Schlagwort: Palästina

Was ist an den Unis los?

Warum gibt man seine Kinder an die Universität? Damit sie zu klügeren Menschen ausgebildet werden. Aber darauf ist immer weniger Verlass. Immer häufiger lernen sie, sich selbst und das, worauf diese Gesellschaft gründet, zu hassen

 Der „FAZ“-Redakteur Claudius Seidl hat in seiner Zeitung vom studentischen Leben an der Universität der Künste in Berlin berichtet. An der Hochschule werden 4000 Studenten in Design, Musik, Architektur und Bildender Kunst ausgebildet. Die UdK Berlin zähle zu den größten, vielseitigsten und traditionsreichsten künstlerischen Hochschulen der Welt, steht auf der Webseite.

Was Seidl zu beschreiben wusste, las sich allerdings so, als ob die Hochschule in Ramallah oder Gaza Stadt und nicht mitten in Berlin liegen würde. Jüdische Studenten trauten sich nicht mehr in Lehrveranstaltungen, weil sie von Kommilitonen als Mörder beschimpft würden. Die Universitätsleitung sei ratlos, wie sie dem offenen Hass entgegentreten solle.

Es gibt ein Video, auf dem man sieht, wie der Uni-Präsident Norbert Palz die Studenten zur Mäßigung aufruft. Kaum hat er das Wort ergriffen, wird er niedergeschrien. „Verurteile den Rassismus“, schleudern sie ihm in Sprechchören entgegen: „Verurteile den Kolonialismus“. Minutenlang geht das so, in einer schwarzen Choreografie der Wut. Palz hatte aus Sicht der Studenten den unverzeihlichen Fehler begangen, in einer offiziellen Stellungnahme den Terror der Hamas zu verurteilen, wie Seidl schreibt.

Kolonialismus, das ist das Stichwort. Als Neo-Kolonialist gilt in diesem Zusammenhang jeder, der eine falsche Hautfarbe hat (weiß), am falschen Ort geboren ist (westliche Industrienation) und die falsche Religion besitzt (Christentum, Judentum). Zu den kolonialen Opfern, die uneingeschränkte Solidarität verdienen, zählen hingegen alle, die man im weitesten Sinn als Indigene verstehen kann, wozu dann neben den Indianern im Amazonas, den Maori in Neuseeland oder den Aborigines in Australien auch bedrängte Völker wie die Palästinenser gehören.

In einem verrückten Twist lebt so der unverstellte Antisemitismus wieder auf. Der „Geldjude“ der Nazis erfährt seine Reinkarnation in der Figur des Wall-Street-Bankers, dem nun im Namen des Antikapitalismus der Kampf angesagt wird. Die weißen Sklavenhalter finden ihre Auferstehung im Feindbild des zionistischen Siedlers. Israel als Brückenkopf eines vom Westen gesteuerten kolonial-rassistischen Imperialismus: Das ist es, was den jungen Leuten beigebracht wird. Auf diese Pointe läuft es hinaus.

Kein Wunder, dass an vielen Hochschulen der Teufel los ist. Und das nicht nur an den amerikanischen Elite-Universitäten, in denen ein linker Mob jeden niederbrüllt, der zu weiß, zu privilegiert und zu wohlerzogen ist. Den antiwestlichen Furor gibt es auch in Deutschland zu besichtigen, wie sich zeigt. Und es ist nicht nur die Berliner Universität der Künste, an der sich der Hass austobt – ähnliches wird von einer Reihe deutscher Hochschulen berichtet.

Ich habe mich über die Auswüchse der neuen linken Heilslehre oft lustig gemacht. Ich habe über die Safe Spaces gespottet, die dafür sorgen sollen, dass Studenten einen Schutzraum vor fremden Meinungen finden. Ich habe die Triggerwarnungen belächelt, die Texten vorangestellt werden, die als zu anstößig empfunden werden könnten. Wenn selbst die Orestie von Aischylos mit einer Warnung versehen wird, ist Gelächter und nicht Empörung die angemessene Reaktion. Dachte ich.

Aber jetzt zeigt sich, dass die Ideologie, die in der akademischen Welt Einzug gehalten hat, eine finstere, bedrohliche Seite hat.Wenn sich Studenten nicht mehr in den Hörsaal trauen, weil sie Angst haben müssen, von ihren Kommilitonen bedrängt, beleidigt und bespuckt zu werden, ist definitiv der Punkt erreicht, an dem man einschreiten muss.

Es hat sich eingebürgert, im Zusammenhang mit der Uni-Kultur von „Wokeness“ zu sprechen. Aber das ist zu schwammig, auch zu harmlos. Es gibt einen theoretischen Unterbau des Hasses. Wer nach einer Erklärung sucht, warum junge Menschen ihre jüdischen Kommilitonen bedrohen, landet bei der sogenannten postkolonialen Theorie.

Wobei Theorie ein großes Wort ist. Tatsächlich ist es eine Art Gehirnwäsche, bei der Studenten beigebracht wird, dass der Rassismus das Fundament der westlichen Gesellschaften sei und das Denken in den Vernunftkategorien der Aufklärung nur ein Machtinstrument zur Sicherung der vermeintlichen Überlegenheit des Westens.

Bei Claudius Seidl berichtete eine Dozentin von einem Kurs, in dem es darum ging, dass man es mit dem entsprechenden indigenen Wissen schaffen könne, den Bäumen beim Sprechen zuzuhören. Als die Professorin entgegnete, das sei wohl eher eine Projektion, wurde sie zurechtgewiesen, wie kolonialistisch und rassistisch es sei, mit Begriffen eines weißen Mannes wie Sigmund Freud das indigene Wissen zu delegitimieren.

Selbstverständlich ist auch die Vorstellung, dass westliche Werte wie Toleranz und allgemeine Menschenrechte Gewaltreligionen wie die der Taliban überlegen sein könnten, Ausdruck kolonialistischen Denkens. Wenn die Taliban meinen, dass die Steinigung von Frauen im Einklang mit ihren Traditionen steht – wer sind wir, ihnen zu sagen, wie sie zu leben haben? Dass der Westen jede moralische Autorität eingebüßt habe, ist übrigens exakt das Argument, das man auch auf den Fluren der Vereinten Nationen rauf und runter hört. Mit dem Ergebnis, dass Folterknechte im Menschenrechtsrat den Ton angeben und Hamas-Sympathisanten das UN-Flüchtlingswerk für Palästina dominieren.

Die Frage ist, ob wir so weiter mitmachen wollen. Ob wir länger dulden wollen, dass unseren Kindern eingetrichtert wird, den Westen und seine Werte zu verachten.

Ich bin mir bewusst, das ist ein heikles Terrain. Die Freiheit der Lehre ist ein hohes Gut. Aber wir haben aus gutem Grund auch von der Rassenlehre Abstand genommen. Niemand unterrichtet mehr an deutschen Universitäten, dass eine Hautfarbe der anderen überlegen sei oder ein Geschlecht dem anderen. Warum also eine Theorie mit viel Geld ausstatten, die gegen alles steht, was die Grundlage unserer freiheitlichen Gesellschaft ausmacht?

Noch mag die Zahl der Lehrstühle vergleichsweise klein sein. Aber es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis die Zahl der Postkolonialisten an deutschen Hochschulen die der Slawisten oder Anglisten übersteigt. In der angelsächsischen Welt ist der Postkolonialismus, der die Welt in Opfer und Täter unterteilt, bereits die dominierende Lehre. Auch in Deutschland ist man als Student gut beraten, sich als gelehriger Schüler zu zeigen, wenn man etwas werden will. Postkolonialismus sei schlicht die am meisten geförderte Diskursmode im gegenwärtigen Kulturbetrieb, befand dieser Tage ein Kenner der Szene in der „Süddeutschen Zeitung“.

