Monat: November 2019

In der Kältekammer

Sind Frauen in der Politik ihren männlichen Konkurrenten überlegen? Jedenfalls sind sie psychisch robuster, wie es scheint. Viele Politiker sind erstaunlich empfindlich, was gerade bei der Bewerbung ums Kanzleramt misslich ist

Wolfgang Schäuble hat im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ ausführlich über das Leben als Politiker mit Behinderung gesprochen. Es ist jetzt 29 Jahre her, dass ihn ein verwirrter Mann bei einer Wahlkampfveranstaltung mit zwei Schüssen aus einer Pistole niederstreckte.

An einer Stelle des Interviews kommt einer seiner Gesprächspartner auf die Äußerung des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber zu sprechen, ein Behinderter könne nicht Kanzler sein. Die unausgesprochene Frage ist, ob ihn das nicht furchtbar gekränkt habe. Aber Schäuble antwortet, dass er das für eine zulässige Frage gehalten habe: „Ich fand das legitim. Wer so ein hohes Amt hat, muss ertragen, dass diskutiert wird, ob er gesundheitlich, kräftemäßig dazu in der Lage ist.“

Es gilt als unfein, nach der Belastbarkeit eines Politikers zu fragen. Es heißt, das gehe niemanden etwas an, nur ihn und seine Familie, aber die meisten Wähler würden eben gern schon vor einer Wahl wissen, ob der Mann oder die Frau, der sie die Entscheidungsgewalt über ihre Zukunft anvertrauen sollen, der Aufgabe psychisch und physisch gewachsen ist. Bundeskanzler ist nicht nur der wichtigste Posten, den es in Deutschland zu vergeben gibt, er ist auch mit Abstand der härteste.

Kein Amt lässt einen schneller altern. Man sitzt und isst zu viel. Der dauernde Schlafentzug führt zu einer Müdigkeit, die auch nach zwei, drei guten Nächten nicht weichen will. Für Ausgleichssport fehlt die Zeit. Außerdem muss man sich ständig ärgern, über freche Journalisten, unbotmäßige Abgeordnete und Heckenschützen aus den eigenen Reihen.

Die einzig verlässliche Entspannung bietet der Alkohol, weshalb alle Kanzler am Abend kräftig dem Wein zusprachen. „Das Land muss mit der Leber regiert werden“, hat Gerhard Schröder einmal in schöner Offenheit bekannt. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, auch nach zwei Flaschen Barolo morgens ohne Ausfälle im Bundestag zu stehen, da konnte der Kopf noch so schmerzen.

Es mag herzlos klingen, aber der Spießrutenlauf, den Annegret Kramp-Karrenbauer durchlebt, ist auch ein Test auf ihre Belastungsfähigkeit. In der Zumutung liegt, wenn man so will, die Weisheit des Wahlkampfs. Wer die mörderischen Monate der Kandidatenschau hinter sich gebracht hat, der hat bewiesen, dass ihn so schnell weder kleinere noch größere Krisen aus der Bahn werfen können.

Bislang wurde der CDU-Vorsitzenden nichts geschenkt, das kann man, glaube ich, ohne Übertreibung sagen. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht etwas Abträgliches über sich in der Zeitung lesen muss. Nichts, was sie tut oder vorschlägt, genügt den Kritikern – alles, was sie anfasst, wird als voreilig, undurchdacht oder aussichtslos bewertet.

Wenn man sich mit ihren Leuten unterhält, spürt man die Erschöpfung. „Es gibt schlimme und es gibt sehr schlimme Tage“, sagt einer aus ihrem Team. Ein schlimmer Tag ist, wenn die Kanzlerin entscheidet, dass in ihrer Maschine kein Platz mehr ist, um gemeinsam nach New York zu fliegen. Wenn er mit dieser Meldung vom Deutschlandfunk auf den Morgen eingestimmt wird, weiß der Mitarbeiter im Adenauer-Haus, dass die Woche gelaufen ist. Nach den sehr schlimmen fragt man besser gar nicht.

