Schlagwort: Gaza

Man trägt jetzt Palituch

Ist Luisa Neubauer eine Antisemitin? Nein, sie hat nichts gegen Juden im Speziellen. Sie ist einfach gerne auf jeder Party dabei. So wie die meisten, die ihre Solidarität mit Gaza erklären und dabei auch Hardcore-Israel-Hasser umarmen

Wie ernst soll jemand mit 26 Jahren genommen werden? Wie verantwortlich ist man in diesem Alter fürs eigene Handeln?

Die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, hat ein kurzes Video aufgenommen, in dem sie ihre Position zum Krieg in Gaza erklärte. Sie stellte dabei die Familien, die am 7. Oktober 2023 auf bestialische Weise ermordet wurden, auf eine Stufe mit den Opfern des Anti-Terror-Krieges in Gaza. Das Massaker an 1200 jüdischen Männern, Frauen und Kindern bezeichnete sie als „Militäroperation“. Dass die Hamas in Teilen der Linken als antikoloniale Widerstandsbewegung gilt, das wusste man. Dass dies offenbar auch für die Spitze der Grünen Jugend gilt, war neu.

Im linken Kosmos hieß es anschließend entschuldigend, Nietzard sei schließlich noch eine junge Frau, die zudem selbst vielfachen Anfeindungen ausgesetzt sei. „Unerträglich ist es, dass sie schon seit Langem als junge Frau von einem rechten Mob zur Zielscheibe gemacht wird. Sie hat unsere Solidarität!“, schrieb ihr Parteifreund Michael Bloss auf X. Möglicherweise habe ich die neueste Wendung der feministischen Theorieentwicklung verschlafen: Auf mich wirkt der Verweis auf Alter und Geschlecht ziemlich altbacken, um nicht zu sagen antifeministisch. Junge Frau plappert, bis der Arzt kommt – aber da sie eine junge Frau ist, darf man das nicht so ernst nehmen?

Ich hatte eine längere Diskussion mit einem Freund, der meint, der Krieg in Gaza sei für viele Menschen ein Kulminationspunkt. Ich bin da nicht so sicher. In den Medien sind sie alle furchtbar besorgt, das schon. Doch darüber hinaus? Die Mehrheit der Deutschen sieht das Vorgehen der israelischen Armee skeptisch. Über 60 Prozent äußern in Umfragen Kritik. Aber dass nun alle mit den Palästinensern fiebern würden, daran glaube ich nicht.

Die Bürger sind ja nicht blöd. Sie sehen die Leute, die bei uns auf der Straße Bambule machen, und denken sich ihren Teil. Zum Beispiel denken sie sich: Wenn diese Krawallbrüder und -schwestern nur einen Bruchteil der Energie in die Ausbildung ihrer Kinder stecken würden, wäre allen geholfen.

Es ist eher erstaunlich, dass nicht noch mehr Leute die Kriegsführung Israels ablehnen. Wer den Fernseher anmacht oder den „Spiegel“ aufschlägt, muss den Eindruck gewinnen, dass eine wild gewordene Soldateska alles daransetzt, Gaza von der Landkarte zu tilgen.

So gut wie nie liest man, dass die Hamas die Verluste in der Zivilbevölkerung zu maximieren versucht, indem sie sich in Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten versteckt. Es ist auch nie davon die Rede, dass viele Palästinenser Hunger leiden, weil die Hamas einen Gutteil der Hilfslieferungen abzweigt, um sie als Machtmittel einzusetzen. Es ist übrigens auch die Hamas, die eine Waffenruhe ablehnt, und es ist auch die Hamas, die angedroht hat, jeden zu erschießen, der von den Israelis Hilfsgüter annimmt.

Unter Promi-Linken ist Gaza-Solidarität das große Ding, so gesehen hat mein Freund recht. Da werden offene Briefe geschrieben, Petitionen verfasst und Schiffe gechartert. Und von Luisa Neubauer über Kurt Krömer bis Greta Thunberg sind alle dabei.

Ich habe mir die Besatzungsmitglieder der „Madleen“ angesehen, die vergangene Woche von Sizilien aus in See stach, um den Belagerungsring um Gaza zu durchbrechen. Auf vielen Fotos posierte Greta Thunberg neben einem jungen Mann mit Bart, der leicht als Thiago Ávila zu identifizieren war, ein brasilianischer Aktivist, der den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei der Trauerfeier als „geliebten Führer“ würdigte.

