Monat: August 2022

Unter Opfern

Im fortschrittlichen Teil des Westens hat man sich darauf geeinigt, dass der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft alle Minderheiten niederdrückt. Aber wenn der Rassismus allgegenwärtig ist, warum gelingt dann einigen der Aufstieg und anderen nicht?

Es gibt viele Volksgruppen, die es schwer haben. Die Rohingya in Burma, die Christen in Ägypten. Aber niemand erfährt eine vergleichbare Zuneigung und Aufmerksamkeit wie die Angehörigen des palästinensischen Volkes. Wenn es so etwas gibt wie den Pandabären der internationalen Politik, dann ist es der Palästinenser.

Der Palästinenser kann machen, was er will, ihm wird verziehen. Er kann seine Nachbarn mit Raketen überziehen. Oder im Kindergarten kleine Sprengstoffgürtel als Spielzeug auslegen. Oder sich beim Staatsbesuch schwer danebenbenehmen wie der palästinensische Staatspräsident Mahmud Abbas in Berlin.

Schon lange hat kein Besucher die Bundesregierung mehr so in Verlegenheit gebracht wie der Fatah-Führer. Man muss schon ziemlich neben sich stehen, um in Gegenwart des deutschen Bundeskanzlers zu erklären, dass die Juden nicht nur einen Holocaust, nein, dass sie 50 begangen hätten. Das bekommt nicht mal der verstockteste Neonazi hin.

Aber Schwamm drüber, alles vergeben und vergessen. Am Ende gibt’s trotzdem einen Scheck. 340 Millionen Euro für den Gast, so war es auch dieses Mal. Ich hätte eigentlich erwartet, dass jemand sagt: Der liebe Herr Abbas soll sich sein Geld woanders zusammensuchen. Aber an der Hilfe für Palästina wird nicht gerüttelt, unpassende Holocaust-Vergleiche hin oder her.

Es gibt eine merkwürdige Obsession mit der palästinensischen Sache. Keine Demo, bei der nicht der Block der Unterstützer Palästinas mitlatscht. Selbst bei Schwulendemos ist inzwischen regelmäßig eine Abteilung dabei, die für „Free Palestine from the River to the Sea“ und das Ende Israels die Flagge schwenkt.

Ich wünsche mir manchmal insgeheim, dass die Freunde der LGBTQIA-Szene, die so wahnsinnig erpicht darauf sind, dass endlich die Araber zu ihrem Recht kommen, einmal, nur ein einziges Mal, im Fummel durch Ramallah laufen. Wenn sie nicht gleich am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft werden, haben sie Glück gehabt, würde ich sagen.

Als „Mode-Accessoire für junge Männer und Frauen jeden Alters“ ist das Palästinensertuch bei Amazon für 12,99 Euro zu haben. Zu meiner Schulzeit gab es noch kein Amazon. Trotzdem war der Pali-Schal plötzlich da und komplettierte fortan die Schuluniform aus Jeans und Parka. Selbstverständlich fieberten wir auch beim Befreiungskampf des palästinensischen Volkes mit. Dass sie hin und wieder ein Flugzeug kaperten und alle Passagiere jüdischen Glaubens aussonderten – Schwamm drüber.

Ich habe mir vor Jahren während der Recherche für mein Buch „Unter Linken“ die Mühe gemacht, die Fördersummen zusammenzustellen. Drei Milliarden Euro flossen allein zwischen 2000 und 2007 aus EU-Mitteln in die Autonomiegebiete. Bei einer Geberkonferenz in Paris wurden weitere fünf Milliarden beschlossen. Im März 2009, kurz vor Erscheinen des Buches, kamen noch einmal 4,5 Milliarden dazu. Und das sind nur die Zahlungen im Zeitraum von 2000 bis 2010. Wenn es den Titel der meistsubventionierten Volksgruppe der Welt gäbe, die Palästinenser wären ein heißer Anwärter.

Man darf nicht den Fehler machen, danach zu fragen, was aus der Förderung geworden ist. Dass ihre Bewohner mehr Geld bekommen haben als die Europäer während des gesamten Marshallplans, sieht man der Autonomieregion nur an, wenn man den Blick auf die Villen der Fatah-Funktionäre in ihren Luxusenklaven wirft. Aber wahrscheinlich geht auch die Korruption in der Autonomiebehörde auf das Konto Israels.

Der Opferdiskurs funktioniert immer, selbst auf internationaler Ebene. Dass man anderen die Schuld geben kann, wenn man hinter den Erwartungen zurückbleibt, hat zweifellos Vorteile. Kaum etwas ist so demoralisierend wie die Erkenntnis, dass man sich sein Unglück selbst zuzuschreiben hat, weil man zu träge, zu faul oder einfach zu blöd war, um vom Fleck zu kommen.

Wenn der Palästinenser Selbstmordattentäter losschickt, handelt er selbstverständlich aus Verzweiflung. Wenn es bis heute keine funktionierende Verwaltung, keine nennenswerte Wirtschaftstätigkeit, ja nicht mal ein Abwassersystem gibt, das den Namen verdient, liegt das an den Zionisten und der Mauer, die sie um den Gazastreifen gebaut haben.

Das Problem am Opferdenken ist allerdings: Es bringt einen keinen Schritt weiter. Wer immer höhere Mächte verantwortlich macht, neigt dazu, sich in seinem Elend einzurichten. Deshalb rät jeder Therapeut ja auch dazu, das Selbstmitleid zu überwinden und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.

