Schlagwort: Baerbock

FOCUS-Kolumne von Jan FleischhauerEr hasst Schwule und feiert Kindermörder: Warum lächelt Baerbock diesen Mann so an?

Haben sich die Alliierten eines Genozids schuldig gemacht, als sie Nazi-Deutschland bombardierten und Zehntausende unschuldiger Zivilisten töten? Nach den Kriterien, die an Israel angelegt werden, muss man sagen: Ja

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war dieser Tage die Zuschrift eines Lesers zur Israelberichterstattung abgedruckt. Der Schreiber, Frank Niggemeier aus Berlin, bezog sich dabei insbesondere auf den Vorwurf, Israel würde in Gaza einen Genozid begehen. Der Brief las sich wie folgt:

„Meine Großmutter wurde mit 30 Jahren am 7. März 1945 durch die Briten getötet. In ihrem Haus, in einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Zusammen mit ihrem achtjährigen Sohn und einem Baby, das sie im Leibe trug. War das Mord? Gar Teil eines Genozids? Die Briten wollten nicht meine Großmutter und ihren Sohn töten. Sie warfen Bomben auf meine Heimatstadt, um Infrastruktur zu treffen, die für den Krieg und Hitlers Terror wichtig war. So trafen ihre Bomben nicht die Infrastruktur, sondern meine Familie. Und viele andere.

Man stelle sich vor, ein englischer oder amerikanischer Journalist hätte damals einen Filmbericht machen können. Von dem Bombenkrater, der vom Haus meiner Großeltern übrig geblieben war. Davor meine Mutter, die einen Tag später zehn Jahre alt wurde, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder (drei Jahre) und einem verzweifelten Vater. Was für Filmaufnahmen das geworden wären! Eine ans Herz gehende Opferstory. Und davon hätten die Journalisten jeden Tag neue zeigen können. Es waren ja Zehntausende unschuldiger Zivilisten, die im Kampf gegen die Nazis getötet wurden.

Hätte die Öffentlichkeit in Großbritannien und den USA nach einer humanitären Feuerpause gerufen? Hätte der Rest der Welt die Alliierten dazu ermahnt? Hätte man den Kampf um Berlin als das Zentrum von Krieg und Terror unterbrechen sollen?“

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock war vor Ostern in Ramallah, um die Möglichkeiten einer humanitären Feuerpause in Gaza zu erkunden. Ich habe Bilder der Begegnung mit Palästinenser-Führer Mahmud Abbas gesehen. Es wäre zu viel, davon zu sprechen, sie habe ihn angeschmachtet. Aber so, wie sie ihn anblickte, voller Herzlichkeit und Einverständnis, schaut man normalerweise nur Menschen an, denen man sich nahe fühlt.

Was sieht Frau Baerbock, wenn sie Mahmud Abbas in die Augen schaut? Die Weisheit des Alters? Das unschuldige Lächeln seiner Kindeskinder? Das Leid des palästinensischen Volkes, das sich in seinen Augen spiegelt und ihr Herz rührt?

Ich weiß, was ich sehe, wenn ich Abbas erblicke. Ich sehe einen Mann, der zu den korruptesten Führern der Welt gehört. Der Frauen für Menschen zweiter Klasse hält, Demokratie für ein Zeichen von Schwäche und Schwule für Abschaum, den man entsorgen muss. Aber ich bin ja auch Kolumnist beim FOCUS und nicht Außenministerin.

Frauen lassen sich so leicht täuschen. Deshalb sollte man feministische Außenpolitik auch lieber Männern überlassen. Kleiner Scherz. Aber ich hätte schon gedacht, dass Feminismus die Solidarität oder zumindest das Mitgefühl mit Leuten beinhaltet, die wie Schwule oder Transmenschen zu den Schwächeren zählen.

Am Tag, an dem Baerbock dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde ihre Aufwartung machte, wurde der Bericht einer Geisel publik, die 55 Tage gefesselt an ein Kinderbett in Gaza verbracht hatte. Die Frau, eine vierzigjährige Juristin aus dem Kibbuz Kfar Asa, schilderte, wie ihr Wächter sich neben sie hockte und sie betatschte, wie er sie immer wieder fragte, wann sie ihre Periode habe, und sie schließlich zwang, ihn zu befriedigen, nachdem er ihr erlaubt hatte, sich zu waschen.

134 Menschen befinden sich nach wie vor in Geiselhaft. Es sind übrigens nicht nur die Schergen der Hamas, die über sie wachen. Vor wenigen Tagen las ich von einem israelischen Elternpaar, das mit seinen zwei kleinen Kindern von einer palästinensischen Familie im Keller deren Hauses in Gaza gefangen gehalten worden war. Hin und wieder warfen die Hausbesitzer ein paar Abfälle die Kellertreppe herunter.

Kann man sich vorstellen, dass sich die Geschichte mit vertauschten Rollen zugetragen hätte? Dass eine israelische Familie in Aschkelon oder Haifa ihre Nachbarn in Geiselhaft hält, um sich daran zu ergötzen, wie diese langsam vor Hunger um den Verstand kommen? Ich nicht.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich um bedauerliche Einzelfälle handelt, die nichts mit dem palästinensischen Volk zu tun haben – so wie ja auch die Mehrzahl der Deutschen bekanntermaßen nicht einverstanden mit den Nazis und ihren Methoden waren.

Leider sprechen die Umfragen eine andere Sprache. 59,3 Prozent der Bewohner des Gazastreifens erklärten in einer Umfrage des PEW-Instituts, dass sie den Überfall vom 7. Oktober sehr unterstützen, 15,7 Prozent tun das zumindest zum Teil. Nur 7,3 Prozent sagten, dass sie die Massaker ablehnen, weitere 5,3 Prozent immerhin irgendwie.

Das heißt, lediglich 13 Prozent äußern Vorbehalte dagegen, Kinder zu enthaupten, Babys bei lebendigem Leib zu verbrennen und Frauen zu verstümmeln, während man sie vergewaltigt. Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, zumal aus Kriegsgebieten. Eine kürzlich erfolgte Erhebung des Meinungsforschers Shakaki kommt allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis.

Es gibt auch Politiker, die der 7. Oktober verändert hat, das sollte man nicht unterschlagen. Der Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeine“, Philipp Peyman Engel, schildert in seinem kürzlich erschienen Buch „Deutsche Lebenslügen“ eine Reise an der Seite des Bundespräsidenten nach Israel im November. Kein Politiker sei neben Claudia Roth in der jüdischen Community in Deutschland so verhasst wie Frank-Walter Steinmeier, schreibt Peyman, entsprechend gering seien seine Erwartungen gewesen.

Aber dann wurden Steinmeier die Videos vorgeführt, die das Grauen des 7. Oktober dokumentieren. Material der Überwachungskameras sowie der Bodycams und Handys der Täter, die ihre Taten aufzeichneten und streamten. 47 Minuten des reinen, ungefilterten Horrors. Wer diesen Film gesehen hat, dessen Bild vom Menschen ist für immer verändert.

Steinmeier bat nach 10 Minuten, den Film anzuhalten, weil er es nicht mehr ertrug. An der Stelle, an der er unterbrach, wurde gerade einem Familienvater mit einem stumpfen Messer der Kopf abgeschnitten. Er habe danach auf der Reise einen neuen Frank-Walter Steinmeier erlebt, schreibt Peyman. Einen Steinmeier, der Klartext redete und in den Hintergrundgesprächen zu einer deutlichen Position zu den antisemitischen Demonstrationen von Muslimen in Deutschland fand.

Kennt Annalena Baerbock die Dokumentation der Verbrechen? Ist ihr bekannt, dass Mahmud Abbas die Kindermörder und Frauenschänder als Märtyrer bezeichnet? Kennt sie die Fernsehauftritte, in denen Hamas-Führer geloben, den 7. Oktober so oft zu wiederholen, bis niemand mehr übrig ist, den man abschlachten kann? Ich will für sie annehmen, dass ihr das alles unbekannt ist. Wäre es anders, müsste man denken, dass die feministische Außenpolitik, die sie ankündigte, in Wahrheit eine Chiffre für Nihilismus ist.

Die Hamas greift nicht nach der Weltherrschaft. Sie hat auch nicht Millionen versklavt oder ermordet, das unterscheidet sie von den Nazis. Aber damals wie heute geht es darum, einen Feind niederzuringen, der bei der Durchsetzung seiner Ziele keine Grenzen kennt. Wenn sie bei der Hamas die Möglichkeit hätten, den Holocaust zu vollenden, dann würden sie es sofort tun.