Am Dienstag saßen die Präsidentinnen von drei der prestigeträchtigsten Hochschulen der USA vor einem Kongressausschuss, der sich mit den Campus-Ausschreitungen gegen jüdische Studenten befasste. Die Abgeordnete Elise Stefanik aus New York hatte eine leicht zu beantwortende Frage an die Geladenen: „Verstößt der Aufruf zum Völkermord an Juden gegen den Verhaltenskodex und die Anti-Harrassment-Regeln Ihrer Universität, ja oder nein?“

Keiner der Hochschulvertreterinnen mochte die Frage mit „ja“ beantworten. Das hänge vom Kontext ab, erklärte Sally Kornbluth, Präsidenten des MIT. So lautete auch die Antwort von Claudine Gay aus Harvard: alles eine Frage des Kontextes. Nicht leicht zu sagen, aber wenn die Rede in konkretes Verhalten übergehe, könne das Harassment sein, führte Liz Magill, Präsidentin der University of Pennsylvania, aus. „Verhalten heißt: Man muss also erst einen Genozid begehen, damit es gegen die Regeln verstößt? Das ist ihre Antwort Miss Magill?“ war die fassungslose Reaktion der Abgeordneten.

Anfang des Jahres musste die Evolutionsbiologin Carole Hooven in Harvard ihren Platz räumen, weil ihr Beharren auf der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen von der Universitätsleitung als zu kontrovers empfunden worden war – auch daran wurde am Dienstag noch einmal erinnert. Das ist die Lage an amerikanische Elite-Universitäten: Die öffentlich geäußerte Meinung, dass es zwei biologische Geschlechter gibt, gilt als nicht hinnehmbarer Ausdruck von Gewalt, weil sie Studenten in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigen könnte, der Aufruf, alle Juden auszulöschen, hingegen nicht.

Wir sollten dafür Sorge tragen, dass es an deutschen Hochschulen nicht bald auch so aussieht. Viel Zeit bleibt nicht mehr.

© Sören Kunz

Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen

Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass etwas folgt. Was lernt der deutsche Hamas- Anhänger, wenn er der Regierung ins Gesicht lacht? Dass er machen kann, was er will

 Der Bundeskanzler hat der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer zum Geburtstag gratuliert. Am Sonntag ist Frau Friedländer 102 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass schrieb Olaf Scholz auf Twitter beziehungsweise X, wie die Plattform jetzt heißt: „Margot Friedländer weiß um die Anfänge des barbarischen Regimes im Nationalsozialismus und was daraus folgte. Es ist ein großes Glück, dass sie heute wieder in Deutschland lebt und das ‚Nie wieder‘ mit Leben füllt.“

Keine Ahnung, welcher Trottel den Twitteraccount des Kanzlers betreut. Aber besser hätte man die Lage der Juden in Deutschland nicht zusammenfassen können: Man freut sich, dass sie da sind. Aber dafür, dass sich der Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholt, müssen sie schon selbst sorgen. Es wäre jedenfalls deutlich besser, es bliebe nicht einer Hundertjährigen überlassen, das „Nie wieder“ mit Leben zu füllen, sondern der deutsche Staat würde sich der Sache annehmen.

Die Politik überschlägt sich mit Versicherungen, dass man jeder Form des Antisemitismus entschieden entgegentreten werde, daran mangelt es nicht. Es gebe Null Toleranz für antisemitische und israelfeindliche Hetze, sagt die Innenministerin, das sei „die rote Linie“. Auch der Kanzler wiederholt unermüdlich, welche Bedeutung für ihn der Schutz jüdischen Lebens habe. Und dann? Dann ziehen am Wochenende Heerscharen enthusiastischer Hamas-Fans durch deutsche Innenstädte und zeigen, was sie von der roten Linie halten.

Man kann die Sache auch einfach laufen lassen, das ist ebenfalls eine Option. Der Aufruhr beschränkt sich bislang auf Städte, in denen der Anteil arabischstämmiger Menschen besonders groß ist – Berlin, Essen, Frankfurt, Düsseldorf. Auch in München gab es einen Umzug der Palästina-Freunde. Aber bevor jemand am Marienplatz die IS-Flagge schwenkt, muss noch einiges passieren.

Es sind auch nicht Hunderttausende, die laut rufend auf der Straße stehen. In Essen waren es 3000, in Berlin 8000. Es sieht nicht danach aus, als ob morgen schon das Kalifat anbrechen würde.

Aber es geht eine eindeutige Botschaft von den Demonstrationen aus: Wenn wir könnten, wie wir wollten, dann würden wir ganz andere Seiten aufziehen. Und auch der Adressat ist klar: Als Erstes sind die Juden dran, erst danach kommen die anderen.

Es ist ja kein Zufall, dass die Filialen von Starbucks attackiert werden. Der Starbucks-Gründer Howard Schultz ist jüdischen Glaubens, das reicht, um gegen die Scheiben zu spucken und die Gäste zu beschimpfen. Das Signal versteht jeder: Fühlt euch nicht zu sicher!

Ich bin dafür, die Dinge zu sehen und zu beschreiben, wie sie sind. Am Ende geht es um die Frage, wen wir in Deutschland halten wollen: die Juden oder die antisemitischen Troublemaker. Darauf läuft es hinaus.

Der ehemalige Justizsenator von Hamburg Till Steffen und heutige Geschäftsführer der Grünen im Bundestag hat eine Antwort gegeben, die auch meine wäre: „Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen.“ Wenn ich mich nicht täusche, denken viele Menschen in Deutschland ähnlich.

Ich habe noch keine Umfragen gesehen, wie die Deutschen zu den „Free Palestine“-Demonstrationen stehen. Aber ich vermute, wenn sie die aufgeregten jungen Männer sehen, wie sie den Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus in Berlin besteigen, um ihre Flagge zu hissen, sagen sich viele: „Mit diesen Leuten haben wir nichts zu schaffen und wollen es auch nicht.“

Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass ihnen etwas folgt. Was lernt der junge Hamas-Anhänger, wenn er beschließt, der Bundesregierung ins Gesicht zu lachen und mit Gleichgesinnten um den Block zu ziehen?

Dass sein Verstoß gegen die Ermahnungen aus Berlin für ihn und seine Kumpane nachteilige Folgen hat? Nein. Er lernt, dass er ungehindert tun und lassen kann, was er will. Egal, ob er die Taliban-Flagge schwenkt oder Starbucks-Besucher bespuckt – es bleibt bei der Ankündigung, jetzt, aber jetzt auch wirklich durchzugreifen und so etwas nicht mehr zu dulden.

Ich bin neulich auf einen Satz von Helmut Schmidt gestoßen: „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was im Rechtsstaat erlaubt ist.“ SPD-Kanzler Schmidt hat das nach dem Überfall der Befreiungskämpfer der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm gesagt.

Wir sind noch nicht wieder so weit, dass der Staat durch Geiselnahmen oder Anschläge herausgefordert wird. Bislang beschränkt sich die Drohung, den Staat aus den Angeln zu heben, auf wilde Ankündigungen.

Aber für Leute, die jüdisch sind, klingt das bedrohlich genug. Wenn die jüdische Gemeinde in München die Redaktion der „Jüdischen Allgemeinen“ darum ersucht, die Zeitung in einem neutralen Umschlag zu verschicken, damit nicht ersichtlich ist, wer die Abonnenten sind, bekommt man eine Vorstellung, wie die Stimmungslage ist.

Was also bietet sich an? Man kann das Versammlungsrecht einschränken, wenn die begründete Annahme besteht, dass aus einer Demonstration heraus Straftaten begangen werden. Man kann die Strafen für Volksverhetzung (Paragraf130 StGB) und die Billigung von Straftaten (Paragraf140 StGB) heraufsetzen. Man kann auch mal die Polizei in Marsch setzen.

Was spricht dagegen, einen Kessel zu bilden und die Demonstranten einer Personenfeststellung zuzuführen, wenn wie in Essen verbotene Symbole gezeigt werden?

Ich habe dieser Tage eine Mail von einem Polizeibeamten aus Nordrhein-Westfalen erhalten. Wo denn der Wasserwerfer sei, wenn man ihn brauche, hatte ich in einem Kommentar bei „Welt TV“ gefragt. Die Frage könne er mir gerne beantworten, schrieb er mir: „Im Carport.“ Die meisten Einsatzleiter seien der Meinung, dass Wasserwerfer nicht mehr in die Zeit passten. Ich war als Student in Hamburg bei einer Reihe linksradikaler Demos dabei. Ich kann nur sagen, dass ein Wasserwerfereinsatz eine durchaus ernüchternde Wirkung auf die Beteiligten hat.