Ich bin seit drei Wochen in den USA. Zu meiner Morgenlektüre zählt jetzt als Erstes die „New York Times“. Herkunft ist ein Riesenthema. Im Prinzip hat man sich darauf verständigt, dass es der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft ist, der Minderheiten am Aufstieg hindert. Dass sich die Weißen bewegen müssen, damit sich etwas ändert, und nicht etwa die Nicht-Weißen, ist das unausgesprochene Mantra.

Aber offenbar gelingt es einigen Minoritäten trotz des allgegenwärtigen Rassismus aufzusteigen. Bei den Zulassungstests zu den Universitäten sind asiatischstämmige Amerikaner inzwischen führend. Bildungsabschluss ist ein guter Indikator für Teilhabe, weil alles Weitere aus ihm folgt: Einkommen, sozialer Status, gesellschaftliche Macht und Einfluss.

Auch asiatischstämmige Amerikaner wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Die Zahl der Vorurteile (und Schimpfwörter), die man mit ihnen verbindet, ist lang. Dennoch sind sie heute eine der erfolgreichsten Minderheiten.

Die Zahl der Universitätsabschlüsse läge noch höher, wenn nur Leistung zählen würde und nicht Herkunft. Eine Reihe von Elite-Colleges ist dazu übergangen, die Zahl von Asian Americans künstlich zu senken, um jungen Schwarzen Zugang zu ermöglichen. Einige asiatische Eltern haben daraufhin geklagt, weil sie es nicht länger hinnehmen wollen, dass ihre Kinder systematisch benachteiligt werden, damit die Quote stimmt. Der Fall liegt jetzt vor dem Supreme Court. Beobachter gehen davon aus, dass der Klage stattgegeben wird, was das Ende der sogenannten Affirmative Action bedeuten würde.

Auch die Mexikaner haben es relativ weit gebracht. Da niemand mit ihnen ihr hartes Los beklagt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Offenbar spielen Familienzusammenhalt und kulturelle Werte beim Aufstieg eine große Rolle. Ob Kinder in einer intakten Familie aufwachsen oder der Vater sich schon im Kleinkindalter verdrückt, hat für den weiteren Lebensverlauf enorme Folgen.

In Deutschland lassen sich ebenfalls Unterschiede bei Minderheiten beobachten. Es ist nicht das Gleiche, ob jemand, sagen wir, in einer jüdischen oder in einer arabischstämmigen Familie aufwächst. Das gilt nicht in jedem Einzelfall, aber doch im Generellen. Weshalb ja auch kein Mittelschichtspaar aus einem der grünen Innenstadtviertel auf die Idee käme, seine Kinder auf eine muslimische Schule zu schicken, aber sehr wohl auf eine jüdische.

Aber wie gesagt: Schwamm drüber. Man soll sich im Urlaub keine zu schwierigen Themen vornehmen.

©Sören Kunz

Die Kirche des Bernd

Die kommenden Monate werden hart. Sogar die Schokokekse drohen wegen der Gaskrise knapp zu werden. Sind die Anhänger der Grünen mental am besten auf den Mangel vorbereitet?

Ich wollte immer eine Kolumne über Bernd Ulrich, den stellvertretenden Chefredakteur der „Zeit“, schreiben. Den Titel hatte ich schon: „Die Kirche des Bernd“. Es sollte um den Versuch gehen, allem abzuschwören, was sich nachteilig auf Umwelt und Klima auswirken kann.

Ulrich ist vor fünf Jahren zum Veganismus übergetreten. Er hat darüber in einem mehrseitigen Essay im „Zeit Magazin“ Zeugnis abgelegt. Mir ist eine Passage in besonderer Erinnerung geblieben, in der er den Genuss von geschrotetem Getreide („nachts eingeweicht“) nebst zwei Datteln und einem Schluck Leinöl am Morgen lobte. Ich dachte bis dahin, ein Champagnerfrühstück sei in Hamburger Chefredaktionen das Maß aller Dinge. Was verstehe ich schon von verfeinertem Genuss! So etwas Altmodisches wie Champagner zum Frühstück kennt man nur noch in den Leitungsetagen der ARD.

Vor drei Wochen hat Ulrich erneut Bekenntnis abgelegt, diesmal über seine fortschreitende Abkehr von der Normalität. Angesichts der Multiplikation von Krisen erscheine ihm vieles, was eben noch Erholung versprach, hohl und schal.

„Fußball hat es da schwerer als früher“, schrieb er, „Skatbruderschaft geht, Familie ganz bestimmt, Freunde meistens doch, Kino na ja.“ Aber bevor jemand auf falsche Gedanken kommt: Natürlich sei das neue Leben ohne Fleisch und eigenes Auto viel lustvoller, ja einfach herrlich. So steht es am Ende: „Ich kann den Tieren in die Augen sehen, es stimmt mich immer wieder euphorisch, es ist rundum herrlich.“

Es gibt viele Wege, seinem Leben im fortgeschrittenen Alter eine neue Wendung zu geben. Manche kaufen sich ein Boot. Andere beginnen eine Affäre. Die Dritten treten einer neuen Glaubensrichtung bei. Das meiste geschieht im Stillen, ohne dass ein größeres Publikum davon erfährt. Vegan lebende Menschen hingegen sind so stolz auf die Wende, zu der sie sich durchgerungen haben, dass sie nicht an sich halten können und alle Welt darüber in Kenntnis setzen müssen.