Rechtfertigt das jede Form der Kriegsführung? Selbstverständlich nicht. Die Zivilbevölkerung ist zu schonen, auch wenn sie die Ziele ihrer Führung teilt. Wer einen Krieg beginnt, muss allerdings mit Konsequenzen rechnen, das gilt ebenfalls heute wie gestern.

Ein Freund sagte: „Die vergangenen Monate haben auch etwas Gutes. Man sieht klarer, alle Schleier sind weg.“ Das ist wahr. Allerdings liegt in Illusionen manchmal großer Trost. Ohne sie ist es auch nicht leichter.

© Michael Szyszka

Die andere Seite der Grünen

Viele halten Annalena Baerbock und Robert Habeck für die grüne Partei. Aber daneben gibt es einen harten ideologischen Kern, wie die Nominierung der Aktivistin Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten zeigt

Es gibt Milieus, die sind für einen Reporter einfach zu erkunden, und es gibt solche, für die braucht es Geduld und Nervenstärke. Ein einfaches Milieu ist das der Politik. Meist reicht ein Anruf und man hat einen Termin. Wenn das Ergebnis anschließend nicht so ausfällt wie erwartet, droht der Politiker für die Zukunft vielleicht mit Kontaktverweigerung. Selbst die hält er dann oft nicht lange durch.

Ein definitiv schwieriges, um nicht zu sagen hermetisches Milieu sind arabische Großfamilien. Clanleute sind äußerst misstrauisch, das bringen schon die Geschäfte mit sich, mit denen sie ihr Geld verdienen. Sie sind auch nicht sehr nachsichtig, was schlechte Presse angeht. Wer sich als Reporter aufmacht, das Leben in der Clanwelt zu beschreiben, sollte beizeiten eine ordentliche Lebensversicherung abschließen.

Ich hatte immer einen Heidenrespekt vor meinem Kollegen bei „Spiegel TV“, Thomas Heise. Ich kenne kaum einen furchtloseren Reporter. Heise hat Rocker und Drogenbarone interviewt. Seine Reportage über die Macht der Clans ist die beste Dokumentation aus dem Innenleben der kriminellen Großfamilien, die ich kenne. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber bei ihm bekommt man Dinge zu sehen, über die anderswo nur aus zweiter oder dritter Hand berichtet wird.

Vor eineinhalb Jahren bekamen Heise und sein Team für ihre Berichterstattung einen Preis. Allerdings nicht die Art von Auszeichnung, an die Sie jetzt möglicherweise denken, sondern eine Abmahnung. Die „Neuen deutschen Medienmacher*innen“, ein Verein zur Förderung migrantischer Anliegen, verlieh ihm die „Goldene Kartoffel“, ein Negativpreis für „besonders unterirdische Berichterstattung“.

Die „Spiegel TV“-Beiträge über Clankriminalität seien „stigmatisierend und rassistisch“ und förderten so Vorbehalte gegen Menschen arabischer Herkunft, hieß es zur Begründung. Außerdem seien Aussagen von Polizisten unkritisch übernommen und die Fahnder zu distanzlos begleitet worden. Was man eben für einen Tabubruch hält, wenn bereits die Erwähnung einer Shishabar im falschen Zusammenhang als Beleg für die Vorurteilsstruktur des deutschen Journalismus gilt.

Die Sache ist deshalb wieder von Bedeutung, weil die Bundesregierung die langjährige Vorsitzende der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“, Ferda Ataman, zur Beauftragten für Antidiskriminierung machen will. Oder um genau zu sein: zur „Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung“. Das ist keine kleine Sache. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes beschäftigt 34 Mitarbeiter und verfügt über einen Jahresetat von 5,1 Millionen Euro. Damit kann man viele Gefolgsleute glücklich machen.

Die Grünen liegen in den Umfragen bei 23 Prozent. Viele Menschen sehen Robert Habeck und Annalena Baerbock und sagen sich: vernünftige Leute. Ich selbst hörte mich neulich bei einem Auftritt auf einem Wirtschaftskongress in Erfurt sagen, dass der Wirtschaftsminister doch einen klasse Job mache. Be careful what you wish for. Hinter dem Robert und der Annalena stehen viele Parteimitglieder, die Vorstellungen vom Umbau dieser Gesellschaft haben, die sich mit denen der Mehrheit nur bedingt decken.

Tatsächlich hat die grüne Partei nach wie vor einen harten ideologischen Kern. Sie ist im Augenblick so schlau, ihn nicht zu deutlich zu zeigen. Nur manchmal kommt er zum Vorschein, so wie jetzt bei der Nominierung von Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten. Der Personalvorschlag ist eine Idee der neuen grünen Familienministerin, die damit so etwas wie ihren Einstand gibt.

Ich kenne Ferda Ataman vom „Spiegel“. Wir waren zeitweise Kolumnistenkollegen, bis ihr die Chefredaktion die Kolumne wieder wegnahm, weil einfach zu viel Quatsch drinstand. Sie hätte rasend gerne weitergemacht, aber es ging einfach nicht mehr. Ich habe überlegt, ob ich überhaupt über sie schreiben soll. Andererseits: Wenn ich jeden aus meinen Texten raushalte, den ich kenne, kann ich den Laden dichtmachen.

Ataman ist der Beweis, dass man mit dem schlechten Gewissen anderer Leute weit kommen kann. Sie hat inzwischen sogar eine Firma gegründet, die Unternehmen dabei berät, wie man „Diversity managt“, wie das auf Neudeutsch heißt. „Diversity Kartell“ nennt sich das Unternehmen. Ausweislich der Webseite hat sie schon Nivea, RTL, die Stadt Köln und den Bayerischen Rundfunk beraten.

Ich bewunderte jeden, der eine Idee hat und darauf ein Geschäft aufbaut. Meine Bewunderung wäre allerdings noch größer, wenn man nicht ständig auf Staatsgelder zurückgreifen würde. Die „Welt am Sonntag“ hat vor zwei Jahren mal zusammengezählt, was an Bundesmitteln an die „Neuen Deutschen Medienmacher*innen“ geflossen ist, und ist dabei für 2020 auf über eine Million Euro allein aus dem Etat des Kanzleramts gekommen.

Auch das Innenministerium war als Geldgeber dabei, also das Ministerium, dessen damaligem Chef Horst Seehofer die Vereinsvorsitzende Blut-und-Boden-Ideologie vorgeworfen hatte, weil er nach ihrem Geschmack zu viel Freude am Begriff Heimat zeigte, ein Vorwurf, der wiederum Seehofer veranlasste, einem Integrationsgipfel fernzubleiben, bei dem er auf Ataman treffen sollte.

Ich kenne Seehofer noch länger als Ataman. Der Mann ist wirklich nicht mit dem kleinen Finger gemacht. Wenn er seine Teilnahme bei einer Veranstaltung absagt, dann, weil für ihn ausnahmsweise eine Grenze überschritten wurde. Aber hey, warum so empfindlich, heißt es, wenn einer eingeschnappt ist. War doch nicht so gemeint, so wie es selbstverständlich, zwinker, zwinker, auch nicht beleidigend gemeint ist, wenn man Deutsche als Kartoffeln bezeichnet.

Vor einigen Tagen hat Ataman alle Spuren auf Twitter gelöscht. Offenbar war sie selber der Meinung, dass ihr altes Leben in so einem eklatanten Widerspruch zur neuen Aufgabe steht, dass sie dieses besser vor der Öffentlichkeit verbergen sollte. Wer heute auf ihren Account geht, sieht dort nur noch harmlose Einträge wie Glückwünsche zur Nominierung.

Unter den Tweets, die nicht mehr angezeigt werden, befindet sich die Einschätzung, dass die deutsche Gesellschaft im Innern so verdorben sei, dass Ärzte zu Ungunsten von Migranten selektieren würden. Wörtlich schrieb Ataman zu Beginn der Pandemie: „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden.“

Das ist kein Ausrutscher, wie man denken könnte. Es ist Ausdruck einer Weltsicht, die auch die Grundlage des zugehörigen Geschäftsmodells bildet. Die deutsche Gesellschaft ist demnach so sehr von Diskriminierung durchzogen, dass dem Problem mit normalen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Es braucht positive Diskriminierung, also Quoten und staatliche Gegenmaßnahmen, um am Ende eines mühsamen Prozesses bei einer wirklich gleichberechtigten Gesellschaft herauszukommen.

Selbstverständlich zählt auch nicht jeder Migrationshintergrund, um zum Kreis der zu Fördernden gerechnet zu werden, sondern nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die als „rassistisch markiert“ gilt, wie das heißt – womit schon mal alle raus wären, die eine polnische oder dänische oder französische Großmutter haben.