Deutschland wiederum war an Bord durch Yasemin Acar vertreten. Ich habe Frau Acar das erste Mal wahrgenommen, als sie Videos postete, wie sie in ihrer
Wohnung vor Freude Veitstänze aufführte, als der Iran zum Schlag gegen Israel ausholte und 200 Raketen über die Grenze schickte.

Wenn es gegen Israel geht, gibt es keine Zurückhaltung mehr. Wenige Stunden bevor die israelische Marine das Schiff stoppte und in den Hafen von Aschdod brachte, setzte Lusia Neubauer einen flammenden Appell an die Bundesregierung ab, sich für Acar einzusetzen. „Weltweit verfolgen Menschen die humanitäre Mission der Madleen auf dem Mittelmeer“, schrieb sie. „Das Team rechnet in diesen Stunden mit allem. Somit liegt es akut auch in der Verantwortung der Bundesregierung, für den Schutz der Crew bzw. Yasemin politisch einzustehen.“

Der „Bild“-Redakteur Filipp Piatov fand dazu den treffenden Kommentar: „Es gibt tatsächlich deutsche Staatsbürger in Not. Sie befinden sich seit mehr als 600 Tagen in Geiselhaft der Hamas.“ Fairerweise muss man sagen: Die Geiseln liefern auch nicht so schöne Bilder wie Thunberg und ihre Freunde. Mit einer instagram-tauglichen Segeljacht im Mittelmeer können sie leider nicht dienen.

Gaza-Betroffenheit ist ein politisches Fashion-Item – so wie der Kampf gegen den Klimawandel oder der Einsatz für mehr Transrechte. Letzte Saison haben sich alle die Regenbogenflagge umgelegt, diese Saison trägt man halt Palituch. Es geht darum, sich im Gespräch zu halten.

Ist Luisa Neubauer eine Antisemitin? Ich bin überzeugt, dass sie nichts speziell gegen Juden hat. Sie ist einfach gerne auf jeder Party dabei. Wenn es angesagt ist, seine Solidarität mit Israel zu zeigen, findet man sie bei der „Nie wieder“-Demo. Wenn Pali-Solidarität hoch im Kurs steht, drückt sie eben Hardcore-Israel-Hasser wie Yasemine Acar ans Herz. In einem anderen Leben hätte sie statt Schutz für Yasemine freies Geleit für Ulrike und Andreas gefordert – und noch früher noch etwas ganz anderes.

Ihre Solidarität hat die Halbwertszeit einer Insta-Story. Und wenn sie unglücklicherweise doch einmal auf dem falschen Fuß erwischt werden sollte, setzt sie eine Entschuldigung ab und sagt, dass sie falsch verstanden wurde.

Auch Jette Nietzard hat sich entschuldigt. Ihr habe nichts fernergelegen, als die Hamas hochleben zu lassen. Hat die Entschuldigung sie dazu verleitet innezuhalten, bevor sie den nächsten Post absetzte? Natürlich nicht. Sie hat einfach ihr Gaza-Soli-Video gleich noch einmal hochgeladen, dieses Mal ohne den Verweis auf die „Militäroperation“ am 7. Oktober. An ihrem Engagement für die palästinensische Sache soll schließlich kein Zweifel aufkommen.

Das Foto der Woche ist für mich das Bild von Greta Thunberg, wie sie bei Ankunft in Aschdod ein abgepacktes Brot und eine Wasserflasche erhält, um sie von den Strapazen der Seereise zu erlösen. Das ist das Bild, das am Ende einer langen Bildergalerie steht: das Foto eines israelischen Soldaten, der ihr freundlich ein Sandwich reicht.

Von den 50 Kilogramm Mehl, die die Freedom Flotilla schnell noch im Supermarkt besorgt hatte, um den Belagerten von Gaza ein symbolisches Geschenk überbringen zu können, hat man hingegen nichts mehr gehört.

Wobei, Selbstkorrektur, das ist nicht ganz richtig. „Israel stoppt Schiff mit Hilfsgütern für Gaza“, lautete die Überschrift der Meldung in der„Tagesschau“. Wenn es um Gaza geht, erneuert sich für die „Tagesschau“ sogar das Pfingstwunder: Dann reichen auch 50 Tüten Mehl zur Speisung der 5000.