Ich vermute, dass es eben doch nicht so leicht ist, dem Fleisch abzuschwören, wie behauptet wird. Seien wir ehrlich: Das Lob von Getreideschrot als Himmelsspeise ist so, als würde jemand die Wonnen des Nagelbrettes preisen, auf dem er sich jeden Morgen niederlässt. In japanischen Klöstern schwören sie auf den Lotussitz als Demutsübung. Dagegen ist morgendliches Weizenschrot mit Leinöl genossen eine vergleichsweise menschenfreundliche Andachtsform.

Bei allem Spott: Heute sehe ich die Sache in einem anderen Licht. Wenn eintrifft, was Experten für den Winter an Entbehrungen voraussagen, sind uns Menschen wie Bernd Ulrich weit voraus. Kein Schnitzel, kein Auto, keine Fernreise – was für viele eine arge Umstellung bedeutet, ist bei ihnen längst Gewohnheit.

Die kommenden Monate werden hart. Sogar die Schokokekse drohen wegen der Gaskrise knapp zu werden. Die Süßwarenindustrie schlägt vorsorglich Alarm. Keksherstellern käme eine herausragende Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung gerade in Notfall- und Engpasssituationen zu, erklärte ein Sprecher, deshalb sei eine Sonderbewirtschaftung mit Gas notwendig. Wenn nicht einmal Bahlsen mehr verlässlich liefern kann, stehen uns wirklich ernste Zeiten bevor.

Von allen Parteien sind vermutlich die Grünen am besten auf die Zeit des Mangels vorbereitet. Nicht, dass sie in den grünen Vierteln das gute Leben nicht zu schätzen wüssten. Die einzigartige Verbindung aus ökologischem Bewusstsein und demonstrativem Wohlstand ist ein unerschöpflicher Quell des Witzes („Kommt ein Grünenwähler mit dem Porsche beim Biobauern vorgefahren“).

Aber zu den Grundströmungen der Bewegung gehört eben auch der Pietismus, diese urdeutsche Geisteshaltung, bei der Genuss und schlechtes Gewissen Hand in Hand gehen. Konsum ohne Reue? Nicht bei einem Vertreter des deutschen Pfarrhauses, das bis heute das Rückgrat der Ökopartei bildet. Entsprechend verbreitet sind hier Ablasshandlungen. Dass man sich mit einem CO2-Papier von den Folgen einer Reise auf die Malediven freikaufen kann, glaubt nur ein Grüner.

Die Verzichtsethik steht spätestens seit dem Klimawandel in voller Blüte. Grundsätzlich ist alles verdächtig, was auf unbedachtes Verhalten schließen lässt. Flug- und Fleischscham sind bekannt, aber Rasenscham? Darauf wären Sie nicht auf Anhieb gekommen, wette ich. Aber so sieht’s aus: „Was die nächste Generation lernen wird: Grüne Wiese vor dem Haus bedeutet, hier lebt ein Wasserverschwender“, schrieb vergangene Woche ein engagierter Vertreter der neuen Klimamoral.

Bei der Klimaikone Maja Göpel geht der Verzicht so weit, dass sie sogar darauf verzichtet hat, das Buch selbst zu schreiben, für das sie berühmt wurde. Weite Teile von „Unsere Welt neu denken“ stammen aus der Feder eines Ghostwriters. Göpel hat das Genre der Klimadomina begründet. Unvergessen, wie sie den RBB-Moderator Jörg Thadeusz in den Senkel stellte, als der ihr gestand, dass er mit Rücksicht auf seinen Rücken lieber in einen SUV einsteigt als in einen Kleinwagen.

Der Kreis von Leuten, die darauf stehen, dass man ihnen die Leviten liest, ist überraschend groß. Anderseits gibt es ja auch Menschen, die nicht genug davon bekommen können, dass man ihnen sagt, was für schlimme Rassisten sie sind. Aber so groß, dass man darauf eine mehrheitsfähige Bewegung begründen könnte, ist die Zahl dann wiederum doch nicht.

Ich bin überhaupt nicht gegen Verzicht. Ich glaube keinen Augenblick daran, dass ein Mehr an Konsum automatisch glücklicher macht. Ich habe nur Zweifel, dass die Verzichts-Bewegung die politische Kraft entfalten wird, die man ihr zutraut. So sehr ich ein Anhänger des Prinzips Selbstverantwortung bin, so skeptisch bin ich, bei gesellschaftlichen Problemen auf die Einsichtsfähigkeit des Einzelnen zu setzen. Von der Individualisierung der Lösung politischer Fragen kann ich nur abraten.

Den meisten Menschen fehlt schlicht die Zeit, um sich so tief in die Materie einzuarbeiten, wie das erforderlich ist, wenn man es richtig machen will. Umweltbewusstsein war auch immer eine Klassenfrage.

Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal in einem dieser Läden einkaufen waren, die stolz darauf sind, dass es in ihnen keine Verpackung mehr gibt. Bei mir in München-Schwabing war einer gleich um die Ecke: Rasend umweltbewusst, aber es braucht wirklich Vorbereitung, wenn man nicht mit leeren Händen wieder herausgehen will. Kaufen Sie dort mal auf die Schnelle zwei Liter Milch und Cornflakes. Da endet der Kauf mit einer Enttäuschung.