Es gehe darum, die Trauer auf die Straße zu tragen, heißt es aus der muslimischen Community. Wenn es denn um Trauerbekundungen ginge! In Berlin zeigten Videoaufnahmen einen Mann, der mit einem selbst gebastelten „Free Palestine“-Schild zu den Demos erschienen war. Allerdings hatte er den Slogan um einen kleinen Zusatz ergänzt: „Free Palestine from Hamas“. Das reichte, um ihm den Zugang zu verwehren. Kaum waren Aktivisten seiner ansichtig geworden, schoben sie ihn rüde zur Seite.

Noch ist es zu früh, um die Parolen über die rassistische deutsche Mehrheitsgesellschaft wieder hervorzukramen. Aber es dauert nicht mehr lange, bis es so weit ist. In einer Reihe angesehener Blätter finden sich die ersten Texte, warum die eigentlichen Antisemiten nicht unter Muslimen zu finden seien, sondern unter Rechtsradikalen. Den Anfang machte die „Spiegel“-Redakteurin Özlem Topcu mit einem Leitartikel, dass die wahre Gefahr von Rechtsextremisten ausgehe.

In der „taz“, dem linken Zeitungsprojekt aus Berlin, verstieg sich ein Autor zu der These, dass Deutschland nicht deshalb ein Problem mit muslimischem Antisemitismus habe, weil wir zu großzügig bei der Einwanderung aus arabischen Ländern waren. Nein, im Gegenteil: Es gebe so viel Antisemitismus unter Muslimen, weil wir die Leute nicht schnell genug eingebürgert hätten. Judenhass als Reflex gegen eine zu restriktive Einwanderungspolitik: Das ist zumindest originell.

Die Bundesregierung will die Einbürgerung erleichtern. Der entsprechende Gesetzesentwurf wurde vom Kabinett im August auf den Weg gebracht. Vielleicht sollte man im Lichte der Ereignisse noch einmal darüber nachdenken, ob das wirklich so schlau ist. Man kann auch über einen Entzug der Staatsbürgerschaft nachdenken, sicher. Aber es ist sehr viel einfacher, jemanden den Stuhl vor die Tür zu setzen, der noch nicht im Besitz eines deutschen Passes ist.

Wie sagte Till Steffen: Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen. Wenn wir weiter nichts tun, wird’s genau andersherum kommen.

© Silke Werzinger

Was haben wir in Palästina verloren?

Milliarden an Euro hat die EU-Kommission nach Gaza und ins Westjordanland geschickt, genug um ein Singapur im Nahen Osten aufzubauen. Und jetzt? Es ist Zeit für die Frage, ob Europa sich nicht ganz zurückziehen sollte

 Zum Glück hängt die Sicherheit Israels nicht von deutscher Unterstützung ab. Die Sache sieht nämlich so aus: Die Israelis erhalten unseren moralischen Beistand, die anderen unsere finanzielle Zuwendung. Das mag etwas überspitzt sein, aber eben nur etwas.

Es ist nicht ganz einfach, sich einen Überblick über die Hilfsgelder zu verschaffen, die bei den Palästinensern landen. Es gibt so viele Förderprogramme und Fördertöpfe, da verliert man schnell die Orientierung.

Die Zahlen, die als gesichert gelten können, sind aber auch so abenteuerlich: 700 Millionen fließen allein aus EU-Mitteln in die Palästinensergebiete. Dazu kommen die Gelder diverser NGOs, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Leid der Bevölkerung zu lindern. Und dann sind da natürlich die Zuweisungen der Vereinten Nationen, über eine Milliarde Euro im Jahr.

Die UN unterhält sogar ein eigenes Flüchtlingswerk ausschließlich für die Palästinenser. Das ist einzigartig. Es gibt viele Gruppen auf der Welt, die es schwer haben. Aber keine Gruppe hat es so weit gebracht, dass die UN sich mit über 30000 Beschäftigten exklusiv nur um sie kümmert.

Und das Beste daran ist: Man muss nicht einmal selbst Vertriebener sein, um als anspruchsberechtigt zu gelten. Es reicht, dass man Großeltern hatte, die mal vertrieben wurden. So steht es in den Statuten des UNRWA. Als Flüchtlinge zählen alle, die aufgrund des arabisch-israelischen Krieges von 1948 ihre Lebensgrundlage verloren haben, sowie deren Kinder und Kindeskinder und Kindeskindeskinder. Von einer solchen Ewigkeitsgarantie hat Erika Steinbach immer geträumt: Vertriebener bis in die fünfte Generation.

Deutschland spielt als Finanzier eine zentrale Rolle. Die Bundesrepublik ist nicht nur der größte Nettozahler der EU. Ohne deutsche Gelder würde es auch bei den Vereinten Nationen sehr schnell sehr eng werden. Das Humanitäre steht im Auswärtigen Amt hoch im Kurs. Dagegen ist nichts zu sagen, man darf halt nicht so genau hinsehen.

Wer sich als Unkundiger für die Topografie von Gaza interessiert, der lernt zu seiner Überraschung, dass es nicht nur ein, sondern gleich zwei Gaza gibt: Das eine, das man sieht – Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser. Und ein anderes tief unter der Erde versteckt. 500 Kilometer Tunnelsystem umfasst diese Stadt unter der Stadt, inklusive Werkstätten, Krankenstationen und Rückzugsräumen für Tausende Hamas-Kämpfer.

Woher die Hamas all den Beton hat und den Stahl für Armierungen und die Technik für das ausgeklügelte Belüftungssystem? Ein Geheimnis, das auch den Experten im Auswärtigen Amt Rätsel aufgibt. Schließlich leben die Palästinenser in einem Freiluftgefängnis, so hört man es auf allen Kanälen. Gefängnisse haben es an sich, dass streng kontrolliert wird, was rein und was raus kommt.

Die EU-Kommission hat wiederholt versichert, dass von den vielen Milliarden Euro, die seit 1993, dem Beginn der Gespräche über eine Zwei-Staaten-Lösung, in das Westjordanland und den Gazastreifen geflossen sind, nichts in die Finanzierung des Terrors gegangen sei. Das könne man garantieren. So lautet auch die Erklärung der Bundesregierung: Kein Cent für die Hamas. Ist das nun Naivität oder bewusste Täuschung?

Es gibt ein eindrucksvolles Video, in dem Menschen die Wasserleitungen ausbuddeln, die eine der unzähligen NGOs verlegen ließ, damit auch durch Gaza frisches Wasser fließt. Dann schleppen sie die Leitungen in eine Waffenwerkstatt, wo sie in handliche Teile zerlegt und anschließend mit Sprengstoff gefüllt werden. Da das Video von der Hamas produziert wurde, darf man davon ausgehen, dass es sich nicht um israelische Propaganda handelt.

Auch die Kindergärten und Schulen, die das Flüchtlingswerk unterhält, dienen der Hamas. In einem anderen Video, das dieser Tage zirkuliert, berichtet die Anführerin der Hamas-Frauenorganisation, dass die Ausbildung der Jugend zum Dschihad fest in der Hand der Schwestern liege.

Das Gute am Palästinenser: Er gibt freimütig Auskunft, über das, was er vorhat. Darin ähnelt er seinem großen Vorbild, dem deutschen Reichskanzler Adolf Hitler. Auch der hat, wie man weiß, kein Blatt vor den Mund genommen. Die Welt zog es vor, seine Ankündigungen für Aufschneiderei zu halten, bis sie eines Besseren belehrt wurde.

Was der kleine Palästinenser in der mit deutschem Steuergeld finanzierten Schule lernt? Dass erst Friede auf Erden herrsche, wenn der letzte Jude und der letzte Christ vom Erdboden verschwunden seien, auf dass Allahs Sonne für immer über die Gläubigen scheine, Inschallah. Aber im Auswärtigen Amt in Berlin zieht man es vor, das für Übertreibungen zu halten.