Damit wir uns nicht missverstehen, ich bin nicht gegen Aktivismus. Jeder kämpft für seine Anliegen, so gut er kann: die Freunde des geschlechtsneutralen Oben-ohne-Badens im deutschen Freibad ebenso wie die Befürworter der Gendersprache oder eben die Vertreter der migrantischen Sache. Ich habe nur Zweifel, ob jemand, der jeden Vertreter der Mehrheitsgesellschaft für rassismusgefährdet hält, die richtige Person an der Spitze einer aus Bundesmitteln finanzierten Beratungsstelle ist.

Es käme ja auch niemand auf die Idee, jemanden wie mich zum unabhängigen Bevollmächtigten für gesellschaftlichen Ausgleich und Verständigung zu machen. Und wenn, sagen wir, der Justizminister mit dieser Idee um die Ecke käme, würden sich alle zu Recht die Bäuche halten vor Lachen.

©Sören Kunz

Die Enden des Hufeisens

Der Krieg in der Ukraine hat einen Teil des rechtskonservativen Milieus in Kalamitäten gestürzt. Man kämpft gegen Tempolimit, Maskenpflicht und grüne Verbotskultur. Aber mehr noch als die Freiheit liebt man offenbar das Autoritäre

Ein Freund von mir ist der Journalist Georg Gafron. Wir haben uns auf der Terrasse des „Polana Serena“-Hotels in Mosambik kennengelernt. Ich weiß, das klingt etwas verrückt. Andererseits, wer Gafron näher kennt, weiß: Könnte es einen besseren Platz für ein Treffen mit ihm geben als eine Hotelterrasse in Afrika?

Gafron war schon gegen die Linken, als ich noch dachte, alles Gute käme von den Grünen. Er hat für Leo Kirch das erste Privatradio in Berlin aufgebaut. Als Kirch Konkurs anmeldete, sagte er den unsterblichen Satz: „Mit einem Unternehmer wie Leo Kirch ist selbst der gemeinsame Untergang noch eine große Ehre, gemessen am jämmerlichen Dasein so vieler anderer.“ Danach war er zwei Jahre lang Chefredakteur des Berliner Boulevardblatts „B.Z.“. Die „B.Z.“ ist wie „Bild“, nur mit noch größeren Buchstaben.

Er war auch eng mit Helmut Kohl befreundet. Wenn es jemanden gibt, der weiß, woher die Spenden kamen, über die Kohl in Ungnade fiel, dann Gafron. Natürlich belegte er regelmäßig einen der vordersten Plätze auf der Liste der peinlichsten Berliner, die das Stadtmagazin „tip“ jedes Jahr zum Jahreswechsel in liebevoller Kleinarbeit kuratierte.

Als die „Süddeutsche Zeitung“ noch eine Berlin-Seite hatte, gab es eine Rubrik, die sich eigens mit ihm und seinem Wirken beschäftigte. Habe ich schon erwähnt, dass ihm Joschka Fischer mal Schläge androhte, weil er sich über seine Frau lustig gemacht hatte? Mit Fischer versteht sich Gafron heute sehr gut. Sie gehen gelegentlich im „Hot Spot“ zusammen essen, einem Chinesen im Westteil der Stadt, der über eine legendäre Weinkarte verfügt.

Vor drei Wochen erschien von Gafron die Besprechung einer „Anne Will“-Sendung auf „Tichys Einblick“, für den er seit zwei Jahren schreibt. In dem Text ging es vor allem um den Auftritt von Annalena Baerbock, die zu der Talkshow zugeschaltet war. Frau Baerbock kam in dem Artikel nicht gut weg. Das hat mich erstaunt, weil mir Gafron ein paar Tage vorher gesagt hatte, wie froh er sei, dass Baerbock unsere Außenministerin sei und nicht einer dieser Russlandfreunde von der SPD.

Wenige Tage nachdem das Stück erschienen war, telefonierten wir. „Du wirst es nicht glauben“, sagte er, „aber ich habe gerade gesehen, dass es gar nicht mein Text ist, der unter meinem Namen auf die Seite gestellt wurde. Da stehen lauter Sachen drin, die ich nie geschrieben habe.“

Ich habe mir die beiden Fassungen daraufhin angesehen, den Text, den mein Freund an die Redaktion geschickt hatte, und die Fernsehkritik, die unter seinem Namen zur Veröffentlichung kam. Es ist wirklich erstaunlich. Etwa ein Drittel des Textes wurde verändert. Wo Baerbock im Original für ihre klaren Antworten gelobt wurde, stand nun, dass sie sich gewunden habe und es nur dem zähen, unbeeindruckten Nachfassen der Moderatorin zu verdanken sei, dass die Zuschauer überhaupt eine Antwort erhielten.

Einige Passagen waren komplett neu dazugekommen, zum Beispiel ein Absatz, in dem der Ministerin vorgehalten wurde, sie habe Deutschland als das „größte Land in Europa“ bezeichnet, einer der „Versprecher“, die sie, Zitat, „für das Amt so gefährlich machen“. Kurze Zwischenfrage an der Stelle: Ich mag mich, was Bevölkerung und Wirtschaftsstärke angeht, irren, aber gibt es ein Land in Europa, von dem man sagen kann, dass es größer als Deutschland ist?

Ich bin seit 1989 im Journalismus. Ich war selbst einige Jahre Ressortleiter. Dass man Texte redigiert, klar. Dass man Sätze umstellt und Ungeschicklichkeiten glättet, auch das. Aber dass man das Geschriebene in sein Gegenteil verkehrt und das Ganze dann publiziert, ohne dem Autor Bescheid zu geben? Das ist mir in 34 Jahren Journalismus noch nicht begegnet. Ich dachte, so etwas gibt es nur in Putins Russland.

Warum macht eine Redaktion das? Offenbar fürchtet man bei „Tichys Einblick“, dass ein Lob der Grünen die Leser so verstören könnte, dass man ihnen diese Unannehmlichkeit besser erspart. Ein gutes Wort über die Außenministerin und ihren Ukraine-Kurs auf einem solchen Portal! Um Gottes willen!

Der Krieg in der Ukraine hat einen Teil des rechtskonservativen Milieus in schwere Kalamitäten gestürzt. Man sieht sich als Verteidiger der Freiheit, selbstverständlich. Man kämpft gegen Tempolimit, Maskenpflicht und grüne Verbotskultur. Aber mehr noch als die Freiheit liebt man den autoritären Auftritt.

Die gleichen Leute, die eben noch gegen die „Corona-Diktatur“ zu Felde zogen, drücken nun ausgerechnet einem Usurpator die Daumen, der jeden abführen lässt, der auch nur leise Kritik an seiner Politik übt. An die Stelle der Corona-Maßnahmen ist als Feindbild die Nato getreten, an die Stelle der Maskenbefürworter die „Kriegstreiber“, gegen die es sich nun zu wehren gilt. Vom Impfgegner zum Russlandfreund ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Ich bin seit Langem ein Anhänger der These, dass ganz links und ganz rechts mehr miteinander gemein haben, als den Anhängern lieb ist. Man muss ja nur in den Bundestag schauen, wer Putin verteidigt, und man weiß augenblicklich, dass die Hufeisentheorie zutrifft. Manchmal denke ich, das ist so irre, was an Argumenten gegen eine Aufrüstung der Ukraine vorgetragen wird: Da muss doch Geld geflossen sein. Aber am Ende ist es vermutlich Überzeugung.

Der Kulminationspunkt der Affekte ist der Antiamerikanismus. Davon leitet sich alles ab, rechts wie links: die seltsame Russlandverklärung, die Sehnsucht nach der Heimeligkeit der geordneten Welt, auch die Spießigkeit und Muffigkeit, die mit dem allzu Heimeligen einhergeht. Dass es vom Antiamerikanismus zum Antisemitismus nicht mehr weit ist, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.

Es hat seinen Grund, warum die Grünen von allen Parteien am wenigsten auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Sie haben sich über die Natur eines autoritären Regimes wie Russland nie Illusionen gemacht. Es gibt ein bemerkenswertes Video aus dem Wahlkampf, in dem Annalena Baerbock die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas anspricht. Man kann erkennen, dass Scholz und Laschet in dem Moment gar nicht wissen, wovon sie redet.

Die Außenpolitik ist immer das Beste an den Grünen gewesen, da bin ich mir mit meinem Freund Gafron einig. Schon zu DDR-Zeiten waren sie die Einzigen, die bei Besuchen im anderen Teil Deutschlands regelmäßig bei den Bürgerrechtlern vorbeischauten. Davon ließen sie sich, anders als viele Vertreter der SPD oder der Union, auch nicht durch Drohungen oder Schmeicheleien abhalten.