© Silke Werzinger

FOCUS-Kolumne von Jan FleischhauerEr hasst Schwule und feiert Kindermörder: Warum lächelt Baerbock diesen Mann so an?

Haben sich die Alliierten eines Genozids schuldig gemacht, als sie Nazi-Deutschland bombardierten und Zehntausende unschuldiger Zivilisten töten? Nach den Kriterien, die an Israel angelegt werden, muss man sagen: Ja

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war dieser Tage die Zuschrift eines Lesers zur Israelberichterstattung abgedruckt. Der Schreiber, Frank Niggemeier aus Berlin, bezog sich dabei insbesondere auf den Vorwurf, Israel würde in Gaza einen Genozid begehen. Der Brief las sich wie folgt:

„Meine Großmutter wurde mit 30 Jahren am 7. März 1945 durch die Briten getötet. In ihrem Haus, in einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Zusammen mit ihrem achtjährigen Sohn und einem Baby, das sie im Leibe trug. War das Mord? Gar Teil eines Genozids? Die Briten wollten nicht meine Großmutter und ihren Sohn töten. Sie warfen Bomben auf meine Heimatstadt, um Infrastruktur zu treffen, die für den Krieg und Hitlers Terror wichtig war. So trafen ihre Bomben nicht die Infrastruktur, sondern meine Familie. Und viele andere.

Man stelle sich vor, ein englischer oder amerikanischer Journalist hätte damals einen Filmbericht machen können. Von dem Bombenkrater, der vom Haus meiner Großeltern übrig geblieben war. Davor meine Mutter, die einen Tag später zehn Jahre alt wurde, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder (drei Jahre) und einem verzweifelten Vater. Was für Filmaufnahmen das geworden wären! Eine ans Herz gehende Opferstory. Und davon hätten die Journalisten jeden Tag neue zeigen können. Es waren ja Zehntausende unschuldiger Zivilisten, die im Kampf gegen die Nazis getötet wurden.

Hätte die Öffentlichkeit in Großbritannien und den USA nach einer humanitären Feuerpause gerufen? Hätte der Rest der Welt die Alliierten dazu ermahnt? Hätte man den Kampf um Berlin als das Zentrum von Krieg und Terror unterbrechen sollen?“

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock war vor Ostern in Ramallah, um die Möglichkeiten einer humanitären Feuerpause in Gaza zu erkunden. Ich habe Bilder der Begegnung mit Palästinenser-Führer Mahmud Abbas gesehen. Es wäre zu viel, davon zu sprechen, sie habe ihn angeschmachtet. Aber so, wie sie ihn anblickte, voller Herzlichkeit und Einverständnis, schaut man normalerweise nur Menschen an, denen man sich nahe fühlt.

Was sieht Frau Baerbock, wenn sie Mahmud Abbas in die Augen schaut? Die Weisheit des Alters? Das unschuldige Lächeln seiner Kindeskinder? Das Leid des palästinensischen Volkes, das sich in seinen Augen spiegelt und ihr Herz rührt?

Ich weiß, was ich sehe, wenn ich Abbas erblicke. Ich sehe einen Mann, der zu den korruptesten Führern der Welt gehört. Der Frauen für Menschen zweiter Klasse hält, Demokratie für ein Zeichen von Schwäche und Schwule für Abschaum, den man entsorgen muss. Aber ich bin ja auch Kolumnist beim FOCUS und nicht Außenministerin.

Frauen lassen sich so leicht täuschen. Deshalb sollte man feministische Außenpolitik auch lieber Männern überlassen. Kleiner Scherz. Aber ich hätte schon gedacht, dass Feminismus die Solidarität oder zumindest das Mitgefühl mit Leuten beinhaltet, die wie Schwule oder Transmenschen zu den Schwächeren zählen.

Am Tag, an dem Baerbock dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde ihre Aufwartung machte, wurde der Bericht einer Geisel publik, die 55 Tage gefesselt an ein Kinderbett in Gaza verbracht hatte. Die Frau, eine vierzigjährige Juristin aus dem Kibbuz Kfar Asa, schilderte, wie ihr Wächter sich neben sie hockte und sie betatschte, wie er sie immer wieder fragte, wann sie ihre Periode habe, und sie schließlich zwang, ihn zu befriedigen, nachdem er ihr erlaubt hatte, sich zu waschen.