Was hätte man mit dem Geld nicht alles machen können? 8,5 Milliarden Euro allein an EU-Geldern, das ist eine Stange Geld. Stellen wir uns für einen Augenblick vor, die Palästinenser hätten es nicht für Raketen und unterirdische Tunnel ausgeben, sondern für den Aufbau eines lebensfähigen Staates. Ein Singapur des Nahen Ostens hätte aus Gaza werden können, die Bahamas des Mittelmeers. Stattdessen funktioniert nicht mal die Kanalisation.

Alle schimpfen auf die Israelis, weil sie Wasser und Strom abgedreht haben. Niemand scheint sich zu fragen, warum man in Gaza überhaupt auf Wasser und Elektrizität aus Israel angewiesen ist. Selbstverständlich hat die internationale Gemeinschaft auch beim Bau moderner Entsalzungsanlagen sowie bei der Stromerzeugung geholfen. Das Elektrizitätswerk wurde leider versehentlich von der Hamas in die Luft geblasen. Die Entsalzungsanlage ist verrottet.

Wie es weiter geht? Die EU ringt um eine gemeinsame Linie. In den Zeitungen steht, dass sich Europa zum Affen mache, weil sich die führenden Leute nicht einigen können. Alles wahr. Die entscheidende Frage wird allerdings nie gestellt: Warum die EU überhaupt einen Staat finanziert, mit dem uns Europäer nichts aber auch gar nichts verbindet?

Wir haben mit dem Westjordanland und Gaza keine gemeinsame Grenze oder Geschichte. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache und teilen nicht dieselbe Kultur. Tatsächlich stehen uns die Palästinenser so nah wie die Aborigines in Australien. Kein Spanier oder Luxemburger oder Pole käme auf die Idee, den armen Menschen im Busch mit Milliarden unter die Arme zu greifen. Warum also den Palästinensern?

Anderseits: Wir machen ja auch bei der UN jeden Unsinn mit. Wenn der Vertreter Pakistans zu einer Schweigeminute für die „Opfer der israelischen Besatzung“ aufruft, erhebt sich auch die Abgesandte der Bundesrepublik, um den „Märtyrern“ des Befreiungskampfes ihre Reverenz zu erweisen. So wie wir uns auch brav der Stimme enthalten, wenn in der UN-Vollversammlung die Feinde des Westens eine Resolution einbringen, in der Israel dazu aufgerufen wird, sofort Frieden mit der Hamas zu schließen. Sich in dieser Situation an die Seite Israels stellen? Um Gottes willen, das könnte ja die Stimmen des Globalen Südens verärgern!

Die tschechische Verteidigungsministerin hat angekündigt, dafür eintreten zu wollen, dass Tschechien die Vereinten Nationen verlasse. Eine Organisation, in der Terroristen angefeuert würden, sei kein Platz für ein Land, das sich der Durchsetzung von Menschenrechten verpflichtet fühle. Zu so einem Schritt werden wir in Deutschland in hundert Jahren nicht in der Lage sein. Wir drücken uns lieber an den Rand und geben das dann als klare Linie aus.

Ab November übernimmt übrigens der Iran, also das Regime, das hinter dem Angriff vom 7. Oktober steht, das Frauen schlagen, vergewaltigen, foltern und ermorden lässt, weil sie einfachste Rechte verlangen, das gerade wieder geschworen hat, Israel vom Erdboden zu tilgen, den Vorsitz des „UN Human Rights Council Social Forum“. Hat man in Berlin ein Wort des Protests vernommen, ein Zeichen, dass man die Scharade nicht länger mitmachen will?

Es wäre alles zum Schreien komisch, wenn es nicht so abgrundtief traurig wäre.

© Michael Szyszka

Die Pro-Palästina-Verirrten: Hassen sich Linke und Schwule so sehr selbst?

Warum drücken linke Künstler und Studenten einer Bewegung die Daumen, die alles verachtet, wofür man links der Mitte steht? Verblendung? Selbsthass? Oder einfach Feigheit?

 An der Rosa Lila Villa, dem Zentrum der queeren Community in Wien, hängt eine Flagge. Es ist nicht die Regenbogenflagge, wie man denken sollte. Oder die Progress-Pride-Flagge, die neben dem Regenbogen noch eine Reihe weiterer Streifen enthält, um auch Intersexuelle und Non-Binäre einzubeziehen. Aus dem ersten Stock hängt die Flagge Palästinas, also jenes Terrorstaates, der für sich alles an Land beansprucht, was heute Israel ist.

Warum hängen schwule Aktivisten die Flagge eines Landes aus dem Fenster, in dem sie keine zehn Minuten unbeschadet überstehen würden, würden sie ihre sexuellen Neigungen offen zeigen?

Kaum eine Region der Welt ist für Schwule und Lesben so gefährlich wie die arabische, von Transmenschen gar nicht zu reden. Eine Reihe arabischer Länder haben ihre Gesetze in den letzten Monaten noch einmal verschärft. In Jordanien hat das Parlament gerade ein Cybercrime-Gesetz verabschiedet, dass die „Anstiftung zur Unsittlichkeit” unter drakonische Strafen stellt. Im Irak wird diskutiert, ob man für Homosexualität nicht die Todesstrafe einführen sollte. Auch in Gaza ist jede Form der gleichgeschlechtlichen Liebe selbstverständlich verboten.

Wenn es ein Symbol bräuchte für alles, was auf der Linken schiefläuft, dann ist es die Palästinaflagge vor dem schwulen Zentrum in Wien. Dass auch hierzulande viele arabische Männer nichts von Frauen- oder Minderheitenrechten halten, ist keine Überraschung. Aber auf den Straßen stehen ja nicht nur junge Araber, um ihre Solidarität mit der Hamas zu bekunden. Neben ihnen laufen junge, weiße Mittelschichtskinder, um aus Leibeskräften „Free Palestine” zu rufen, so als gelte es, die Vertreibung der eigenen Großeltern gleich mit rückgängig zu machen.

„Von der Maas bis an die Memel” heißt heute „From the River to the Sea”. Das ist familiär eingeübt, könnte man sagen. Trotzdem bleibt die Frage, weshalb sich progressiv eingestellte Menschen im Westen lieber mit ihren potenziellen Schlächtern solidarisieren als mit Leuten, die sie in ihrem Emanzipationsbestreben immer unterstützt haben? Der „taz“-Redakteur Jan Feddersen spricht von einem Fall von „Politpathologie”. Die Hinzuziehung psychiatrisch geschulten Personals ist bei der Suche nach einer Erklärung keine schlechte Idee. Aber es gibt einen ideologischen Kern, das sollte man nicht übersehen.

Die große ideologische Klammer heißt Antikolonialismus. Nach den Genderwissenschaften hat kein Fach eine solche Karriere hingelegt wie die „Postcolonial Studies”. An nahezu jeder Uni, die etwas auf sich hält, kann man sich inzwischen in dieses Fach einführen lassen.

Für eine Theorie, die sich berufen fühlt, zu allen politischen Fragen Stellung zu beziehen, ist es misslich, dass ihr Untersuchungsgegenstand als historisch erledigt betrachtet werden kann. England, Spanien, Portugal – die Zeit der großen Kolonialreiche liegt lange zurück. Also hat man sich auf die Suche nach einem aktuellen Beispiel gemacht und ist dabei auf Israel verfallen, als letzte Bastion weißen Überlegenheitsdenkens.

Dass Israel auch ethnisch weitaus diverser ist als viele Gesellschaften, in denen man jetzt gegen Israel demonstriert, wird großzügig übersehen. Es gibt in Israel Juden aus Äthiopien, Mali und dem Jemen. 1,9 Millionen Israelis sind gar keine Juden, sondern Muslime. „Schluss mit Apartheid und Siedlerkolonialismus”, lautet dennoch die Parole. Auch die Postkolonialisten träumen von einer Ein-Staaten-Lösung: einem Staat, in dem Israel nicht mehr existiert.