Gafron hat das nicht vergessen. Er saß in der DDR im Knast, wegen versuchter Republikflucht. Kaum war er entlassen, hat er es dann gleich wieder probiert, im Kofferraum eines umgebauten R4. Dieses Mal war er erfolgreich. Wer einmal wirklich für seine Freiheit kämpfen musste, der ist für immer gegen jede Form des Kollektivismus imprägniert. Deshalb hat er stets Distanz zur AfD und ihren Leuten gehalten, auch wenn er manchem, was die AfD an Kritik vorbrachte, zustimmen konnte.

Ich glaube nicht an feministische Außenpolitik. Alles, was ich dazu gelesen habe, war ziemlicher Unsinn. Aber ich glaube daran, dass sich der Zivilisationsgrad einer Nation daran bemisst, wie sie mit Minderheiten umgeht. Man muss nur die Landkarte der Länder übereinanderlegen, in denen Schwule verfolgt werden, und man weiß ziemlich genau, wo man als freiheitsliebender Mensch leben will und wo nicht. Überall dort, wo an der Spitze Leute stehen, die sich davon bedroht fühlen, wenn Menschen anders leben als sie, wird es schnell sehr eng und sehr hässlich.

Der Artikel über Baerbock ist übrigens der letzte Artikel, den man bei „Tichys Einblick“ von Gafron findet. Ein Publikationsorgan, das seine Leser vor Meinungen, die sie nicht teilen, beschützen will, kann für einen wie ihn keine Heimat sein.

©Michael Szyszka

Partei des Establishments

Die Grünen leben vom Anspruch, Interessenvertreter der Jugend zu sein. Jetzt stellt sich heraus: Viele junge Menschen wählen lieber FDP. Es lässt sich kaum in Worte fassen, welche Schock- wellen dies durch die grüne Gemeinde schickt.

Vor ein paar Wochen hat der Deutsche Beamtenbund seine Mitglieder befragen lassen, wo sie politisch stehen. 32 Prozent der Beamten erklärten ihre Sympathie für die Grünen. Spitzenwert. Hätten Deutschlands Beamte am Sonntag die Bundestagswahl zu entscheiden gehabt, wäre jetzt Annalena Baerbock auf dem Weg ins Kanzleramt und nicht Olaf Scholz.

Wäre ich ein Spötter, würde ich sagen, die Zahl erklärt das enorme Ruhebedürfnis, das aus grünen Programmen spricht. Die Grünen reden ständig davon, wie fortschrittlich sie seien. Am laufenden Meter ist von dem progressiven Bündnis die Rede, das zu schmieden sie beabsichtigen. Tatsächlich ist allerdings nicht Veränderung ihr Ziel, sondern der weitreichende Schutz davor.

Der Fluchtpunkt aller Bestrebungen ist die dörfliche Idylle, in der nichts mehr raucht und lärmt. Wenn die Grünen von Stadt reden, meinen sie den Kiez und seine Bewahrung – vor dem Ausbau der Stadtautobahn, vor zu vielen Touristen und natürlich vor allen Großprojekten, wozu schon ein Riesenrad am falschen Platz gehört. Dass sich viele beim Betrachten der grünen Wahlkampagne an die repressive Heimeligkeit der 50er Jahre erinnert fühlten („Du willst etwa nicht mitmachen bei uns? Du denkst, du bist etwas Besseres?“), war kein Versehen, sondern Ankündigung.

Kann man es der Jugend verdenken, wenn sie sich nach Alternativen umsieht? Die beliebteste Partei unter Erstwählern ist die FDP, wie eine Nachwahlbefragung am Sonntag ergab. Das war natürlich ein Schock für alle Freunde der grünen Sache: Was, nicht Robert und Annalena sind die Helden der jungen Menschen, sondern Christian und Wolfgang?

Keine Umfrage hat für so viel mürrische Kommentare gesorgt. Die gleichen Leute, die eben noch wortreich erklärten, warum man mehr auf die Jugend hören müsse, waren nun dabei, über den Egoismus derselben herzuziehen. Selbst bessere Damen wie die in Feuilleton-Kreisen geschätzten Schöngeisterinnen Teresa Bücker oder Jago- da Marinic hoben indigniert den Zeigefinger, um die Freigeister zu belehren, dass Klimawandel kein Spaß sei.

Es ist etwas, was die Grünen nicht gerne hören, weil sie bis heute von dem Image zehren, irgendwie wild und ungebärdig zu sein: Aber wenn es eine Bewegung des Establishments gibt, dann die Ökobewegung. Selbst in den Führungsetagen der Wirtschaft erfreut sich die Partei inzwischen großer Beliebtheit. Die „Wirtschaftswoche“ veröffentlichte im April eine Umfrage, wonach sich ein Viertel der deutschen Führungskräfte Annalena Baerbock als Kanzlerin wünschte.

Was ich an den Grünen aufrichtig bewundere, ist ihre Fähigkeit, immer dabei zu sein, aber nie beteiligt. Sie sind mittlerweile in zehn von 16 Landesregierungen dabei. Sie haben die Mehrheit des medial-publizistischen Apparats hinter sich. Wenn Fridays for Future zum Klimastreik aufruft, gibt selbst der freundliche „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni jede Zurückhaltung auf und trommelt für eine Teilnahme. Dennoch gehen die Grünen bis heute als Oppositionspartei durch.

Schon aus diesem Grund bin ich dafür, dass sie endlich in die Bundesregierung einziehen. Wer anderen dauernd sagt, wo es längsgeht, sollte endlich auch mal nach außen Verantwortung übernehmen für das, was daraus folgt. Wobei: Sicher bin ich mir nicht, dass es so laufen wird. Wenn sie bei den Grünen eine Kunst perfektioniert haben, dann die, auch gegen eigene Entscheidungen Opposition zu betreiben, ohne dass ihnen das verübelt wird.

Viele Menschen denken, ich sei aus Prinzip gegen die Grünen. Ich habe die Grünen über Jahre gewählt, am Anfang aus Auflehnung, dann aus Bequemlichkeit. Ich kann nicht sagen, wann ich der Partei untreu wurde. Es war ein schleichender Prozess. Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass mir die Selbstzufriedenheit auf die Nerven ging, die aus dem Bewusstsein erwächst, auf der richtigen Seite zu stehen, ja, eigentlich immer recht zu haben.

Wenn ich sagen soll, was mich an den Grünen am meisten stört, dann ist es der passiv-aggressive Ton, mit dem sie Andersdenkenden begegnen. Vermutlich schlägt hier meine linke Erziehung durch. Der Widerspruch gegen Autoritäten wurde bei mir früh angelegt. Wenn mir jemand pädagogisch kommt, suche ich das Weite.

Ich kann auch mit dem unbedingten Glauben an das segensreiche Wirken des Staates wenig anfangen. Es heißt oft, Grüne und Freidemokraten seien verwandt, weil sie aus demselben bürgerlichen Milieu stammten. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein.

Ein Mantra von Robert Habeck lautet, der Staat, das seien doch wir alle. Wo er geht und steht, fällt dieser Satz. Ich will dem grünen Parteivorsitzenden nicht zu nahe treten, aber die englischen Klassiker scheinen in seinem Philosophiestudium allenfalls am Rande vorgekommen zu sein. Hätte er sie gelesen, wüsste er, dass Staatsskepsis am Beginn der Aufklärung steht. Die Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens ist die Freiheit, sich der Obrigkeit zu widersetzen.

Es war immer ein Gedankenfehler der Linken, dass sie Staat und Gesellschaft verwechseln. Das hängt möglicherweise mit ihrer Herkunft zusammen. Ich habe mir vor Jahren mal den Spaß gemacht, die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Westdeutschland anzusehen. Keine Generation ist so restbestandsfrei in den Staatsdienst gewechselt wie die erste Generation von Bewegungslinken, die berühmten Achtundsechziger. Zwischen 1968 und 1978 stieg die Zahl der öffentlich Beschäftigten um fast 40 Prozent. Das hat es vor- und nachher nie wieder gegeben.

Der öffentliche Dienst ist eine wunderbare Sache – lebenslange Beschäftigung, 13. Monatsgehalt, überschaubare Arbeitszeit, nichts dagegen zu sagen. Nur, waren die Linken nicht angetreten, den Staat aus den Angeln zu heben, statt sich in ihm einzurichten, fragte ich mich beim Blick auf die Zahlen. Wollten sie nicht Gegenmacht entfalten, Widerstand aufbauen? Es gibt von Kurt Tucholsky den schönen Satz: „Vor einem Schalter stehen: Das ist das deutsche Schicksal. Hinter dem Schalter sitzen: Das ist das deutsche Ideal.“ Meine Lehrer wussten schon, warum sie Tucholsky verehrten.