134 Menschen befinden sich nach wie vor in Geiselhaft. Es sind übrigens nicht nur die Schergen der Hamas, die über sie wachen. Vor wenigen Tagen las ich von einem israelischen Elternpaar, das mit seinen zwei kleinen Kindern von einer palästinensischen Familie im Keller deren Hauses in Gaza gefangen gehalten worden war. Hin und wieder warfen die Hausbesitzer ein paar Abfälle die Kellertreppe herunter.

Kann man sich vorstellen, dass sich die Geschichte mit vertauschten Rollen zugetragen hätte? Dass eine israelische Familie in Aschkelon oder Haifa ihre Nachbarn in Geiselhaft hält, um sich daran zu ergötzen, wie diese langsam vor Hunger um den Verstand kommen? Ich nicht.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich um bedauerliche Einzelfälle handelt, die nichts mit dem palästinensischen Volk zu tun haben – so wie ja auch die Mehrzahl der Deutschen bekanntermaßen nicht einverstanden mit den Nazis und ihren Methoden waren.

Leider sprechen die Umfragen eine andere Sprache. 59,3 Prozent der Bewohner des Gazastreifens erklärten in einer Umfrage des PEW-Instituts, dass sie den Überfall vom 7. Oktober sehr unterstützen, 15,7 Prozent tun das zumindest zum Teil. Nur 7,3 Prozent sagten, dass sie die Massaker ablehnen, weitere 5,3 Prozent immerhin irgendwie.

Das heißt, lediglich 13 Prozent äußern Vorbehalte dagegen, Kinder zu enthaupten, Babys bei lebendigem Leib zu verbrennen und Frauen zu verstümmeln, während man sie vergewaltigt. Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, zumal aus Kriegsgebieten. Eine kürzlich erfolgte Erhebung des Meinungsforschers Shakaki kommt allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis.

Es gibt auch Politiker, die der 7. Oktober verändert hat, das sollte man nicht unterschlagen. Der Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeine“, Philipp Peyman Engel, schildert in seinem kürzlich erschienen Buch „Deutsche Lebenslügen“ eine Reise an der Seite des Bundespräsidenten nach Israel im November. Kein Politiker sei neben Claudia Roth in der jüdischen Community in Deutschland so verhasst wie Frank-Walter Steinmeier, schreibt Peyman, entsprechend gering seien seine Erwartungen gewesen.

Aber dann wurden Steinmeier die Videos vorgeführt, die das Grauen des 7. Oktober dokumentieren. Material der Überwachungskameras sowie der Bodycams und Handys der Täter, die ihre Taten aufzeichneten und streamten. 47 Minuten des reinen, ungefilterten Horrors. Wer diesen Film gesehen hat, dessen Bild vom Menschen ist für immer verändert.

Steinmeier bat nach 10 Minuten, den Film anzuhalten, weil er es nicht mehr ertrug. An der Stelle, an der er unterbrach, wurde gerade einem Familienvater mit einem stumpfen Messer der Kopf abgeschnitten. Er habe danach auf der Reise einen neuen Frank-Walter Steinmeier erlebt, schreibt Peyman. Einen Steinmeier, der Klartext redete und in den Hintergrundgesprächen zu einer deutlichen Position zu den antisemitischen Demonstrationen von Muslimen in Deutschland fand.

Kennt Annalena Baerbock die Dokumentation der Verbrechen? Ist ihr bekannt, dass Mahmud Abbas die Kindermörder und Frauenschänder als Märtyrer bezeichnet? Kennt sie die Fernsehauftritte, in denen Hamas-Führer geloben, den 7. Oktober so oft zu wiederholen, bis niemand mehr übrig ist, den man abschlachten kann? Ich will für sie annehmen, dass ihr das alles unbekannt ist. Wäre es anders, müsste man denken, dass die feministische Außenpolitik, die sie ankündigte, in Wahrheit eine Chiffre für Nihilismus ist.

Die Hamas greift nicht nach der Weltherrschaft. Sie hat auch nicht Millionen versklavt oder ermordet, das unterscheidet sie von den Nazis. Aber damals wie heute geht es darum, einen Feind niederzuringen, der bei der Durchsetzung seiner Ziele keine Grenzen kennt. Wenn sie bei der Hamas die Möglichkeit hätten, den Holocaust zu vollenden, dann würden sie es sofort tun.

Rechtfertigt das jede Form der Kriegsführung? Selbstverständlich nicht. Die Zivilbevölkerung ist zu schonen, auch wenn sie die Ziele ihrer Führung teilt. Wer einen Krieg beginnt, muss allerdings mit Konsequenzen rechnen, das gilt ebenfalls heute wie gestern.