Es ist ohnehin die Frage, wie weit der Appell, sich einzuschränken, trägt. Aus der Forschung ist das Phänomen des Moral Licensing bekannt. Wer sich an einer Stelle vorbildlich verhält, leitet daraus häufig das Recht ab, dann an anderer Stelle über die Stränge zu schlagen. Man kann auch sagen: Kaum etwas ist für das Klima so schädlich wie ein gutes Gewissen.

Es hilft nichts, wer wirkliche Veränderungen erreichen will, kommt um Verbote nicht herum. Wenn man der Meinung ist, dass das Kotelett nicht mehr in die Zeit passt, muss man den Verkauf untersagen.

Ich freue mich schon auf die Diskussion. Sie ist wenigstens ehrlich.

©Silke Werzinger

Die Absage

Will Friedrich Merz Bundeskanzler werden? Man weiß es nicht. Was wir dafür jetzt wissen: Er ist der Typ Mensch, auf den man nur so lange bauen kann, wie es keinen Ärger gibt

Wie ruiniert man als führender Politiker den Ruf eines Menschen? Man sagt seine Teilnahme bei einer Konferenz zu. Es gibt Kritik wegen des geplanten Auftritts. Der Mensch, mit dem man zu einem öffentlichen Gespräch verabredet ist, gilt als rechter Hardliner.

Man sagt die Teilnahme wieder ab – allerdings nicht wegen des Treffens mit dem Hardliner, für das man angegriffen wurde, sondern weil man angeblich im Rahmenprogramm auf zwei Namen gestoßen ist, die eine Teilnahme unmöglich machen. Botschaft Nummer eins: Mit dem rechten Trump-Freund hätte man sich ja noch getroffen, aber nicht mit den beiden anderen Vögeln. Botschaft Nummer zwei: Wer die beiden künftig wieder auf ein Podium einlädt, ist nicht ganz bei Trost.

Ich bin mit der Familie im Sommerurlaub in Amerika. Da erreichen einen viele Nachrichten aus der Heimat mit Verspätung. Aber dass der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz seinen Auftritt bei einer Konferenz in Berlin abgesagt hat, weil dort neben dem republikanischen Senator (und Trump-Freund) Lindsey Graham auch der Journalist Henryk M. Broder sowie der Anwalt Joachim Steinhöfel sprechen sollten, das habe ich sogar im fernen Connecticut mitbekommen. Manches mag länger brauchen, bis man davon erfährt, dafür ärgert man sich nachhaltiger.

Ich kenne Henryk Broder, seit ich vor 30 Jahren für den „Spiegel“ von Hamburg nach Berlin wechselte. Ich würde nicht sagen, dass wir befreundet sind, auch wenn wir in manchem Kampf auf einer Seite standen. Freundschaftlich verbunden, das trifft es vielleicht am ehesten. Möglicherweise nehme ich mir die Geschichte deshalb so zu Herzen.

Broder hat schon gegen die Narren links und rechts der Mitte gekämpft, als viele noch glaubten, wahre Idioten gäbe es nur bei den Rechten. Jedes Interview mit ihm enthält mehr in Sottisen verpackte Wahrheit, als die meisten Journalisten in ihrem ganzen Leben an Wahrheit und Sottisen zustande bringen. Vor allem ist er absolut unkorrumpierbar. Vor sechs Wochen hat er sein Engagement bei der „Weltwoche“ beendet, weil er fand, dass er da nicht mehr hinpasst.

Und nun muss ich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ lesen, bei näherem Studium der Teilnehmerliste des „Transatlantischen Forums“, also jener geplanten Veranstaltung mit Merz und Graham in Berlin, sei im Büro Merz aufgefallen, dass auch Henryk M. Broder und Joachim Steinhöfel als Redner vorgesehen waren, „zwei Maulhelden jenes rechten Randes des demokratischen Spektrums, mit dessen parteipolitischer Vertretung, der AfD, CDU und CSU in keiner Form zusammenarbeiten möchten“?

Keine Ahnung, was bei der „FAZ“ beziehungsweise in der CDU-Parteizentrale unter Zusammenarbeit verstanden wird: Die Teilnahme an einem Forum, bei dem unterschiedliche Meinungen aufeinanderstoßen, fällt nach landläufiger Auffassung jedenfalls nicht darunter. Man hätte sich vermutlich nicht mal gesehen. Der Auftritt von Merz war für 14 Uhr vorgesehen, der von Broder und Steinhöfel für 10 Uhr. Das Programm stand auch seit Wochen fest, aber vielleicht liest man im Adenauer-Haus aus Prinzip keine Tagungsprogramme über den Auftritt des Parteivorsitzenden hinaus.

Was die AfD-Nähe angeht, scheint ebenfalls der Wunsch Vater der Behauptung zu sein. Broder hat mal einen Vortrag vor der AfD-Fraktion gehalten, zu dem man ihm nur gratulieren kann, wenn man ihn gelesen hat. Steinhöfel hat seinen Rechtsbeistand zugesagt, als der damalige Parteivorsitzende Jörg Meuthen nach einem Anwalt suchte, der willens war, die AfD im Parteiausschlussverfahren gegen Nazis wie den Brandenburger AfD-Chef Andreas Kalbitz zu vertreten. Die Nazihaftwerdung der AfD schritt dann trotz des Kalbitz-Rauswurfs voran, worauf Steinhöfel sein Mandat wieder niederlegte.