Den Grünen hängt der Ruf an, sie seien eine Verbotspartei. Aber das trifft es nur zur Hälfte. Die Liste der Dinge, auf die man besser verzichten sollte, ist bei ihnen lang, schon wahr. In einer Diskussion machte mich neulich eine Mitarbeiterin von Annalena Baerbock darauf aufmerksam, dass einige ihrer Bekannten glaubten, die Parteivorsitzen- de wolle jetzt Haustiere verbieten. Sie war erschüttert, wie viele Leute, die sie kannte, das für bare Münze nahmen. Aus meiner Sicht zeigt es, wie tief das Image als Verbotspartei verankert ist.

Mehr als Verbote zeichnet die Grünen allerdings der anstrengende Optimismus des deutschen Pfarrhauses aus. Im Grunde gibt es kein Problem, das man nicht mit gutem Willen und Selbstdisziplin in den Griff bekommen kann. Was andere als Verbot bezeichnen, sehen die Grünen eher als Anleitung zu einem besseren Leben. Deshalb reagieren sie auch mit solchem Unverständnis, dass manche Menschen einfach nicht erkennen wollen, wie einfach es wäre, wenn alle sich ein wenig mehr am Riemen rissen.

Der Reporter Bent Freiwald vom Digital-magazin „Krautreporter“ hat sich die Tage die Mühe gemacht, mal nachzufragen, warum so viele Junge FDP wählen. „Der Wille nach Veränderung und das Ablehnen des Status quo ist der treibende Faktor“, lautete eine Antwort. „Ganz besonders während Corona ist uns einfach immer wieder gezeigt worden, dass der Staat kein Ermöglicher ist, sondern Verhinderer“, eine andere.

Man kann auch ohne Philosophiestudium zur Staatsskepsis finden, wie man sieht. Nicht für jeden jungen Menschen ist die beruhigte Welt ein Sehnsuchtsziel.

©Michael Szyszka

Die Kirche der Erwachten

Würden Rockstars wie Jim Morrison von den Doors heute auftreten, würden sie sofort von der Bühne geholt werden, und zwar von links. Weißer Cisgender-Mann retraumatisiert Opfer von MeToo! Ewiges Auftrittsverbot wäre das Mindeste

Reden wir zur Abwechslung mal über Latex. Latex wird aus dem Saft des Gummibaums gewonnen und lässt sich zu eng anliegenden Kleidungsstücken verarbeiten, die sich in Fetischkreisen großer Beliebtheit erfreuen.

Es gibt eine nicht unbedeutende Szene, die über eigene Zeitschriften, Treffpunkte und Idole verfügt. Ich will hier nicht in die Einzelheiten gehen, schließlich ist dies eine Familienzeitschrift. Aber die Freunde des Latex attestieren dem Werkstoff wundersame Wirkungen auf das Liebesleben.

Wie jede Subkultur sucht auch die Latexszene Sichtbarkeit und Anerkennung. Wer auf den Kontakt mit Gummi schwört, hat schließlich genauso ein Anrecht darauf, von der Öffentlichkeit akzeptiert zu werden, wie, sagen wir, die Freunde der Taxidermie oder der Philatelie. Lange übrigens nichts mehr von Philatelisten gehört. Gibt es die überhaupt noch?

Am vorletzten Wochenende sollte eine große Latexparty im Strandbad am Berliner Plötzensee stattfinden. Alles war vorbereitet. Auch die Anwohner der anliegenden Kleingartenkolonie hatten ihre Einwilligung gegeben. Man ist schließlich in Berlin und nicht in Kleinwummersdorf.

Wobei genau das nach dem Wochenende infrage steht. Die Parade musste in letzter Sekunde abgesagt werden. Die grüne Umweltstadträtin Sabine Weißler äußerte Bedenken. Lärmschutz und Landschaftsschutz gingen vor. Es sei nicht auszuschließen, dass die Grünflächen Schaden erlitten. Also aus für die „Tropicalia“.

Im „Tagesspiegel“ habe ich ein Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Senioren-Union, Wolfram Wickert, zu dem Thema gelesen. Herr Wickert ist nicht nur der Bruder des bekannten Fernsehmoderators Ulrich Wickert, sondern erkennbar auch ein Mann, dem die Freiheitsrechte des Bürgers am Herzen liegen.

Der Berliner sei fröhlich und witzig, befand Herr Wickert von der Berliner CDU, aber das, was die rot-grüne Regierung politisch mache, habe damit nichts tun: „Kein Witz, keine Schlagfertigkeit, nur Verwalterei. Alles wird verboten, quotiert, unmöglich gemacht. Das schränkt einen so ein, das schränkt diese Stadt ein, auch geistig und kulturell.“

Kann man sich ein besseres Sinnbild für die Verdrehtheit der politischen Verhältnisse denken? Die Senioren in der CDU machen sich für das Recht auf Fetischparty stark – gegen die Grünen, die meinen: Unser Strandbad muss sauber bleiben!

Wann sind sie links der Mitte so falsch abgebogen, dass sie heute so weit rechts rauskommen, dass selbst ihre erzkonservativen Eltern dagegen wie liberale Freigeister wirken? Ich stehe da wirklich vor einem Rätsel. Vielleicht waren die Eltern von Leuten wie Frau Weißler Achtundsechziger, und sie zahlen es ihnen jetzt heim, indem sie extraverkniffen auftreten.

Es bleibt ja nicht beim Partymachen. Grundsätzlich steht jede Lebensäußerung, die zu laut oder zu grell oder überhaupt zu unbedacht ist, unter Beobachtung.

Vor einigen Tagen war der 50. Todestag von Jim Morrison, dem Sänger der Doors. Sowohl in der „FAZ“ als auch in der „SZ“ erschienen seitenlange Huldigungen. In dem Text in der „Süddeutschen Zeitung“ wurde an einen Auftritt erinnert, bei dem sich Morrison vor dem Publikum entblößt und sein Geschlechtsteil präsentiert haben soll.

Stellen Sie sich das heute mal vor. Den Skandal kann man gar nicht ermessen. Weißer Cisgender-Mann retraumatisiert Opfer der MeToo-Kampagne! Ewiges Auftrittsverbot wäre das Mindeste.

Man könnte Beispiel an Beispiel reihen. In der „Welt“ hat die Redakteurin Anna Schneider eine ganze Liste von Vorfällen erstellt, bei denen sich Musiker entschuldigen mussten, weil sie a: die falschen Worte wählten. Oder b: einer Handlung bezichtigt wurden, die heute als unangemessen gilt.

Billie Eilish musste sich bei den Fans entschuldigen, weil sie als 13-Jährige mal die Lippen zu einem Lied bewegt hat, in dem sich über Asiaten lustig gemacht wurde. Justin Bieber musste sich erklären, weil er als Weißer Dreadlocks trägt. Winston Marshall, Mitglied der Folkband Mumford & Sons, musste sich rechtfertigen, weil er das Buch eines konservativen Autors gelobt hatte. Er hat dann die Band verlassen. Eminem musste sich dafür erklären, dass in seinen Liedern so oft Gewalt gegen Frauen vorkommt. Und so weiter und so fort.

Eines steht schon mal fest: Musikagent ist auch kein Job mit Glamour mehr. Früher musste man im schlimmsten Fall die Rechnung begleichen, wenn die Rockband das Hotelzimmer zerlegt hatte. Aber bei jedem Satz darauf achten, dass sich der Schützling nicht um Kopf und Kragen redet? Da wird man besser Gouvernante. Oder Sittenwächter.

Ich glaube, das Ganze ist nur psychologisch zu erklären. Viele Leute, die bei der neuen Linken heute den Ton angeben, laborieren an Problemen, für die man früher einen Therapeuten aufgesucht hätte. Man soll nicht pathologisieren, schon klar. Aber in dem Fall sagen es die Betroffenen ja selbst: Bereits ein Begriff könne ausreichen, alte Wunden aufzureißen und überwundene Traumata wiederzubeleben. Wenn das nicht pathologisch ist, dann weiß ich auch nicht.

Im Englischen hat sich für die Anhänger der neuen Linken der Begriff „Woke“ eingebürgert. „Woke“ heißt so viel wie „wach“ oder „erleuchtet“. Das klingt nicht von ungefähr nach Sekte.