In dieser Welt gilt Hamas selbstredend nicht als Terrorsekte, sondern als revolutionäre Kraft. „Es ist ungemein wichtig, dass wir Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen verstehen, die progressiv sind und damit Teil der globalen Linken”, lautet ein bekanntes Zitat von Judith Butler, einer der Vordenkerin der intersektionalen Linken.

Dass auch Butler in Gaza nichts zu lachen hätte, sei nur nebenbei angemerkt. Jüdisch und lesbisch, das ist eine besonders schlechte Kombination, wenn man in Direktkontakt mit den Befreiungskämpfern der Hamas tritt. Möglicherweise ist es eine spezifische Form des Selbsthasses, der sich hier ausdrückt.

Viele haben sich gefragt, wie es sein kann, dass junge Menschen, die eine ordentliche Schulbildung durchlaufen haben, vor dem Auswärtigen Amt sitzen, um „Free Palestine from German Guilt” zu skandieren. Die Rede vom Schuldkult hielt man doch für eine rechte Obsession. Zur Entschuldigung der jungen Menschen muss man sagen: Sie haben eben gut zugehört bei ihren Professoren an der Humboldt-Uni.

Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht nur für Rechte ein Ärgernis, sondern auch für viele Linke. Dass die gegen Israel gerichtete Boykottbewegung BDS („Boycott, Divestment, Sanctions”) in Deutschland nie so Fuß fassen konnte wie in Spanien oder Großbritannien, liegt auch daran, dass es in Teilen des politischen Establishments immer noch ein Bewusstsein dafür gibt, was die Deutschen den Juden angetan haben.

Parallel zur Antikolonialismusforschung ist deshalb eine eigene Profession entstanden, die darauf abzielt, den Judenmord zu relativieren. Einer der Köpfe ist der Australier Anthony Dirk Moses, der die Einzigartigkeit des Holocaust einen „Glaubenssatz“ nennt, den es abzulegen gelte. Auch hierzulande gibt es Vertreter dieser Relativierungszunft, angeführt vom Hamburger Professor Jürgen Zimmerer. Bei ihm ist nicht von „Fetischisierung” des Holocaust die Rede, sondern von einer unseligen „Fixierung” – gemeint ist dasselbe.

Muss man sich zu den Verbrechen der Hamas äußern? Das ist eine ganz andere Frage. Nein, muss man nicht, wäre meine Antwort. Es gibt auch das Recht, nichts zu sagen. Das unterscheidet Demokratien von Systemen, in denen man ständig gezwungen ist, sich zu positionieren. Aber wenn Leute, die ansonsten bei jeder Gelegenheit eine Protestnote verfassen, plötzlich ganz still sind, dann darf man das ebenfalls als Meinungsbekundung verstehen.

Der „Welt”-Reporter Frédéric Schwilden hat vor ein paar Tagen bei einer Reihe bekannter Polit-Influencer angefragt, ob sie ihm für einen Aufruf gegen Judenhass ein oder zwei Sätze schicken könnten. Bis auf Diana zur Löwen und Luisa Neubauer hatten alle leider gerade etwas anderes zu tun.

„Leider können wir aus zeitlichen Gründen Ihrer Nachfrage nicht nachkommen”, antwortete das Management von Marius Müller-Westernhagen. „Sophie Passmann ist momentan auf Tour unterwegs”, schrieb die Agentur der bekannten Feministin. „Leider werden die beiden nicht dabei sein können“, erklärte die Agentur von Felix Lobrecht und Jasmina Kuhnke.

Gut, kann man sagen: Springer, mit denen wollen viele nicht reden. Aber die seltsame Sprachlosigkeit ist nicht nur dem „Welt”- Reporter aufgefallen. Auch in der „taz” hat man sich Gedanken gemacht, warum ausgerechnet ein Milieu, in dem Haltung zeigen als oberste Tugend gilt, jetzt so schweigsam ist.

Sind Leute wie Marius Müller-Westernhagen oder Jasmina Juhnke Antisemiten? Vermutlich nicht. Es ist bei vielen schlicht Feigheit, die sie davon abhält, ein klares Wort zu finden. Man wolle die Friends und Allies nicht vor den Kopf stoßen und einen Boykott der Künstler und Künstlerinnen aus dem Globalen Süden riskieren, erklärte ein Theatermacher dem Redakteur der „taz”, als der wissen wollte, was der Grund für das kollektive Stillhalten sei.

Vielleicht muss man doch noch einmal daran erinnern, wovon wir reden. Wir reden von Schwangeren, denen bei lebendigem Leib der Fötus aus dem Bauch geschnitten wurde. Wir reden von 15-jährigen Mädchen, die so brutal vergewaltigt wurden, dass ihr Becken brach. Wir reden von Eltern, die zusehen mussten, wie ihren Kindern die Augen ausgestochen wurden, und von Kindern, die erlebten, wie man erst Mutter und Vater mit Benzin übergoss und anzündete, bevor sie selbst an die Reihe kamen.

Die neue, linke Theorie der Israelfeindlichkeit ist eine furchtbare Verirrung. Sie ist ein Gift, das alles verdirbt, was mit ihr in Berührung kommt. Am Ende bleibt dort, wo ein Herz war, nur ein schwarzes Loch.

© Sören Kunz

Sind die Falschen gekommen?

Der Kolumnist dachte lange, ein friedliches Miteinander der Kulturen sei möglich. Jetzt ertappt er sich bei dem düsteren Gedanken, ob nicht doch die Leute recht haben, die immer sagten, wir würden die Falschen ins Land lassen

 Aus dem Polizeibericht der Stadt Berlin von Sonntag, dem 15. Oktober: „Gestern Vormittag alarmierte eine Zeugin gegen 11.00 Uhr die Polizei zu einem Studentenwohnheim an der Lehrter Straße in Moabit. Zuvor stellte sie im Eingangsbereich des Wohnhauses einen mit roter Farbe aufgemalten Davidstern in der Größe von 30 x 30 cm fest…“

„…gegen 13.00 Uhr gestern Mittag erhielt die Polizei Kenntnis von drei Sachbeschädigungen am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg. Die dazu entsandten Einsatzkräfte stellten dort an den Fassaden dreier Wohnhaus Davidsterne mit zugehörigen hebräischen Wörtern fest. Die Einsatzkräfte machten die Farbschmierereien unkenntlich…”

„…Abends, gegen 18.45 Uhr stellten Einsatzkräfte der Polizei in Friedrichshain israelfeindliche Graffiti fest…”

„… gegen 20.30 gestern Abend stellten Polizeieinsatzkräfte auf dem Gehweg der Corinthstraße in Friedrichshain zwei auf eine Rampe zur barrierefreien Überwindung des Bordsteins gemalte Davidsterne fest…”

„…gegen 22.15 riefen Zeugen die Polizei zum U-Bahnhof Pankstraße in Gesundbrunnen. Dort bemerkten sie vorher mehrere israelfeindliche Aufkleber und einen pro-palästinensischen Schriftzug an einem Geldautomaten…”

„…im weiteren Verlauf der polizeilichen Maßnahmen stellten die Polizisten eine Farbschmiererei an der Fassade eines Mehrfamilienhauses am Planufer fest. Dabei handelte es sich um einen durchgestrichenen Davidstern mit einem daneben befindlichen Schriftzug. Symbol und Schriftzug, in den Größen von ungefähr 80 x 60 cm sowie 120 x 45 cm, machten die Einsatzkräfte unkenntlich.”

Und so weiter und so fort. Und das ist, wie gesagt, nur der Bericht vom Sonntag.

Ich bin ein eher heiter gestimmter Mensch, wie Leser meiner Kolumne wissen. Mein Motto auf Twitter lautete bis vor wenigen Tagen: „Zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben”, ein Satz des österreichischen Volksdramatikers Johann Nestroy. Ich habe den Satz gelöscht. Er entspricht nicht mehr meiner Geistesverfassung.

Ich dachte immer, wir bekommen das hin: ein relativ friedliches Miteinander der Kulturen. Jetzt ertappe ich mich bei dem düsteren Gedanken, ob nicht vielleicht doch die Leute recht haben, die immer davor warnten, wir würden die Falschen ins Land lassen.