Ich habe darauf gewettet, dass Annegret Kramp-Karrenbauer von ihrer Partei nicht als Kanzlerkandidatin aufgestellt wird. „Eine Frau will nach unten“, war eine Kolumne überschrieben. Aber ich merke, wie meine Sympathie wächst. Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass sie die Richtige für das Kanzleramt ist, aber mir imponiert, wie sie kämpft.

Die meisten Politiker neigen bei anhaltender Kritik dazu, sich im Kreis der Vertrauten zu verschanzen. Wer das Gefühl hat, dass die ganze Welt nur auf den nächsten Fehler wartet, geht normalerweise dazu über, noch vorsichtiger zu sein. Am Ende klingt dann jede Rede so, als käme sie aus einem Sprechautomaten.

Annegret Kramp-Karrenbauer geht einen anderen Weg. Statt sich ins Unverbindliche zu flüchten, fordert sie ihre Kritiker mit Ideen heraus. Ihr Vorschlag zur Errichtung einer Sicherheitszone in Syrien war vielleicht nicht besonders durchdacht, in jedem Fall aber zeugte er von Kampfgeist.

Vielleicht sind Frauen in der Spitzenpolitik aus härterem Holz geschnitzt. Es gibt dazu keine verlässlichen Zahlen, wie auch? Die Gruppe, die man vergleichen könnte, ist zu klein. Aber mein Eindruck ist, dass Politikerinnen ihren männlichen Konkurrenten psychisch überlegen sind, jedenfalls diejenigen, die es nach ganz oben geschafft haben.

Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass Frauen in der Politik gefühlloser sind, aber sie lassen sich zumindest weniger anmerken. Angela Merkel hat ja auch deshalb viele Männer verrückt gemacht, weil sie immer die Gleichmut in Person war, egal, was um sie herum geschah. Die Kanzlerin käme auch nie auf die Idee, Journalisten aus dem Begleittross entfernen zu lassen, weil sie etwas Gemeines geschrieben haben. Eine solche Blöße würde sie sich nicht geben.

Männer auf der anderen Seite sind oft erstaunlich wehleidig. Die SPD zum Beispiel ist mit einer besonders hohen Anzahl an Mimosen geschlagen. Frank-Walter Steinmeier ließ einmal seine Teilnahme an einem „Spiegel“-Fest absagen, weil er sich über eine Kolumne von mir geärgert hatte. Ich hatte mich über eine Biografie lustig gemacht, die in der Festwoche über ihn erschienen war, das reichte, um tödlich beleidigt zu sein. Auch Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel sind enorm empfindlich. Ein falsches Wort, und sie reden nie wieder mit einem.

Bei Friedrich Merz, ich muss es gestehen, hätte ich ebenfalls Zweifel, ob er den psychischen Anforderungen an den Job des Kanzlers gewachsen ist. Ich schätze Merz wegen seines scharfen Verstands und der Fähigkeit zur unnachsichtigen Analyse. Aber er ist nach allem, was ich weiß, ein eher ehrpussliger Mensch, der Kritik an seiner Person nicht so leicht wegsteckt. Die Etagen der Wirtschaftswelt, in denen sich Merz seit Jahren bewegt, sind eine Teppichwelt, in der einen das offene Wort nur gedämpft erreicht. Das macht die Umstellung nicht leichter.

Auch das ist ja das Kanzlerleben: eine endlose Abfolge von Schmähungen, Abwertungen und bösartigen Artikeln, in denen im Detail ausgebreitet ist, warum man der Situation nicht gewachsen sei. Viele, die das Amt innehatten, retteten sich irgendwann in eine Ersatzwelt, in der sie nur noch das erreichte, was sie hören wollten oder von dem die Zuarbeiter befanden, dass der Kanzler es hören solle.

Wer nur noch hört, was ihm gefällt, glaubt auch nur noch, was er ohnehin schon weiß. Das mag hilfreich für die Stabilisierung der eigenen Psyche sein – für das Land, das man regiert, ist der Realitätsverlust misslich. Je früher dieser Verlust einsetzt, desto misslicher wird es.