Warum sich Menschen einer Sekte anschließen, ist gut erforscht. Die neue Glaubensgemeinschaft gibt ihnen Halt und endlich Antworten auf unbeantwortete Fragen. Dazu kommt ein Gefühl des Auserwähltseins. Kritik von außen bestätigt die Anhänger nur in ihrer Überzeugung. Wer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt, verdient es, bestraft zu werden.

Das eigentliche Rätsel ist, wie es solchen Leuten gelingen konnte, ganze Parteien zu kapern. Welche Tür in die Dunkelheit man aufstößt, wenn man sich mit den Truppen der Wokeness einlässt, hat gerade die Kanzlerkandidatin der Grünen erfahren. Acht Tweets brauchte Annalena Baerbock, um zu erklären, warum sie in einem Interview ein Wort benutzt hatte, das man in dieser Welt nicht mehr benutzen darf.

Frau Baerbock hatte das N-Wort verwendet. Beziehungsweise: Sie hatte es, in Anführungszeichen gesetzt, ausgesprochen, um auf einen Fall von Rassismus aufmerksam zu machen. Sie hatte weder das Wort einfach gedankenlos genannt noch jemanden beleidigen wollen. Sie hatte nur einen aus ihrer Sicht empörenden Vorfall geschildert, in dem jemand den Begriff „Neger“ benutzte.

Folgt man Frau Baerbocks Selbsterklärung, gibt es also Wörter, deren negative Kraft so stark ist, dass sie selbst als Zitat verheerende Wirkung haben, weshalb man sie am besten ganz aus den Gedanken verbannt. Das stellt nicht nur die Geschichtswissenschaft vor neue Herausforderungen, sondern den politischen Diskurs insgesamt. Magisches Denken ist hier bislang nicht vorgesehen.

Auf LinkedIn ging diese Woche ein Text viral, in dem ein Nutzer daran erinnerte, dass man auch ein freundlicher, mitfühlender Mensch sein kann, ohne das ständig unter Beweis stellen zu müssen. „Ich komme aus einer Generation, die David Bowie, Lou Reed hörte und liebte und sich nie das Problem stellte, was für sexuelle Vorlieben sie hatten“, schrieb der Mann.„Es war uns egal, wir waren zufrieden und selig, weil ihre Musik uns berührte, Elton John, Freddie Mercury und George Michael. Und als Jimmy Somerville uns seine Geschichte als Kleinstadtjunge erzählte, waren wir gerührt und haben mitgesungen. Und es gab keine Gesetze, die uns zwingen sollten, solidarisch zu sein oder an einem ‚Zeichen gegen…‘ teilzunehmen.“

Offenbar hat der Autor einen Nerv getroffen. Der Text wurde vielfach geteilt. Aber ich fürchte, es beweist aus Sicht der Erwachten lediglich, wie rückschrittlich viele Menschen noch immer denken.

Am besten hören wir nur noch Meditationsmusik. Da kann nichts schiefgehen. Das Zirpen der Grillen, dazu ein sanftes „Om“. Ist auch lärm- und naturschutzverträglich. Da kann nicht einmal Frau Weißler aus Berlin-Mitte etwas dagegen einwenden.

©Silke Werzinger

Faktenfindungsstörung

Der Absturz der grünen Kanzlerkandidatin ist auch ein Debakel für den begleitenden Journalismus. Kaum etwas wurde an Annalena Baerbock so gerühmt wie ihr Detailwissen und ihre Sachkenntnis. Was ist da schiefgelaufen?

Annalena Baerbock hat sich für ihren Umgang mit der Plagiatsaffäre entschuldigt. Sie sei in die alten Schützengräben gerutscht, hat sie der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt.

Bittere Pille für ihren Rechtsanwalt, Prof. Dr. Christian Schertz beziehungsweise die Prominentenkanzlei Schertz Bergmann, die Baerbock auf dem Weg nach unten engagiert hatte. Als alter weißer Mann bezeichnet zu werden ist bitter. Aber als alter Schützengraben? Das wünscht man niemandem.

Es war ohnehin nie ganz klar, was der berühmte Anwalt aus Berlin ausrichten sollte. Angeblich ging es darum, die Kanzlerkandidatin gegen den Vorwurf der Urheberrechtsverletzung zu verteidigen. Aber bis heute ist von einer Klage gegen die sogenannten Plagiatsjäger nichts bekannt.

Stattdessen strengte Schertz in eigener Sache eine Gegendarstellung gegen „Focus Online“ an, weil dort in einem Halbsatz seine Zeit bei dem ebenfalls sehr berühmten Urheberrechtsanwalt Paul W. Hertin fälschlicherweise von acht auf zwei Jahre verkürzt worden war. Unterschätze nie die Eitelkeit von Medienanwälten!

Andererseits: Mit der Beauftragung von Professor Schertz sind die Grünen endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen, also dort, wo man das „Goldene Blatt“ liest, die arme Meghan Markle in ihrem Millionärselend bemitleidet und sich für die Ehekabalen im Hause Wulff interessiert. Zu den Mandanten gehören oder gehörten Bettina Wulff, Boris Becker, Karl-Theodor zu Guttenberg.

Apropos Becker: War Christian Schertz nicht der Mann, der aller Welt versicherte, wie solvent sein Mandant sei, als ein englisches Gericht den Tennischampion für zahlungsunfähig erklärt hatte? Gestern Ehrensolvenzbescheinigung für Becker, heute urheberrechtlicher Persilschein für Annalena Baerbock: Das Leben als Anwalt bringt immer neue Herausforderungen.

Wobei: Ich sollte aufpassen, was ich sage. Schertz gilt als klagefreudig. Der „Super Illu“ hat er mal eine Gegendarstellung reingedrückt, weil die geschrieben hatte, dass Schertz es gernhabe, wenn man ihn als Promianwalt bezeichne. Dazu stellte er fest: „Ich mag es nicht, als ‚Prominentenanwalt‘ bezeichnet zu werden.“ Ich nehme vorsorglich schon mal alles zurück, auch die Bezeichnung Promianwalt. Nur, wenn man Christian Schertz nicht als Promianwalt bezeichnen kann, als was denn dann?

Das gleiche Problem hat man jetzt mit seiner berühmten Mandantin von der grünen Partei. Das Letzte, was sie den Journalisten zurief, bevor sie sich in den Urlaub verabschiedete: Erstens seien an einem Buch immer mehrere Autoren beteiligt, und zweitens handele es sich in ihrem Fall gar nicht um ein Sachbuch.

Andere kommen von Tolstoi und Cervantes, Annalena Baerbock kommt von Joschka Fischer und Jürgen Trittin, wie man nun weiß. Aber: Kein Sachbuch? Was ist es denn stattdessen? Abenteuerroman? Befreiungsliteratur? Oder etwas ganz anderes? Dokufiction heißt die Gattung im Fernsehen, wo man Erlebtes und Erfundenes mischt. Vielleicht ist Annalena Baerbock die Begründerin eines ganz neuen Genres. Was den Verkauf angeht, muss man sagen: Die Quote stimmt. Das, immerhin, steht auf der Habenseite.

Am Montag haben die Grünen ihre Wahlkampagne vorgestellt. Jetzt soll es endlich um die großen Themen gehen: den Klimawandel, die soziale Gerechtigkeit, die Digitalisierung des ländlichen Raums. Die Leute hätten einen Hunger nach inhaltlicher Auseinandersetzung, erklärte der Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner. Ich verstehe nicht so viel von inhaltlicher Auseinandersetzung wie Herr Kellner, aber als ich das mit dem Hunger las, war mein erster Gedanke: Wenn er sich da mal nicht täuscht. Das eine ist, was die Leute sagen, was sie für wichtig halten, das andere, was sie tatsächlich interessiert.

Ich finde, die eigentliche Pointe der Nominierung wurde bislang nicht richtig gewürdigt. Jede Stimme für die Grünen sei eine Stimme gegen den Klimawandel, heißt es doch. Da das Überleben der Menschheit auf dem Spiel stehe, müssten sie das Kanzleramt übernehmen. Noch wichtiger als der Kampf gegen den Hitzetod ist den Grünen allerdings der Einsatz für die Quote. Dahinter muss alles andere zurücktreten, wie sich jetzt zeigt.

Die Grünen hatten einen Kandidaten, der das mitbrachte, was Annalena Baerbock fehlt: langjährige Regierungsverantwortung (Umweltminister und Vizeministerpräsident in Schleswig-Holstein), ein solider Lebenslauf (Doktor der Philosophie) – dazu gesegnet mit der Gabe der freien Rede und einer Reihe unzweifelhaft selbst geschriebener Bücher. Dummerweise hat Habeck das falsche Geschlecht. Deshalb liegt das Kanzleramt jetzt wieder in weiter Ferne.