Ich weiß nicht, welche Pläne Friedrich Merz noch hat. Möglicherweise reicht es ihm, Parteivorsitzender und Fraktionschef der CDU zu sein, das wäre ihm zu wünschen. Vielleicht will er aber auch Bundeskanzler werden. Ab einem gewissen Level trauen sich Politiker alles zu, das scheint nahezu unausweichlich. Wenn man Manuela Schwesig fragen würde, ob sie nicht finde, dass sie das Zeug zur Bundeskanzlerin habe, sagte sie garantiert Ja.

Stellen wir uns Merz als Bundeskanzler vor. Wir wissen jetzt: Er ist der Typ Mensch, auf den man nur so lange bauen kann, wie es keinen Ärger gibt. Ich hatte zwischenzeitlich einen anderen Eindruck gewonnen. Ich hielt ihn für einen, der unter Druck Standfestigkeit zeigt. Jetzt weiß ich, er ist doch nur ein Würstchen. Ein sehr reiches Würstchen, keine Frage, mit einer schönen neuen Brille und einem Pilotenschein. Der Pilotenschein hat mich sofort für ihn eingenommen. Franz Josef Strauß hatte ebenfalls einen. Aber das ist leider auch alles, was Merz mit Strauß verbindet.

Die Krux der modernen Konservativen ist, dass sie bei den falschen Leuten ankommen wollen. Ein Linker käme nie auf die Idee, den Beifall der anderen Seite zu suchen. Entweder ist es ihm egal, wie sie im Lager des Gegners über ihn denken. Oder er ist im Gegenteil sogar stolz, dass sie ihn dort hassen. Wer ihn nicht wählt, kann ihm gestohlen bleiben.

So kann der Konservative nicht denken. Konstantin von Notz von den Grünen schreibt auf Twitter, dass Merz nicht mehr alle Latten am Zaun habe? Im Team Merz schlottern ihnen vor Angst die Hosen. Die „Süddeutsche“ findet, dass es sich für den Anführer der größten Oppositionspartei nicht schickt, einen Mann wie Graham zu treffen, der Trump prima findet? Oh Gott, wie kommen wir aus der Nummer wieder heraus? Sagen wir einfach, wir haben das Programm nicht gekannt!

Natürlich würde man sich bei den Linken auch niemals vorschreiben lassen, mit wem man sich zusammensetzen darf und wem nicht. Hans-Christian Ströbele hat als Anwalt sogar waschechte Terroristen vertreten, die nicht nur davon träumten, das System aus den Angeln zu heben, sondern das mit der Waffe in der Hand versuchten.

Hat das die Grünen davon abgehalten, ihn als Direktkandidaten für die Bundestagswahl aufzustellen? Selbstverständlich nicht. Saß er dann im Geheimausschuss des Bundestages, ohne dass die anderen Fraktionen Einspruch erhoben hätten? Aber sicher. Wenn jemand geschrieben hätte, dass man mit Leuten wie Ströbele wegen seiner Mandate nicht zusammenarbeiten dürfe, sie hätten sich bei den Grünen totgelacht.

Manchmal denke ich an Helmut Kohl zurück. Wie hätte Kohl reagiert? Ganz einfach: Wenn einer wie Notz rumkrakeelt hätte, wäre er gleich zweimal zu der Konferenz gekommen, von der man ihm gesagt hätte, dass man da nicht hingehen darf. Im Zweifel stand er auch noch für Fehler ein, die andere gemacht hatten.

Die beste Lebensversicherung eines Ministers in Nöten waren Kommentare, die seine sofortige Absetzung verlangten. Da hielt Kohl schon aus Prinzip an der Person fest, deren Kopf nun allenthalben gefordert wurde. So überlebte Manfred Wörner den Kießling-Skandal, für den er als Verteidigungsminister eigentlich sofort seinen Hut hätte nehmen müssen, und Rita Süssmuth ihre Flugaffäre.

Merz war einer der Ersten, die sich von Kohl lossagten. Man müsse die Distanz vergrößern, den Ton verschärfen, erklärte er, als die Spendenaffäre losbrach. Da war er Fraktionsvize und Kohl gerade als Kanzler abgewählt. Schon von der Mutter habe er gelernt, dass „die Hand, die segnet, zuerst gebissen wird“, vertraute Kohl darauf seinem „Tagebuch“ an.

Merz brauchte 22 Jahre, bis er endlich das wurde, was zu werden er schon damals erhofft hatte. Der Verrat zahlt sich für den Verräter nicht immer aus.

©Michael Szyszka

Sag den Namen nicht

Die Regierung will, dass jeder Deutsche einmal im Jahr das Geschlecht wechseln darf. Wer bei der Anrede weiter den alten Vornamen benutzt, dem droht ein Bußgeld von 2500 Euro. Woran sich die Frage anschließt: Sind Transmenschen besonders empfindlich?

Ich war neulich bei der FDP in Pullach. Der Vorsitzende des Ortsvereins hatte mich gefragt, ob ich nicht einmal bei den Liberalen auftreten wolle. Ich habe spontan zugesagt. Ich lebe noch nicht so lange im Isartal. Da kann es nicht schaden, neue Bekanntschaften zu knüpfen. Ich würde auch bei den Grünen auftreten. Aber die trauen sich noch nicht so recht, mich einzuladen.

Nach dem Vortrag kam eine Frau mittleren Alters auf mich zu. Sie stellte sich mir als langjähriges FDP-Mitglied vor. Was ich davon hielte, dass der Justizminister aus ihrer Partei dafür gesorgt habe, dass jeder sein Geschlecht einmal im Jahr ändern könne? Sie habe jahrelang für die Sache der Frauen gekämpft. Der Kampf sei nicht immer leicht gewesen. Sie habe sich so manches anhören müssen. Dass es nun in Zukunft keine Rolle mehr spielen solle, ob jemand als Mann oder Frau geboren sei, könne sie nicht verstehen.