Es sind ja nicht nur ein paar arabische Jugendliche, die auf der Straße ihre Verachtung für Israel zur Schau stellen. Dahinter steht ein fest gefügtes Milieu, in dem es zum guten Ton gehört, Juden für das Unglück der Welt zu halten, weshalb man ihnen auch Dinge antun darf, die sich ansonsten verbieten.

Es lässt sich auch nicht mehr so einfach in den Griff bekommen. Ein Freund hat ein Kind an einer Schule im Berliner Wedding. Vor zwei Monaten sah der Sohn zufällig, dass im Geografiebuch des Klassenkameraden der Staat Israel mit Filzstift unkenntlich gemacht worden war. Weil ihm der Vater eingebimst hatte, dass man gegen Antisemitismus aufstehen müsse, wandte sich das Kind an die Lehrkraft. Er solle keinen Aufstand machen, sagte der Lehrer, das bringe alle nur in Schwierigkeiten. Ein Einzelfall? Nein. So sieht die Realität an deutschen Schulen aus, wie jeder bestätigen kann, der sich auskennt.

Wir dachten, unsere Großzügigkeit würde uns mit Sympathie vergolten. Wer erst einmal die Vorzüge der freien Welt genossen habe, werde selbst zum Fürsprecher derselben. So dachten wir. Aber so ist es nicht gekommen.

Wir werden im Gegenteil dafür verachtet, dass auch Frauen so leben können, wie sie wollen; dass es Schwulen und Lesben erlaubt ist, ihre Zuneigung zu zeigen; dass Minderheiten wie die Transmenschen unter dem Schutz des Staates stehen. Wenn wir ausnahmsweise einmal Härte gegen die Feinde unserer Ordnung zeigen, indem wir ihnen verbieten, aus Freude über den Mord an Unschuldigen auf der Straße zu tanzen, heißt es, wir wollten ein „Pogrom“ veranstalten.

Migration ist ein Nummernspiel. Solange die Zahl der Zuwanderer eine bestimmte Größenordnung nicht übersteigt, führt der einzige Weg, um es in der Aufnahmegesellschaft zu schaffen, über Integration. Wer sich der Anpassung verweigert, bleibt außen vor. Wenn hingegen die Einwanderer-Community, die man vorfindet, groß genug ist, entfällt der Integrationszwang.

Anpassung ist mit Veränderung verbunden, Veränderung bedeutet Stress. Warum sich Stress machen, wenn man ihn vermeiden kann? Also errichten viele eine Kopie der Welt, die sie zurückgelassen haben, wenn sie das können. Damit ändern sich allerdings auch für diejenigen, die schon vorher da waren, die Regeln des Zusammenlebens.

An vielen Schulen beträgt der Migrantenanteil inzwischen 40 Prozent, und er wird weiter steigen. Das hat nicht nur Folgen für die Akzeptanz der Werte, die wir für selbstverständlich hielten, es hat auch Auswirkungen auf das Bildungsniveau. Dass in Berlin inzwischen nur zwei von fünf Achtklässler einfachste Rechen- und Textaufgaben bewältigen, liegt auch am wachsenden Anteil von Schülern, die nie richtig lesen und schreiben gelernt haben.

Wer es sich leisten kann, bringt sich in Sicherheit. Entweder schickt er seine Kinder auf eine Privatschule, wo die Welt noch in Ordnung ist, oder auf eine konfessionelle Einrichtung. Auch hier gibt es Muslime. Aber die stammen ausnahmslos aus Elternhäusern, in denen Antisemitismus als degoutant gilt und Leistungswille als lobenswert. Selbstverständlich hat sich über die Jahre eine migrantische Mittelschicht gebildet, wie die vielen arabischen und türkischen Namen in den Medien oder der Kultur zeigen, nur ist sie gemessen an der Zahl der Einwanderer zu klein.

Ich war lange optimistisch. Auch die Deutschen haben schließlich zur offenen Gesellschaft gefunden. Selbst aus beinharten Nazis wurden passable Demokraten. Sie mussten es allerdings auch werden, das ist möglicherweise der entscheidende Unterschied. In der frühen Bundesrepublik gab es einen Anpassungszwang, dem sich niemand, der etwas werden wollte, entziehen konnte.

Das ist heute anders. Es gibt nicht nur ein lokales Supportsystem, auf das man sich als Zuwanderer verlassen kann. Darüber hinaus besteht eine staatliche Infrastruktur, die jede Kritik als diskriminierend diffamiert, und jeden Aufruf, sich in der Schule zusammenzureißen, als rassistisch.

Vor ein paar Tagen machte ein Video die Runde, indem eine junge Deutsch-Palästinenserin anderen deutsch-palästinensischen Müttern empfahl, ihren Kinder rechtzeitig Begriffe wie „Apartheid”, „Kolonialismus” und „Besatzung” beizubringen. Dass die Frau wie die Jahrgangsbeste eines Antidiskriminierungsseminars redete, lag daran, dass sie Wort für Wort wiedergab, was in diesen Seminaren gelehrt wird.

Wie geht es weiter? Das Problem ist, dass Politiker überwiegend aus einem Milieu stammen, in dem Zureden noch immer geholfen hat. Es hat etwas Rührend-Komisches, wie sie an die Kraft von Bildungsprogrammen glauben. In Berlin hat man es fertig gebracht, sogar Islamisten mit Fördergeldern zuzuschütten, wenn sie dafür versprechen, mal einen Blick ins Grundgesetz zu werfen.

Was also ist zu tun? Ich wäre für radikale Aufklärung. Wer es ablehnt, einen Eid auf das Existenzrecht Israels abzulegen, kann nicht deutscher Staatsbürger werden. Zu viel verlangt? Nun ja. Wir hören schließlich ständig, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei. Da kann man von den Leuten, die Deutsche werden wollen, doch auch verlangen, dass sie diesen Satz unterschreiben.

Ich höre den Einwand: Da sagt doch jeder Opportunist einfach ja. Das stimmt, aber etwas mehr Opportunismus könnte nicht schaden. Auch die alten Nazis haben sich nicht aus Einsicht, sondern aus Konformismus gewandelt.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Unterstützer der palästinensischen Sache ihr Wut nicht auf die Straße tragen würden, wenn sie nicht die Türen ihrer jüdischen Nachbarn mit Davidsternen beschmierten, wenn sie nicht ihre Kinder dazu ermuntern würden, Andersdenkende auf dem Schulhof zu malträtieren.

Wie einer wirklich denkt, das kann man nie wissen. Das bleibt ihm überlassen. Aber wenn jeder seinen Hass für sich behielte, wäre schon viel gewonnen.

© Silke Werzinger

Wir müssen uns entscheiden

Wir Deutsche sind Meister im Lavieren. Wir versichern Israel unserer Solidarität – aber wir wollen es uns auch mit der Gegenseite nicht verscherzen. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit: entweder oder

 Es gibt Fragen, die will man nicht stellen. Man versucht ihnen auszuweichen, weil sie hart und brutal sind und keinen Platz für Zwischentöne lassen. Eine solche Frage lautet: Auf welcher Seite stehst Du?

Ich verstehe den Widerwillen. Niemand will gezwungen sein, sich zuordnen zu müssen, das beleidigt unseren Intellekt. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß, sondern bunt und vielfältig. Aber manchmal ist sie eben doch schwarz-weiß. Dann muss man sich entscheiden, wo man hingehört, auf diese oder die andere Seite. Auch Lavieren ist dann eine Antwort. Und Relativierung.

Ich habe das schon einmal erlebt, vor 22 Jahren, als die Abgesandten von Osama bin Laden die Twin Towers in New York zum Einsturz brachten. Aus dem Leichenberg stieg noch der Rauch, da wandte man sich in Deutschland bereits der Frage zu, ob nicht die Amerikaner selbst schuld an ihrem Unglück seien. So was kommt von so was, lautete kurz gefasst die Antwort.