Der Absturz der grünen Kanzlerkandidatin ist auch ein Debakel für den begleitenden Journalismus, das ist die andere Lehre aus den zurückliegenden Wochen. Was hat man in führenden Blättern nicht alles über Annalena Baerbock gelesen. Ihre Reden: Rockkonzerte. Ihr Aufstieg: ganz ohne die üblichen Machtspiele und Intrigen. Ihr Detailwissen und ihre Sachkenntnis: stupend.

Als Frau, „die noch im Halbschlaf das Kleingedruckte des Kohlekompromisses aufsagen könnte“, stellte sie der „Stern“ vor, der dann auch nur eine wirkliche Schwäche ausmachen konnte: „ihre Detailverliebtheit“. Ich weiß nicht, in wie vielen Geschichten über Annalena Baerbock ich das Zitat einer Parteifreundin gefunden habe, dass die Parteivorsitzende noch nachts um drei anrufe, weil sie einen völkerrechtlichen Vertrag gelesen und eine Detailfrage habe.

Und nun? Nun sieht es so aus, als ob die Vielbesungene und -gelobte nicht mal in der Lage ist, den Namen Walter Lübcke richtig zu schreiben oder die brandenburgische Kleinstadt Ludwigsfelde geografisch korrekt zuzuordnen. Die „taz“ hat ihr Buch „Jetzt“ am Wochenende einem Faktencheck unterzogen. Die Zahl der Fehler und Ungenauigkeiten füllte eine ganze Seite.

Auch im mündlichen Vortrag unterlaufen ihr ständig erstaunliche Verwechslungen und Versprecher. Ich habe neulich mal nachgezählt. Ich bin allein im ersten Anlauf auf über 20 Fehlleistungen gekommen.

Dass sie die UN-Charta für ein Gremium hält, Willy Brandt zum Begründer der sozialen Marktwirtschaft kürt und meint, das Stromnetz lasse sich auch als Stromspeicher nutzen: geschenkt. Aber wenn sie ihre Begeisterung für Europa damit begründet, dass ihr Großvater im Winter 1945 an der Oder gegen die Russen gekämpft habe, wird es ein wenig bizarr. Es soll ja auf Pazifikinseln japanische Soldaten gegeben haben, denen man zu sagen vergessen hatte, dass der Krieg aus war. Aber an der Oder?

Der CSU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber litt bekanntlich an Wortfindungsstörungen. Bei Annalena Baerbock muss man möglicherweise von einer Faktenfindungsstörung reden.

Viel ist in den vergangenen Wochen über die Unfähigkeit der grünen Kampagnenmanager geschrieben worden, die es versäumt hätten, sich auf vorhersehbare Nachfragen vorzubereiten. Habt ihr eure Kandidatin denn gar keinem Check-up unterzogen, lautete der händeringende Vorwurf von der „taz“ bis zum „Spiegel“. Eine Frage wurde interessanterweise ganz selten gestellt: Warum Annalena Baerbock glaubte, mit den Mogeleien durchkommen zu können?

Ein Grund für die Sorglosigkeit liegt in der Kumpanei zwischen Teilen der Presse und grüner Partei. Wer zu lange auf Händen getragen wird, dessen Reflexe erlahmen. Dazu zählt auch der Gefahrensinn. Zu viel Lob verdirbt außerdem den Charakter. Wenn man ständig über sich liest, wie gut man sich mit den Fakten auskenne, beginnt man, es irgendwann zu glauben.

©Sören Kunz

Die Schummelliese

Ein Ghostwriter, der keinen Strich am Text macht. Eine Autorin, die bis 23 Uhr in Terminen feststeckt. Die Version, die Annalena Baerbock zur Entstehung ihres Buches präsentiert, ist erkennbar Kokolores.

Ich habe am Wochenende etwas ganz Verrücktes getan. Ich habe das Buch von Annalena Baerbock gelesen. Es heißt „Jetzt“ und beschreibt dem Klappentext zufolge, was die Parteichefin der Grünen „persönlich als Politikerin antreibt, wie sie regieren will und wie wir gemeinsam die Erneuerung schaffen“.

Alle Welt sagt, dass die Grünen der nächsten Regierung angehören werden. Da will man als Journalist vorbereitet sein. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich gemeinsam mit Frau Baerbock die Erneuerung schaffen will, die sie mir in Aussicht stellt. Aber im Zweifel werde ich ja ohnehin nicht gefragt.

Was habe ich von der Lektüre behalten? Führung gelingt nur im Team. Demokratische Macht wird auf Zeit verliehen. Wir tragen Verantwortung für das Ganze. Um unsere Ziele zu erreichen, müssen Alt und Jung zusammenarbeiten. Ach so, und ganz wichtig: Neben dem Klima immer an die Kinder denken, denn die Kinder sind unsere Zukunft!

Vom Vernünftigen zur Plattitüde ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Das Interessanteste an dem Buch ist seine Entstehungsgeschichte. In der Verlagsankündigung steht, Annalena Baerbock habe es selbst geschrieben. So findet es sich auch in der Autorenangabe bei Amazon.

Hut ab, dachte ich. Viele Leute glauben, so ein Buch schreibe sich quasi nebenbei. Weit gefehlt. Wenn Sie nicht ein Sabbatical eingereicht haben, geht jeder Abend am Schreibtisch drauf, jedes Wochenende und jeder Urlaub. Ich spreche aus Erfahrung.

Annalena Baerbock kommt um 23 Uhr nach Hause, wie man in „Jetzt“ erfährt. Eine endlose Folge von Besprechungen und Terminen, abends eine Podiumsdiskussion – so schildert sie ihren Tag. Und danach noch an den Schreibtisch? Meinen allergrößten Respekt. Das schafft nicht mal Angela Merkel, und die löst bekanntlich vor dem Frühstück drei Weltkrisen.

Ganz so auf sich allein gestellt war die Autorin dann zum Glück doch nicht, wie man im Kleingedruckten erfährt. „In Zusammenarbeit mit Michael Ebmeyer“, steht etwas verschämt auf Seite vier des Buchs, gleich unter dem Versprechen des Verlags, dass man sich der Nachhaltigkeit verpflichtet fühle. Das hat verständlicherweise meine Neugier geweckt. Da bei der grünen Kanzlerkandidatin zuletzt immer wieder Fragen zu ihrem Lebenslauf auftauchten, habe ich mich gefragt, was mit „Zusammenarbeit“ gemeint sein könnte.

Zum Schreibprozess gibt es unterschiedliche Angaben. Der Wikipedia-Eintrag von Ebmeyer führt ihn als „Co-Autor“ auf. Im „Tagesspiegel“ wiederum heißt es mit Verweis auf den Ullstein-Verlag, Baerbock habe das Buch allein geschrieben. Frau Baerbock selbst hat die Zusammenarbeit zwischenzeitlich so erklärt: Im Dezember und Januar habe sie mit Ebmeyer lange Gespräche geführt. Auf Grundlage der wörtlichen Transkripte habe sie dann das Buch verfasst.

Das ist so ziemlich die verrückteste Autoren-Konstruktion, von der ich je gehört habe. Ein Ghostwriter, den man dafür bezahlt, dass er einem das Mikrofon hinhält, ohne anschließend einen Strich am Text zu tun? Dafür braucht es eigentlich keinen hoch bezahlten Spezialisten, der schon Klienten wie Außenminister Heiko Maas betreut hat. Das schafft, mit Verlaub, auch eine Mitarbeiterin in der grünen Parteizentrale.

Hätte Annalena Baerbock den Ghostwriter bloß seinen Job machen lassen, muss man im Nachhinein sagen. Sie hätte sich nicht nur endlose Stunden am Schreibtisch erspart. Sie hätte jetzt auch jemanden, den sie bitten könnte, doch einmal zu erklären, warum ganze Passagen des Buches nahezu wörtlich aus anderen Quellen abgekupfert wurden.

Möglicherweise wäre es zu der Abschreiberei mit Ebmeyer an ihrer Seite gar nicht gekommen. Der Vorteil eines Ghostwriters ist ja, dass er über die Zeit und die Erfahrung verfügt, die ein Spitzenpolitiker nicht hat.

Warum versucht sich jemand größer und weltläufiger zu machen, als er ist? Weil er das, was er bislang geleistet hat, als ungenügend empfindet, wäre die naheliegende Antwort.