Ich musste gestehen, dass ich ebenfalls ratlos bin. Ich weiß nicht, was die FDP dazu bringt, ausgerechnet in der Gesellschaftspolitik gemeinsame Sache mit den Grünen zu machen. Vielleicht ist man es leid, dass alle in den Medien ständig auf einem rumhacken, und hofft jetzt, mal etwas Nettes über sich zu lesen, wenn man sich als besonders fortschrittlich gibt.

Möglicherweise glauben sie in der Parteispitze auch wirklich, dass es ein himmelschreiendes Unrecht ist, wenn Menschen nicht so oft ihr Geschlecht wechseln können, wie sie das wollen. Statt freie Fahrt für freie Bürger jetzt also freie Geschlechtswahl für die Freunde der Freiheit. Ich kann nur sagen: An der Basis kommt der Beschluss eher mittelprächtig an.

Was bei der Grünen-Jugend ein Renner ist, muss nicht zwingend ein bürgerliches Publikum überzeugen. Wenn die Leute hören, dass ursprünglich schon 14-Jährige die Möglichkeit haben sollten, ihr Geschlecht zu wechseln, notfalls sogar gegen den Willen der Eltern, sinkt die Zustimmung in der Mitte der Gesellschaft gegen null.

Jeder, der Kinder im pubertären Alter hat, weiß, welche Zwangsvorstellungen Jugendliche ausbilden können. Einige halten sich plötzlich für zu dick. Andere für zu hässlich. Die dritten wollen ihre Haut mit der Tattoonadel malträtieren oder ihre Ohrläppchen zur Bohrung von Tunneln nutzen, durch die anschließend ein Pfeifendeckel passt.

Zum Glück wächst sich das meiste aus. Viele Torheiten lassen sich später wieder korrigieren. Die Folgen von Pubertätsblockern, wie sie bei der Geschlechtsangleichung verschrieben werden, lassen sich irgendwann nicht mehr revidieren. Die Veränderung ist unwiderruflich, deswegen ist bislang ja die Empfehlung eines Arztes Pflicht. Auch das soll sich nach dem Willen der Transaktivisten ändern.

Wenn jemand beschließt, künftig unter einem neuen Namen durchs Leben zu gehen, klar, warum nicht? Der „Stern“ hatte mal einen Redakteur namens Hollow Skai. Er hieß eigentlich Holger Poscich, wie ich später erfuhr. Aber alle Welt nannte ihn Hollow Skai – die Kollegen, die Freunde, der Name fand sogar Eingang ins „Stern“-Impressum.

Wenn der gute Mann eines Tages das Zeitliche segnen sollte, wird sich auf seinem Grabstein der Name eines indianischen Häuptlings finden. Heute ginge das nicht mehr so leicht durch, wegen kultureller Aneignung und so. Als ich mit dem Journalismus anfing, akzeptierte man das noch als Punk.

Wenn ich mich nicht täusche, wird es nicht beim Recht auf den jährlichen Geschlechts- und damit Namenswechsel bleiben. In Nordrhein-Westfalen wird jetzt eine Stelle eingerichtet, bei der man sich melden kann, wenn man Transfeindlichkeit wittert. Alles unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit soll hier zur Anzeige gebracht werden, so hat es die neue Familienministerin in Düsseldorf erklärt. Was wird da gemeldet? Beleidigungen oder Herabwürdigungen ziehen ja heute schon Strafen nach sich, das kann also nicht gemeint sein.

Wie man weiß, ist die Community enorm empfindlich. Einmal aus Versehen den alten Vornamen genannt, und man gilt als transphob. Oder schlimmer noch: als jemand, der Transmenschen die Existenz abspricht. Die Bundesregierung überlegt, ob sie das sogenannte Deadnaming unter Strafe stellen soll. 2500 Euro Bußgeld für jeden, der eine Transperson fahrlässig mit dem Geburtsnamen anspricht.

Ich halte es für eine Frage der Höflichkeit, dass man jemanden so anredet, wie er es als wünschenswert empfindet. Ich nehme auch Rücksicht auf Adels- und Professorentitel, ohne im Einzelnen zu prüfen, ob der Träger über alle nötigen Diplome und Stammbäume verfügt. Aber dass man jemanden auslöscht, weil man ihn falsch anspricht? Das erscheint mir doch etwas weit hergeholt.

Inwieweit ist die Gesellschaft für das persönliche Lebensglück oder -unglück verantwortlich? Das ist die Frage. Hormone schlagen auf die Stimmung. Was man an Medikamenten zu sich nehmen muss, um als Mann dauerhaft den Testosteronspiegel zu senken, ist keine Kleinigkeit. Das bringt vieles durcheinander, möglicherweise auch die innere Balance.

Im Netz bin ich auf den Eintrag einer Frau gestoßen, warum sie vieles aus der Transszene an die Beziehung zu einem narzisstischen Mann erinnere, aus der sie sich mühsam gelöst habe. Der Aufhänger war der Fall einer Musikgruppe, die sich gezwungen sah, eine ausführliche Erklärung abzugeben, weil einer der Musiker, ein Transmann, die Band verlassen hatte.