Ein Freund sagte: „Die vergangenen Monate haben auch etwas Gutes. Man sieht klarer, alle Schleier sind weg.“ Das ist wahr. Allerdings liegt in Illusionen manchmal großer Trost. Ohne sie ist es auch nicht leichter.

© Michael Szyszka

Unter Opfern

Im fortschrittlichen Teil des Westens hat man sich darauf geeinigt, dass der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft alle Minderheiten niederdrückt. Aber wenn der Rassismus allgegenwärtig ist, warum gelingt dann einigen der Aufstieg und anderen nicht?

Es gibt viele Volksgruppen, die es schwer haben. Die Rohingya in Burma, die Christen in Ägypten. Aber niemand erfährt eine vergleichbare Zuneigung und Aufmerksamkeit wie die Angehörigen des palästinensischen Volkes. Wenn es so etwas gibt wie den Pandabären der internationalen Politik, dann ist es der Palästinenser.

Der Palästinenser kann machen, was er will, ihm wird verziehen. Er kann seine Nachbarn mit Raketen überziehen. Oder im Kindergarten kleine Sprengstoffgürtel als Spielzeug auslegen. Oder sich beim Staatsbesuch schwer danebenbenehmen wie der palästinensische Staatspräsident Mahmud Abbas in Berlin.

Schon lange hat kein Besucher die Bundesregierung mehr so in Verlegenheit gebracht wie der Fatah-Führer. Man muss schon ziemlich neben sich stehen, um in Gegenwart des deutschen Bundeskanzlers zu erklären, dass die Juden nicht nur einen Holocaust, nein, dass sie 50 begangen hätten. Das bekommt nicht mal der verstockteste Neonazi hin.

Aber Schwamm drüber, alles vergeben und vergessen. Am Ende gibt’s trotzdem einen Scheck. 340 Millionen Euro für den Gast, so war es auch dieses Mal. Ich hätte eigentlich erwartet, dass jemand sagt: Der liebe Herr Abbas soll sich sein Geld woanders zusammensuchen. Aber an der Hilfe für Palästina wird nicht gerüttelt, unpassende Holocaust-Vergleiche hin oder her.

Es gibt eine merkwürdige Obsession mit der palästinensischen Sache. Keine Demo, bei der nicht der Block der Unterstützer Palästinas mitlatscht. Selbst bei Schwulendemos ist inzwischen regelmäßig eine Abteilung dabei, die für „Free Palestine from the River to the Sea“ und das Ende Israels die Flagge schwenkt.

Ich wünsche mir manchmal insgeheim, dass die Freunde der LGBTQIA-Szene, die so wahnsinnig erpicht darauf sind, dass endlich die Araber zu ihrem Recht kommen, einmal, nur ein einziges Mal, im Fummel durch Ramallah laufen. Wenn sie nicht gleich am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft werden, haben sie Glück gehabt, würde ich sagen.

Als „Mode-Accessoire für junge Männer und Frauen jeden Alters“ ist das Palästinensertuch bei Amazon für 12,99 Euro zu haben. Zu meiner Schulzeit gab es noch kein Amazon. Trotzdem war der Pali-Schal plötzlich da und komplettierte fortan die Schuluniform aus Jeans und Parka. Selbstverständlich fieberten wir auch beim Befreiungskampf des palästinensischen Volkes mit. Dass sie hin und wieder ein Flugzeug kaperten und alle Passagiere jüdischen Glaubens aussonderten – Schwamm drüber.

Ich habe mir vor Jahren während der Recherche für mein Buch „Unter Linken“ die Mühe gemacht, die Fördersummen zusammenzustellen. Drei Milliarden Euro flossen allein zwischen 2000 und 2007 aus EU-Mitteln in die Autonomiegebiete. Bei einer Geberkonferenz in Paris wurden weitere fünf Milliarden beschlossen. Im März 2009, kurz vor Erscheinen des Buches, kamen noch einmal 4,5 Milliarden dazu. Und das sind nur die Zahlungen im Zeitraum von 2000 bis 2010. Wenn es den Titel der meistsubventionierten Volksgruppe der Welt gäbe, die Palästinenser wären ein heißer Anwärter.