Notstands-Rhetorik

Im linken Lager heißt es jetzt, man müsse AfD-Wähler „ausgrenzen, ächten, kleinhalten, ihnen das Leben schwer machen“. Was als Kampfansage gemeint ist, ist in Wahrheit eine Kapitulationserklärung

Vor ein paar Tagen setzte der „Spiegel“- Redakteur Hasnain Kazim auf Twitter eine Empfehlung zum Umgang mit AfD-Wählern ab. „Es geht nicht darum, AfD-Wählerinnen und AfD-Wähler zu, erreichen’“, schrieb er. „Es geht darum, sie auszugrenzen, zu ächten, sie kleinzuhalten, ihnen das Leben schwer zu machen, sie dafür, dass sie Neonazis und Rassisten den Weg zur Macht ebnen wollen, zur Verantwortung zu ziehen.“ 448 Menschen versahen den Beitrag spontan mit einem Herzen.

Am Tag zuvor hatte der Deutschlandfunk einen Kommentar gesendet, in dem der Kommentator seine Zuhörer aufforderte, mehr Hass auf AfD-Anhänger zu entwickeln. „Wir müssen wieder hassen lernen – und zwar richtig“, empfahl er. „Wer glaubt, dass Hass generell von gestern ist, der glaubt auch an die Unumkehrbarkeit der Geschichte und der demokratischen Zivilisierung. Dass dieser Glaube ein Irrglaube ist, wenigstens diese Einsicht sollte sich inzwischen durchgesetzt haben.“

Ich gebe die beiden Beiträge wieder, weil ich glaube, dass sie einen Wendepunkt markieren. Vor Kurzem bekam man für ein Buch mit dem Titel „Gegen den Hass“ noch den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, heute gilt man damit in einem Teil der Szene als Verräter. Sicher, man kann jetzt einwenden: Wer sind schon Hasnain Kazim oder Jens Balzer, der Mann im Deutschlandfunk? Aber das hieße, die veränderte Stimmungslage zu unterschätzen. Wenn ich mich nicht sehr täusche, stehen die zitierten Texte für eine Haltung, die sich links der Mitte inzwischen großer Zustimmung erfreut.

In Wahrheit sind die Aufrufe zu mehr Hass ein Eingeständnis des Scheiterns. Wer davon träumt, sechs Millionen Wähler zu ächten, hat den politischen Kampf aufgegeben, wäre meine Schlussfolgerung. So jemandem bleibt nur, den „Nazi-Notstand“ auszurufen, so wie es die Stadt Dresden gerade getan hat. Wenn man die Rechte zu einer Art Naturgewalt erklärt, vergleichbar der Erderwärmung, kann am Ende nur noch eine höhere Macht helfen, nicht mehr die Politik. Ist für eine politische Bewegung eine größere Bankrotterklärung denkbar?

Seit es die neue Rechte gibt, ringt man links der Mitte mit der Frage, was man tun sollte, um ihren Aufstieg zu verhindern. Man hat jeden als Nazi oder Nazi-Sympathisanten bezeichnet, der nicht schnell genug „Antifa“ rufen konnte. Man hat auf Buchmessen Quarantänezonen eingerichtet, um unerwünschte Verlage zu isolieren. Man hat Podien boykottiert und fleißig Blocklisten angelegt.

Selbst der Kabarettist Dieter Nuhr gilt in bestimmten Kreisen inzwischen als so rechts, dass man sich mit ihm besser nicht mehr an einen Tisch setzt, wie ich neulich bei einer Veranstaltung erfahren habe. Was die Selbstvergewisserung angeht, mögen die Ächtungsversuche erfolgreich gewesen sein. Insofern sie aber darauf abgezielt haben sollten, die Rechte kleinzuhalten, muss die Strategie als spektakulär gescheitert gelten.

Die Unbeholfenheit der Linken im Umgang mit der Konkurrenz resultiert aus einem Missverständnis. Bis heute hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass es sich bei den Anhängern der neuen Bewegung um Menschen handeln würde, die mit der Globalisierung haderten, weshalb sie auf alles allergisch reagierten, was sie mit Globalisierung verbänden, Ausländer und Muslime zuallererst. Nur langsam setzt sich die Einsicht durch, dass es sich bei dem Aufstand von rechts nicht in erster Linie um einen sozialen Aufstand handelt, sondern um einen kulturellen.