Die Musikerinnen machten sich große Vorwürfe, dass sie nicht genug Rücksicht genommen hätten. Sie hätten sich vorgenommen, sich komplett um ihren Kollegen und seine Bedürfnisse zu kümmern. Aber sie hätten ihn enttäuscht. Sie kenne das zur Genüge, schrieb darauf die Frau, die sich im Netz Frau Mond nennt: Die Selbstvorwürfe, nie genug getan zu haben, das Gefühl, ständig auf Eierschalen laufen zu müssen, weil ein falsches Wort reiche, um alles zum Einsturz zu bringen.

Wie würde ich reagieren, wenn mein Sohn mir im Alter von 14 Jahren sagen würde, er sei trans? Ich wäre im ersten Moment besorgt. Nicht weil ich denken würde, man könne als Transperson kein glückliches Leben führen. Ich hätte Sorge, dass der Weg dahin schwer wird. Als Elternteil möchte man sein Kind vor allem schützen, was ihm Leid zufügen könnte.

Ich würde meinem Sohn raten, erst mal auszuprobieren, wie das Leben als Mädchen so ist, bevor er etwas tut, was sich nicht mehr ändern lässt. Wenn sich herausstellen sollte, dass es ihm wirklich ernst ist mit dem Geschlechterwechsel, würde ich ihn auf dem Weg begleiten. Ich vermute aber, dass ich weiterhin Zweifel hätte, ob es Meldestellen braucht, bei denen man transfeindliches Verhalten anzeigen kann, oder eine spezielle Gesetzgebung, die es verbietet, jemanden bei seinem alten Namen zu nennen.

Die meisten Eltern machen sich viele Gedanken bei dem Namen, dem sie ihrem Kind geben. Wenn ihre Tochter oder ihr Sohn ihn später ablegen will, ist das der Lauf der Dinge. Aber warum den Namen, den die Eltern ausgesucht haben, so behandeln, als sei er etwas, wofür man sich schämen muss? Er ist mit vielen Erinnerungen verbunden, hoffentlich auch einigen sehr schönen. Ich halte es immer für falsch, wenn man an einem bestimmten Punkt seines Lebens meint, alles hinter sich lassen zu müssen, was einem nicht mehr gefällt.

©Sören Kunz

Apokalypse und Filterkaffee

Die Parteien überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern beistehen könne. Noch mehr als Putin fürchten sie in Berlin den Zorn der Straße. Was, so die bange Frage, wenn der Deutsche wieder andere Seiten aufzieht

Kein Bürger werde alleingelassen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt. Das sollte vermutlich beruhigend wirken. Bei mir löst eine solche Ankündigung eher Beklemmung aus. Ich mag es nicht, wenn man mir zu sehr auf die Pelle rückt, erst recht nicht von Staats wegen.

In allen Parteien überschlagen sie sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern in der Krise beistehen könne. Die SPD will Hilfen für Mieter durchsetzen, die ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Weil der schwarze Peter dann bei den Vermietern hängen bleibt, soll den Vermietern selbstverständlich ebenfalls geholfen werden.

Die CDU hat eine Verlängerung des Tankrabatts sowie ein verbilligtes Bahn-Ticket ins Programm aufgenommen. Die Grünen würden am liebsten die Kündigung von Mietern ganz aussetzen. Moratorium nennen sie das, was nur der erste Schritt hin zu einem dauerhaften Kündigungsschutz sein kann. Die einzige Partei, die keine neuen Hilfen verspricht, ist die FDP. Sie will stattdessen zur Schuldenbremse zurück. Vielleicht liegt sie deshalb in den Umfragen so weit hinten.

Das Blöde an Steuergeschenken ist, dass auch für sie jemand bezahlen muss. Dieses ökonomische Gesetz kann selbst die beste sozialstaatliche Förderung nicht außer Kraft setzen. Da es nicht die Politiker sind, die für die Entlastungen geradestehen, die sie versprechen, müssen andere ran, im Zweifel die Leute, die gerade beschenkt wurden.

Die Zustimmung zum Sozialstaat beruht nicht zuletzt auf der Illusion, dass man zu den Gewinnern zählt. Auf die eine oder andere Weise profitiert fast jeder von seinen Segnungen. Da verbilligte Operntickets ebenso zum Angebot zählen wie VHS-Kurse, in denen man in die Kunst des sanften Atmens eingewiesen wird, ist es für viele gar nicht so einfach zu sagen, ob sie am Ende nun draufzahlen oder nicht.

Jetzt geht es also gegen die Gaskrise. Niemanden im Stich lassen zu wollen klingt nobel. Was ist gegen Hilfe in der Not zu sagen? Wenn man genau hinhört, durchzieht die Ankündigungen allerdings ein weiteres Motiv: eine klammheimliche Angst vor dem Bürger. Noch mehr als Wladimir Putin scheinen sie in Berlin den Zorn der Straße zu fürchten. Von der Fürsorge zum Versuch der Ruhigstellung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Unsere Innenministerin Nancy Faeser hat es offen ausgesprochen, als sie vor Protesten wegen steigender Energiepreise warnte. In der Corona-Zeit hätten Menschen zusammen mit Rechtsextremisten ihre Verachtung für die Demokratie rausgebrüllt, sagte sie. Diese Gefahr bestehe wieder. Der thüringische Verfassungsschutz-Chef spricht von Aufmärschen, gegen die alle Corona-Demos ein „Kindergeburtstag“ gewesen seien.