Bei Biolek saß der Nahostexperte Michael Lüders und erklärte die „Hassgefühle“ und die „Frustration“ der Muslime mit der „narzisstischen Kränkung“, die der Westen durch seine Politik verursacht habe. Roger Willemsen dozierte im Willemsenton über das „sublime Behagen“, nicht mehr „diesem Terror des Amüsements, der Albernheit“ ausgeliefert zu sein. Und im Berliner Haus der Kulturen diskutierte eine Runde über die „aggressive Symbolik“ der Türme als Wahrzeichen für Kapitalismus und Größenwahn. Ich werde manchmal gefragt, ob es einen Moment gegeben habe, der mich endgültig von den Linken entfremdet habe. Das war er.

Wir erleben wieder so eine Zeit, an dem es kein Aus weichen gibt. Wir sind trainiert darauf, allen Seiten unser Ohr zu schenken und Verständnis zu zeigen. Wir sagen, es gibt doch auch Grautöne. Nur: Wo sollen die Grautöne sein, wenn Männer und Frauen vor den Augen ihrer Kinder abgeschlachtet werden und Kinder vor den Augen ihrer Eltern? Wenn Babys geköpft werden und auf den Körper geschändeter Frauen uriniert wird?

Die Deutschen sind geübt darin, es sich mit niemandem zu verderben. Wir klammern uns an die Vorstellung, wir könnten mit allen gut Freund sein – mit den Iranern, die an der Bombe basteln, ebenso wie mit den Leuten, denen sie in Teheran nach dem Leben trachten. Deshalb beschwören wir auch die Solidarität mit Israel und überweisen gleichzeitig Millionen an deren ärgste Feinde. Wir nennen das wertegebundene Außenpolitik.

Wird es dieses Mal anders sein? Werden wir uns ausnahmsweise einmal durchringen, Farbe zu bekennen?

Der Bundespräsident hat die israelische Flagge vor dem Schloss Bellevue aufziehen lassen. Auch vor dem Reichstag und dem Kanzleramt weht der blaue Davidstern auf weißem Grund. Das ist eine schöne Geste, man soll sie nicht zu gering schätzen. Aber wichtiger als das Aufziehen von Flaggen wären Entscheidungen.

Es ist an der Zeit, dass wir ein paar Leute vor den Kopf stoßen. Angefangen mit den Vertretern der Muslimverbände, die immer die neueste Studie zur Hand haben, wie muslimfeindlich angeblich die deutsche Gesellschaft sei, aber jetzt nicht einen klaren Satz über die Lippen bekommen, wenn in Israel ganze Siedlungen ausgelöscht werden. Wer so versagt wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der kann kein geschätzter Gast mehr sein. Er hat sich entschieden, für die andere Seite.

Das gilt auch für die Imame und Moscheevertreter, die sich vor den Computer setzen und über das Widerstandsrecht des palästinensischen Volkes dozieren. Der wahre Aggressor sei Israel, erklärte am Wochenende der Berliner Imam Mohamed Matar, der eine von vielen Linken geschätzte „Begegnungsstätte“ in Neukölln unterhält. Begegnungsstätte? Warum nicht, aber künftig ohne deutsche Beteiligung. Beziehungsweise: mit deutscher Beteiligung, nämlich der des Verfassungsschutzes, aber ohne Repräsentanten der Stadt.

„Wir akzeptieren es nicht, wenn hier auf unseren Straßen die abscheulichen Attacken gegen Israel gefeiert werden”, hat der Kanzler gesagt. Auch das würde man gerne als Ankündigung einer neuen Entschiedenheit lesen. Wir werden nicht jeden des Landes verweisen können, der stolz die Videos ermordeter Juden herumzeigt. Aber wir können die Polizei anweisen, vom Schlagstock Gebrauch zu machen, wenn auf einer Demonstration der Judenhass gefeiert wird. Die Innenministerin kann übrigens auch palästinensische Vereinigungen verbieten, so wie sie rechtsextreme Vereine verboten hat.

Zu den erfreulichen Entwicklungen gehört, mit welcher Klarheit Regierungsvertreter wie Cem Özdemir, Kevin Kühnert oder der SPD-Außenpolitiker Michael Roth die Dinge beim Namen nennen. Aber das gilt leider nicht für alle, die im Dienste dieser Regierung stehen. Wenn die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sich in ihrer ersten offiziellen Äußerung nach dem 7. Oktober lieber mit Elon Musk und den Umgangsformen auf Twitter beschäftigt, statt mit den Hamas-Sympathisanten auf deutschen Straßen, dann ist das ebenfalls eine Botschaft, eine ziemlich klare sogar.

Israel ist weit entfernt. Aber wir sollten keinem Irrtum erliegen: Wenn die Islamisten mit den Israelis fertig sind, hören sie nicht auf. Es sind unsere Werte, die sie hassen und bekämpfen, die Liberalität und Freiheit und Offenheit des Westens. Nur weil wir in den letzten Jahren verschont geblieben sind, heißt das nicht, dass der Terror nicht auch uns wieder heimsuchen wird. Vor Ofakim und Sderot waren Berlin, Paris und Nizza die Austragungsstätten der islamistischen Terrorspiele. Haben wir das schon vergessen?

Man muss aufpassen, dass man sich nicht von der Wut hinweg tragen lässt. Auch das ist eine Lektion, die ich vor 22 Jahren gelernt habe. In einer WhatsApp-Gruppe, der ich mich am Sonntag angeschlossen habe, tauchte plötzlich der Name des Berliner SPD-Parteivorsitzenden Raed Saleh auf. Kann man einer Partei vertrauen, die einen Deutsch-Palästinenser an der Spitze hat, schwang als Frage mit. Wir sollten uns davor hüten, jemanden, nur weil er Palästinenser ist, für verdächtig zu halten.

Wird der Mann, der in einem Dorf im Westjordanland geboren wurde, anders auf den Konflikt im Nahen Osten sehen als jemand, der aus Israel stammt? Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Wird er im Gespräch mit Freunden die Netanjahu-Regierung verflucht haben? Vermutlich auch das. Aber das eine ist, gegen die israelische Siedlungspolitik zu sein – und etwas ganz anderes, zum Mord an unschuldigen Menschen zu schweigen. Wenn ich den sieben-jährigen Jungen sehe, der von den Schergen der Hamas malträtiert wird, dann sehe ich meinen Sohn. Ich hoffe, jedem Muslim in Deutschland geht es genauso.

Vielleicht bedeutet Solidarität ja ausnahmsweise wirklich einmal Solidarität. Aber ich ahne schon, wie es weitergeht. Mit jedem Tag wird die Zahl der Experten größer werden, die uns erklären, warum Israel nicht eskalieren dürfe.

Die „Süddeutsche Zeitung“ machte am Samstag den Anfang, als sie in einem Kommentar Benjamin Netanjahu zum Mitverantwortlichen erklärte, der die Lage jetzt sicher „ausnutzen“ werde. Das war vom Timing etwas unglücklich, weshalb man sich ein paar Stunden später gezwungen sah, redigierend einzugreifen. Aber am Sonntag saß dann schon wieder der unverwüstliche Nahostexperte Michael Lüders in seiner Rolle als Gabriele Krone-Schmalz des Iran in den „heute“-Nachrichten, um die arabische Seelenlage zu erläutern.

Ich habe auch nicht vernommen, dass sich die Hamburger Hochschule für Bildende Künste dazu durchgerungen hätte, sich von den beiden Documenta-Kuratoren zu distanzieren, die sie im Wintersemester als Gastprofessoren beschäftigte und die nun auf Instagram der Hamas applaudierten. Gut, kann man sagen: Was soll man von Leuten erwarten, die israelischen Soldaten in ihrer Kunst Schweinemasken aufsetzen, um sie zu entwürdigen?

Auch an der HFBK hat man sich entschieden, wo man steht. Selbstverständlich sei man gegen jede Form des Antisemitismus, hatte der Präsident Martin Köttering bei der Einstellung der beiden Documenta-Künstler erklärt. Jetzt darf man die Hochschule eine Auffangstätte für notorische Antisemiten nennen.

© Michael Szyszka

Unter Opfern

Im fortschrittlichen Teil des Westens hat man sich darauf geeinigt, dass der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft alle Minderheiten niederdrückt. Aber wenn der Rassismus allgegenwärtig ist, warum gelingt dann einigen der Aufstieg und anderen nicht?