Sollte man zusammenfassen, was die Wähler der AfD verbindet, dann ist es das Gefühl, gegen „die da oben“ zu stehen, wobei mit „die da oben“ nicht die wirtschaftliche Elite gemeint ist. Gemeint ist die Schicht von Leuten, die in den Medien, der Kultur und den Hochschulen dominierend sind, also genau dort, wo das rot-grüne Milieu besonders verankert ist. Das ist eine schmerzliche Erfahrung für die Linke, die sich ja bis heute als Anti-Establishment versteht. Dass man exakt zu den Leuten gezählt wird, gegen die man doch immer angekämpft hat, nämlich zu den Herrschenden, ist möglicherweise eine Erklärung, warum es so schwerfällt, die Natur des Protestes zu verstehen.

Kulturell abgehängt kann man sich auch mit 100000 Euro auf dem Konto fühlen. Die Zugehörigkeit zur Klasse derjenigen, die den Ton angeben, bemisst sich nicht am Einkommen, sondern daran, ob man die Codes beherrscht, die eine Zugangsberechtigung signalisieren. Was hat man sich nicht darüber lustig gemacht, dass sich Trump-Wähler aus den Redneck-Staaten ausgerechnet in einem Baulöwen aus New York wiedererkannten. Trump, ein Außenseiter, hahaha, hieß es: Schaut doch nur mal, wie der lebt. Tatsächlich ist Trump genau das, ein radikaler Außenseiter. Ich war lange genug in New York, um beurteilen zu können, wie tief die Verachtung der Elite für den Talmi-König schon vor seinem Umzug ins Weiße Haus reichte.

Von den sogenannten einfachen Menschen hat man links der Mitte eher romantische Vorstellungen, so nahe kommt man sich in der Wirklichkeit ja nicht. So wie sich die Intelligenz den einfachen Menschen vorstellt, ist er ein vielleicht etwas ungelenker, aber dafür mit einem Herz aus Gold gesegneter Vertreter, der sich nichts sehnlicher wünscht als Bildung, um seiner unverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen. Groß ist der Schock, wenn man unter den Wohlmeinenden feststellen muss, dass die Leute, die man an die Sonne der Aufklärung heranführen möchte, daran gar nicht interessiert sind. „Deplorables“ hat Hillary Clinton die Zurückgebliebenen genannt, die Kläglichen. Gibt es ein besseres Wort, um die Verachtung zu beschreiben?

Ich habe neulich einen Bühnenabend mit Christian Ude bestritten, dem langjährigen Münchner SPD-Oberbürgermeister. Wir kamen dabei auch auf den Aderlass zu sprechen, den die Sozialdemokratie vor allem im Westen nach rechts erlitten hat. Er sei sich nicht sicher, ob die SPD die Leute, die sie an die AfD verloren habe, überhaupt zurückhaben wolle, sagte Ude. In Wahrheit habe man sich doch immer für diese Menschen geschämt, ihre als nicht fortschrittlich genug empfundenen Ansichten, ihr aus linker Sicht anstößiges Verhalten.

Ich fürchte, Ude hat Recht, wenn er glaubt, dass viele auf der Linken insgeheim ganz froh sind, die falschen Wähler los zu sein. In der SPD sind sie jetzt deutlich weniger, aber dafür sind die Verbliebenen alles anständige Menschen, die noch morgens um drei fehlerlos aufsagen können, wofür die Abkürzung LGBTQIA steht oder was ein CIS-Mann ist. Ude hat übrigens jedes Mal mit weitem Abstand vor seinem Herausforderer gewonnen, das letzte Mal mit 66,8 Prozent der Stimmen. Er gehörte noch zu den Linken, die sich nicht für ihre Wähler geschämt haben. Sie haben es ihm mit Mehrheiten gedankt.