Ungeklärt ist noch die Frage, wie jemand heißt, der Anstoß an ständig steigenden Heizkosten nimmt. Energieleugner? Wobei, die Energiepreisleugner sitzen ja eher im Lager derjenigen, die bis vor Kurzem jede Inflationsgefahr bestritten. Also vielleicht: Energiewendequerdenker. Das klingt hinreichend bedrohlich.

Es ist eigenartig: Auf der einen Seite sehen wir uns als eine der fortschrittlichsten Nationen der Welt. Gerade erst hat die Bundesregierung unter großem Beifall ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach man einmal im Jahr das Geschlecht wechseln kann. Seinen Nachnamen ändern zu lassen ist in Deutschland in Zukunft schwieriger als die Überwindung der Biologie. Andererseits gelten wir Deutsche als latent rückfallgefährdet. Kaum droht im Winter die Heizung kalt zu bleiben und schon marschieren auf den Meinungsspalten die braunen Horden durchs Brandenburger Tor.

Lauert unter der Oberfläche das Böse? Wartet der Nazi in uns nur darauf, wieder durchzubrechen? Das ist die große Frage. Der Politologe Herfried Münkler, mit dem ich die Tage zum Mittagessen zusammensaß, unterscheidet drei Wege, wie sich offen revisionistische Mächte einhegen lassen: Appeasement, Abschreckung und Agressionsabbau durch Wohlstandszuwachs.

Deutschland war auf dem dritten Weg spektakulär erfolgreich. Je dicker und zufriedener die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, desto demokratischer wurden sie auch. Aber damit bleibt natürlich der Verdacht, dass die Deutschen die Demokratie nicht um ihrer selbst lieben, sondern weil sie sich Vorteile versprachen. Das verleiht der Diskussion um den Gasnotstand ihren existenzialistischen Touch: Was, wenn der Wohlstand schrumpft? Schrumpft dann auch die Demokratietreue?

Ich habe die Diskussion in anderen europäischen Ländern nicht so genau verfolgt. Aber mein Eindruck ist, dort nimmt man die Krise mit größerer Gelassenheit. Ein Freund, der vor zwei Wochen seinen Schreibtisch in München mit dem Balkon am Lago Maggiore tauschte, berichtet, dass die Gasknappheit in den italienischen Zeitungen kein großes Thema sei. Auch in Paris oder Amsterdam ist die Lage vergleichsweise ruhig.

Ist es schlau, dass unsere Regierungsvertreter jeden Tag über ihre Ängste sprechen? Ich habe da meine Zweifel. Wie man sieht, fühlt sich Putin durch das sorgenvolle Händeringen, wie schlecht wir ohne sein Gas dastünden, ermuntert, uns unsere Abhängigkeit jede Woche aufs Neue vor Augen zu führen. Mal gibt es 40 Prozent der zugesicherten Gasmenge. Dann gar nichts mehr. Dann wieder etwas. Dann nur noch 20 Prozent. Man kennt das aus dem Tierreich. Es gibt Hunderassen, die erst recht zubeißen, wenn ihnen ein Tier die Kehle zeigt.

Auch im Hinblick auf die innenpolitische Lage scheint es mir nicht besonders klug, Alarmstimmung zu verbreiten. Wenn man als Politiker ständig davon redet, dass die Leute revoltieren könnten, sagen sie sich irgendwann: Dann lass uns das doch mal versuchen.

In Wahrheit misstraut die Politik dem Bürger, deshalb die fürsorgliche Belagerung. Sie hält ihn für ein Mängelwesen, politisch ungefestigt und in Alltagsdingen überfordert.

Der Bürger, wie ihn die Politik sieht, isst und trinkt zu viel. Er arbeitet bis zum Burnout und guckt Fernsehsendungen, die ihn verdummen. Im Supermarkt ist er total aufgeschmissen, weil die Auswahl immer größer wird und er alles für bare Münze nimmt, was ihm die Werbung sagt. Natürlich ist er auch leicht verführbar durch einfache Antworten, wie die Schalmeienklänge der Populisten heißen. Der Politikbetrieb spricht vom „verletzlichen Verbraucher“. Lässt sich ein schöneres Wort für den Gegenentwurf zum mündigen Bürger denken?

Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat angeregt, die Deutschen sollten länger arbeiten, um sich ihren Wohlstand zu erhalten. Es gab sofort Protest. Aber ich glaube, viele wissen insgeheim, dass er recht hat. Am Anfang des deutschen Wirtschaftswunders, das uns zu guten Demokraten gemacht hat, stand nicht die 35-Stunden-Woche, sondern eine kollektive Kraftanstrengung. Das haben außerhalb der Sozialverbände noch nicht alle vergessen.

Wer weiß, vielleicht sind die Deutschen robuster, als viele Politiker denken. Klar, wir müssen dankbar sein, dass wir nach dem Krieg so gründlich pazifiziert wurden, dass heute schon der Ausfall der Klimaanlage im ICE den Anwalt auf den Plan ruft. Aber könnten wir uns nicht ein kleines bisschen auf den Durchhaltewillen besinnen, den diese Nation einmal auszeichnete? Nur vorübergehend, im Streckbetrieb sozusagen, bis die kalten Monate vorbei sind und in Wilhelmshaven endlich das erste Flüssiggasterminal steht?

Wir müssen ja nicht gleich wieder bis nach Stalingrad durchmarschieren. Zwei Pullover übereinander und die Heizung bei 18 Grad, das würde für den Anfang reichen.

©Silke Werzinger