Es gibt viele Volksgruppen, die es schwer haben. Die Rohingya in Burma, die Christen in Ägypten. Aber niemand erfährt eine vergleichbare Zuneigung und Aufmerksamkeit wie die Angehörigen des palästinensischen Volkes. Wenn es so etwas gibt wie den Pandabären der internationalen Politik, dann ist es der Palästinenser.

Der Palästinenser kann machen, was er will, ihm wird verziehen. Er kann seine Nachbarn mit Raketen überziehen. Oder im Kindergarten kleine Sprengstoffgürtel als Spielzeug auslegen. Oder sich beim Staatsbesuch schwer danebenbenehmen wie der palästinensische Staatspräsident Mahmud Abbas in Berlin.

Schon lange hat kein Besucher die Bundesregierung mehr so in Verlegenheit gebracht wie der Fatah-Führer. Man muss schon ziemlich neben sich stehen, um in Gegenwart des deutschen Bundeskanzlers zu erklären, dass die Juden nicht nur einen Holocaust, nein, dass sie 50 begangen hätten. Das bekommt nicht mal der verstockteste Neonazi hin.

Aber Schwamm drüber, alles vergeben und vergessen. Am Ende gibt’s trotzdem einen Scheck. 340 Millionen Euro für den Gast, so war es auch dieses Mal. Ich hätte eigentlich erwartet, dass jemand sagt: Der liebe Herr Abbas soll sich sein Geld woanders zusammensuchen. Aber an der Hilfe für Palästina wird nicht gerüttelt, unpassende Holocaust-Vergleiche hin oder her.

Es gibt eine merkwürdige Obsession mit der palästinensischen Sache. Keine Demo, bei der nicht der Block der Unterstützer Palästinas mitlatscht. Selbst bei Schwulendemos ist inzwischen regelmäßig eine Abteilung dabei, die für „Free Palestine from the River to the Sea“ und das Ende Israels die Flagge schwenkt.

Ich wünsche mir manchmal insgeheim, dass die Freunde der LGBTQIA-Szene, die so wahnsinnig erpicht darauf sind, dass endlich die Araber zu ihrem Recht kommen, einmal, nur ein einziges Mal, im Fummel durch Ramallah laufen. Wenn sie nicht gleich am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft werden, haben sie Glück gehabt, würde ich sagen.

Als „Mode-Accessoire für junge Männer und Frauen jeden Alters“ ist das Palästinensertuch bei Amazon für 12,99 Euro zu haben. Zu meiner Schulzeit gab es noch kein Amazon. Trotzdem war der Pali-Schal plötzlich da und komplettierte fortan die Schuluniform aus Jeans und Parka. Selbstverständlich fieberten wir auch beim Befreiungskampf des palästinensischen Volkes mit. Dass sie hin und wieder ein Flugzeug kaperten und alle Passagiere jüdischen Glaubens aussonderten – Schwamm drüber.

Ich habe mir vor Jahren während der Recherche für mein Buch „Unter Linken“ die Mühe gemacht, die Fördersummen zusammenzustellen. Drei Milliarden Euro flossen allein zwischen 2000 und 2007 aus EU-Mitteln in die Autonomiegebiete. Bei einer Geberkonferenz in Paris wurden weitere fünf Milliarden beschlossen. Im März 2009, kurz vor Erscheinen des Buches, kamen noch einmal 4,5 Milliarden dazu. Und das sind nur die Zahlungen im Zeitraum von 2000 bis 2010. Wenn es den Titel der meistsubventionierten Volksgruppe der Welt gäbe, die Palästinenser wären ein heißer Anwärter.

Man darf nicht den Fehler machen, danach zu fragen, was aus der Förderung geworden ist. Dass ihre Bewohner mehr Geld bekommen haben als die Europäer während des gesamten Marshallplans, sieht man der Autonomieregion nur an, wenn man den Blick auf die Villen der Fatah-Funktionäre in ihren Luxusenklaven wirft. Aber wahrscheinlich geht auch die Korruption in der Autonomiebehörde auf das Konto Israels.

Der Opferdiskurs funktioniert immer, selbst auf internationaler Ebene. Dass man anderen die Schuld geben kann, wenn man hinter den Erwartungen zurückbleibt, hat zweifellos Vorteile. Kaum etwas ist so demoralisierend wie die Erkenntnis, dass man sich sein Unglück selbst zuzuschreiben hat, weil man zu träge, zu faul oder einfach zu blöd war, um vom Fleck zu kommen.

Wenn der Palästinenser Selbstmordattentäter losschickt, handelt er selbstverständlich aus Verzweiflung. Wenn es bis heute keine funktionierende Verwaltung, keine nennenswerte Wirtschaftstätigkeit, ja nicht mal ein Abwassersystem gibt, das den Namen verdient, liegt das an den Zionisten und der Mauer, die sie um den Gazastreifen gebaut haben.

Das Problem am Opferdenken ist allerdings: Es bringt einen keinen Schritt weiter. Wer immer höhere Mächte verantwortlich macht, neigt dazu, sich in seinem Elend einzurichten. Deshalb rät jeder Therapeut ja auch dazu, das Selbstmitleid zu überwinden und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.

Ich bin seit drei Wochen in den USA. Zu meiner Morgenlektüre zählt jetzt als Erstes die „New York Times“. Herkunft ist ein Riesenthema. Im Prinzip hat man sich darauf verständigt, dass es der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft ist, der Minderheiten am Aufstieg hindert. Dass sich die Weißen bewegen müssen, damit sich etwas ändert, und nicht etwa die Nicht-Weißen, ist das unausgesprochene Mantra.

Aber offenbar gelingt es einigen Minoritäten trotz des allgegenwärtigen Rassismus aufzusteigen. Bei den Zulassungstests zu den Universitäten sind asiatischstämmige Amerikaner inzwischen führend. Bildungsabschluss ist ein guter Indikator für Teilhabe, weil alles Weitere aus ihm folgt: Einkommen, sozialer Status, gesellschaftliche Macht und Einfluss.

Auch asiatischstämmige Amerikaner wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Die Zahl der Vorurteile (und Schimpfwörter), die man mit ihnen verbindet, ist lang. Dennoch sind sie heute eine der erfolgreichsten Minderheiten.

Die Zahl der Universitätsabschlüsse läge noch höher, wenn nur Leistung zählen würde und nicht Herkunft. Eine Reihe von Elite-Colleges ist dazu übergangen, die Zahl von Asian Americans künstlich zu senken, um jungen Schwarzen Zugang zu ermöglichen. Einige asiatische Eltern haben daraufhin geklagt, weil sie es nicht länger hinnehmen wollen, dass ihre Kinder systematisch benachteiligt werden, damit die Quote stimmt. Der Fall liegt jetzt vor dem Supreme Court. Beobachter gehen davon aus, dass der Klage stattgegeben wird, was das Ende der sogenannten Affirmative Action bedeuten würde.

Auch die Mexikaner haben es relativ weit gebracht. Da niemand mit ihnen ihr hartes Los beklagt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Offenbar spielen Familienzusammenhalt und kulturelle Werte beim Aufstieg eine große Rolle. Ob Kinder in einer intakten Familie aufwachsen oder der Vater sich schon im Kleinkindalter verdrückt, hat für den weiteren Lebensverlauf enorme Folgen.

In Deutschland lassen sich ebenfalls Unterschiede bei Minderheiten beobachten. Es ist nicht das Gleiche, ob jemand, sagen wir, in einer jüdischen oder in einer arabischstämmigen Familie aufwächst. Das gilt nicht in jedem Einzelfall, aber doch im Generellen. Weshalb ja auch kein Mittelschichtspaar aus einem der grünen Innenstadtviertel auf die Idee käme, seine Kinder auf eine muslimische Schule zu schicken, aber sehr wohl auf eine jüdische.

Aber wie gesagt: Schwamm drüber. Man soll sich im Urlaub keine zu schwierigen Themen vornehmen.

©Sören Kunz