Tausend Menschen können bestimmen, wer in der ARD nicht moderieren darf“, das sei das Beängstigende.

Unter den Unterzeichnern findet sich auch die Person, die in einer „Taz“-Kolumne Polizisten auf den Müll wünschte. Ich hätte gedacht, dass man vorsichtiger urteilt, wenn man selbst einmal in die Mühle geraten ist. Dass man sich nicht zum Unterschriftenclown macht, wenn man als Autorin ernst genommen werden will. Doch da habe ich mich geirrt. Am Ende ist diesen Leuten das Ansehen, das sie in ihrer kleinen Welt genießen, wichtiger als jede Integrität.

Wenn die Annika anruft und um Unterstützung bittet, mag man nicht Nein sagen. Es könnte ja darauf hinauslaufen, dass die Annika in Umlauf bringt, dass auf die Hengameh auch kein Verlass mehr ist. Und dann, Gott bewahre, in ihrem Podcast ein paar abträgliche Bemerkungen fallen lässt. Der findet zwar praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil sich kein normaler Mensch für ihre feministische Esoterik interessiert. Aber wer weiß, einer könnte es ja doch mitbekommen, und davor hat man Angst.

Das alles ist so arm und eng, dass man weinen möchte. Aber so gesehen passt es dann wiederum zur Kulturwelt der ARD, in der man sich nicht an dem orientiert, was die Zuschauer interessieren könnte, sondern an dem, was die „Community“ denkt. Das steht in der Erklärung, mit der die ARD Mischke beerdigte, wörtlich so: Die Diskussion über die Personalie stehe den Themen im Weg, die „wir gemeinsam mit der Community diskutieren möchten“.

Vielleicht sollte man sich die Liste der Unterzeichner aufbewahren, damit man weiß, von wem man sich besser fernhalten sollte, wenn man sich sein Vertrauen in die Menschen bewahren will. Man muss nur die 100 Erstunterzeichner auf Google suchen, dann sieht man das ganze Elend. Es sind erstaunlich viele frühzeitig gealterte Menschen, die schon mit 35 solch tiefe Magenfalten um den Mund haben, als litten sie an einem furchtbaren Ulkus. Niedertracht macht hässlich, innen und außen.

Canetti kannte sich aus mit den Menschen. Deshalb traute er ihnen auch nicht. Der Einzelne mag verträglich sein, sein Verderben ist die Zusammenrottung. „Der Abscheu vor dem Zusammentöten ist ganz modernen Datums. Man überschätze ihn nicht“, schrieb er in „Mensch und Masse“. „Auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrichtungen teil, durch die Zeitung. Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man sitzt in Ruhe bei sich und kann unter hundert Einzelheiten bei denen verweilen, die einen besonders erregen.“

Und weiter: „Nicht die leiseste Spur von Mitschuld trübt den Genuss. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat. Aber man weiß mehr darüber als in früheren Zeiten, da man stundenlang gehen und stehen musste und schließlich auch nur wenig sah.“

Denn auch das gehört ja zur traurigen Wahrheit: Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit im „Spiegel“, in der „Zeit“ oder der „Taz“ wäre die moderne Hetzmeute machtlos. Dann würde kaum jemand in der großen Welt von ihren Rasereien Notiz nehmen und alles würde da enden, wo es seinen Anfang nahm: in der Einsamkeit des unerfüllten Lebens.

© Michael Szyszka