Man darf nicht den Fehler machen, danach zu fragen, was aus der Förderung geworden ist. Dass ihre Bewohner mehr Geld bekommen haben als die Europäer während des gesamten Marshallplans, sieht man der Autonomieregion nur an, wenn man den Blick auf die Villen der Fatah-Funktionäre in ihren Luxusenklaven wirft. Aber wahrscheinlich geht auch die Korruption in der Autonomiebehörde auf das Konto Israels.

Der Opferdiskurs funktioniert immer, selbst auf internationaler Ebene. Dass man anderen die Schuld geben kann, wenn man hinter den Erwartungen zurückbleibt, hat zweifellos Vorteile. Kaum etwas ist so demoralisierend wie die Erkenntnis, dass man sich sein Unglück selbst zuzuschreiben hat, weil man zu träge, zu faul oder einfach zu blöd war, um vom Fleck zu kommen.

Wenn der Palästinenser Selbstmordattentäter losschickt, handelt er selbstverständlich aus Verzweiflung. Wenn es bis heute keine funktionierende Verwaltung, keine nennenswerte Wirtschaftstätigkeit, ja nicht mal ein Abwassersystem gibt, das den Namen verdient, liegt das an den Zionisten und der Mauer, die sie um den Gazastreifen gebaut haben.

Das Problem am Opferdenken ist allerdings: Es bringt einen keinen Schritt weiter. Wer immer höhere Mächte verantwortlich macht, neigt dazu, sich in seinem Elend einzurichten. Deshalb rät jeder Therapeut ja auch dazu, das Selbstmitleid zu überwinden und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.

Ich bin seit drei Wochen in den USA. Zu meiner Morgenlektüre zählt jetzt als Erstes die „New York Times“. Herkunft ist ein Riesenthema. Im Prinzip hat man sich darauf verständigt, dass es der Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft ist, der Minderheiten am Aufstieg hindert. Dass sich die Weißen bewegen müssen, damit sich etwas ändert, und nicht etwa die Nicht-Weißen, ist das unausgesprochene Mantra.

Aber offenbar gelingt es einigen Minoritäten trotz des allgegenwärtigen Rassismus aufzusteigen. Bei den Zulassungstests zu den Universitäten sind asiatischstämmige Amerikaner inzwischen führend. Bildungsabschluss ist ein guter Indikator für Teilhabe, weil alles Weitere aus ihm folgt: Einkommen, sozialer Status, gesellschaftliche Macht und Einfluss.

Auch asiatischstämmige Amerikaner wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Die Zahl der Vorurteile (und Schimpfwörter), die man mit ihnen verbindet, ist lang. Dennoch sind sie heute eine der erfolgreichsten Minderheiten.

Die Zahl der Universitätsabschlüsse läge noch höher, wenn nur Leistung zählen würde und nicht Herkunft. Eine Reihe von Elite-Colleges ist dazu übergangen, die Zahl von Asian Americans künstlich zu senken, um jungen Schwarzen Zugang zu ermöglichen. Einige asiatische Eltern haben daraufhin geklagt, weil sie es nicht länger hinnehmen wollen, dass ihre Kinder systematisch benachteiligt werden, damit die Quote stimmt. Der Fall liegt jetzt vor dem Supreme Court. Beobachter gehen davon aus, dass der Klage stattgegeben wird, was das Ende der sogenannten Affirmative Action bedeuten würde.

Auch die Mexikaner haben es relativ weit gebracht. Da niemand mit ihnen ihr hartes Los beklagt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Offenbar spielen Familienzusammenhalt und kulturelle Werte beim Aufstieg eine große Rolle. Ob Kinder in einer intakten Familie aufwachsen oder der Vater sich schon im Kleinkindalter verdrückt, hat für den weiteren Lebensverlauf enorme Folgen.

In Deutschland lassen sich ebenfalls Unterschiede bei Minderheiten beobachten. Es ist nicht das Gleiche, ob jemand, sagen wir, in einer jüdischen oder in einer arabischstämmigen Familie aufwächst. Das gilt nicht in jedem Einzelfall, aber doch im Generellen. Weshalb ja auch kein Mittelschichtspaar aus einem der grünen Innenstadtviertel auf die Idee käme, seine Kinder auf eine muslimische Schule zu schicken, aber sehr wohl auf eine jüdische.

Aber wie gesagt: Schwamm drüber. Man soll sich im Urlaub keine zu schwierigen Themen vornehmen.

©Sören Kunz