Annalena Baerbock ist das Produkt eines Milieus, das auf geradezu rührende Weise selbstbezogen und selbstgenügsam ist. Seit der frühesten Kindheit spielt sich ihr Leben in der grünen Welt ab: aufgewachsen auf einem Bauernhof in der Nähe von Hannover, als Kind zusammen mit den Eltern in der Menschenkette gegen Wettrüsten und Atomkraft, mit 24 Jahren dann Mitglied bei den Grünen.

Auch ihr Berufsaufstieg hat sich nahezu ausschließlich in der grünen Welt vollzogen. Soweit ich das sehe, hat es noch nie einen Kanzlerkandidaten gegeben, der so wenig Berührung mit der Außenwelt hatte wie Annalena Baerbock. Alles, was sie ist, verdankt sie der grünen Partei.

Ich meine das nicht als Vorwurf. Viele Politiker gelangen nach oben, weil sie besser als andere den Apparat kennen beziehungsweise wissen, wie man sich in den Gremien, auf die es ankommt, Freunde macht. Die Probleme setzen oft dann ein, wenn der Parteipolitiker auf ein Publikum trifft, dem die Versiertheit im Gremienkampf nicht so imponiert wie dem Profi.

Der Wähler hat naturgemäß andere Fragen als das Parteimitglied. Der Wähler fragt sich: Wende zum klimagerechten Wohlstand, meinetwegen, aber vorher hätte ich gerne gewusst, ob ich zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehöre. Ob jemand seinen Lebenslauf etwas aufgemotzt hat, ist für viele zweitrangig, das ist die tröstliche Nachricht. Nur weil die Plagiatsjäger bei jedem geklauten Satz kopfstehen, folgt daraus nicht notwendigerweise, dass auch die Wähler das so verdammenswert finden. Was die Leute allerdings nach meiner Beobachtung definitiv nicht mögen, ist, wenn jemand versucht, ihnen ein X für ein U vorzumachen.

Dass ihr Lebenslauf etwas dünne geraten ist, den Eindruck hatte offenbar auch Annalena Baerbock. Wie soll man sonst das Bemühen erklären, die Ausbildungsstationen ein wenig aufzuhübschen, indem man Mitgliedschaften bei Organisationen erfindet, bei denen man gar nicht Mitglied werden kann, oder eine juristische Ausbildung vorgaukelt, die es nie gegeben hat?

Warum ausgerechnet auch noch ein Buch sein muss, wenn man ohnehin kaum weiß, wo einem vor lauter Terminen der Kopf steht: Das lässt sich nur aus der Konkurrenz mit Robert Habeck erklären. Bei Habeck käme allerdings niemand auf die Idee, er hätte seine Bücher nicht selbst geschrieben. Manche Dinge kann man sich nicht kaufen, die kann man sich nur erarbeiten. An dieser Erkenntnis führt kein Klappentext und kein Bestsellerrang vorbei.

Ich würde mich auf Übermüdung herausreden.Wer nach einem 16-Stunden-Tag noch die Nachtlampe anschaltet, um den Menschen draußen im Lande einen Weg zur Erneuerung aufzuzeigen, hat ein wenig Nachsicht verdient. Es ist doch kein Wunder, wenn um ein Uhr morgens Fehler passieren. Der Mensch ist schließlich kein Roboter. Ich glaube, das steht auch irgendwo in „Jetzt“.

Michael Ebmeyer, der Mann, der angeblich nur das Mikrofon hielt, ist übrigens wieder zum Schreibhelfer aufgerückt. Als „Co-Autor“ bezeichnete ihn der Grünen-Berichterstatter des „Spiegel“, Jonas Schaible, in einem Text darüber, wie sich die Grünen gegen die Plagiatsvorwürfe wehren. Als „Mitautor“ firmierte er am Mittwoch in einem Kommentar der „Süddeutschen“.

So kann es manchmal in der Verlagsbranche gehen: eben noch ein kleines Licht, das es nicht mal aufs Cover schafft – dann unversehens der Mann, der irgendwie mitverantwortlich ist für jedes Wort und jeden Fehler.

©MICHAEL SZYSZKA

Mein Haus, mein Rad, mein Volvo

Mit den Grünen ist es wie mit allem, was gut und teuer ist: Man muss sie sich leisten können. Die klimagerechte Gesellschaft ist nichts für arme Schlucker. Um dabei zu sein, braucht es auch die entsprechenden Mittel

Viele Leute in meinem Milieu verhalten sich nach dem Motto: links reden, rechts leben. Ich halte es andersherum. Also rechts reden, links leben.

Meine Kinder bringe ich morgens im Lastenfahrrad zum Kindergarten (Ganztagskita, da Dual Career Couple). Für den Weg ins Büro nehme ich die S-Bahn. Im Juni kommt die Solaranlage aufs Dach. Solardächer gibt es ja leider noch nicht, anders als die grüne Parteivorsitzende meint, wenn sie im „Bild am Sonntag“-Interview ankündigt, Solardächer bei Neubauten zur Pflicht machen zu wollen.

Bislang muss man sich noch mit Solarpanels behelfen. Aber auch so darf ich mich zu den Vorzeigebürgern zählen: 11 kWp, plus Energiespeicher. Wenn endlich die Sonne vom Himmel brennt, wie von Fridays for Future versprochen, bin ich ab Sommer autark. Der nächste Schritt ist dann der eigene Brunnen. Dann brauche ich auch die Stadtwerke nicht mehr.

Gut, der SUV trübt ein wenig die Ökobilanz. Aber erstens ist es ein Volvo, der geht irgendwie als grün durch. Und haben wir nicht außerdem gerade gelernt, dass der SUV unter Anhängern der Grünen besonders beliebt ist?

Die Marktforscher der Beratungsfirma „Puls“ haben bei Menschen, die in den vergangenen zwölf Monaten ein Auto erworben haben (oder daran denken, in den nächsten sechs Monaten eines zu erwerben), nachgefragt, welchen Typ sie bevorzugen. 16,3 Prozent der Grünen outeten sich als Geländewagen-Fans, so viele wie bei keiner anderen Partei. Am schlechtesten schnitten Sympathisanten der Linkspartei ab. Für die ist Klassenkampf noch ein Begriff: Die sind für die SUV-Industrie und ihre Verheißungen verloren.

Den grünen Lebensstil muss man sich leisten können. Die klimagerechte Gesellschaft ist nichts für arme Schlucker. Sorry, dass ich das so deutlich sage. Um mithalten zu können, braucht man nicht nur das richtige Bewusstsein, sondern auch die entsprechenden finanziellen Mittel.

Schon ein Blick auf die Stromrechnung zeigt, dass die Klassengesellschaft nicht verschwunden ist, nur weil keiner mehr darüber redet. Fragen Sie mal einen Möbelpacker, was er davon hält, dass wir in Deutschland heute die höchsten Strompreise in Europa haben. Ich bin sicher, er wird einem mit ruhiger Stimme auseinandersetzen, dass die Energiewende nun einmal ihren Preis habe.

„Aber die Förderung, die Förderung!“, höre ich jetzt einige rufen. Leider gilt auch hier: Wer hat, dem wird gegeben. Das ist wie mit dem Milliardär, der noch in der ärgsten Wirtschaftskrise sein Vermögen mehrt, weil er über Anlagemöglichkeiten verfügt, auf die kein normaler Bürger Zugriff hat. Die Solaranlage wird großzügig von der Gemeinde gesponsert. Auch für das Lastenfahrrad gibt es in München einen Zuschuss, vorausgesetzt, es ist elektrisch.

Ich habe mich im Netz umgesehen, was die aktuellen Ausführungen kosten. Das Einsteigermodell Babboe City-E schlägt mit 2749 Euro zu Buche. Beim Urban Arrow, einem unter trendbewussten Eltern derzeit sehr beliebten E-Bike, muss man 4750 Euro auf den Tisch legen. Das sind für viele Menschen drei Jahresurlaube. Aber mei, dafür gondelt man dann garantiert CO2-neutral durch die Gegend.

Auch über das eigene Dach für die Fotovoltaikanlage verfügt, Gott sei’s geklagt, nicht jeder. Dass die grünen Pläne den Traum von der eigenen Immobilie noch weiter in die Zukunft schieben werden, darf als ausgemacht gelten. In Berlin haben sie in einem Großexperiment erprobt, welche Auswirkungen die Mietpreisbremse hat, die jetzt ins grüne Wahlprogramm soll. Die Zahl der angebotenen Mietwohnungen hat sich binnen eines Jahres halbiert. Dafür stiegen die Preise für Eigentum um 12 Prozent.

Mir soll es recht sein. Ich habe schon gekauft. Als neulich in meiner Gemeinde Bürgermeisterwahlen waren, habe ich für die grüne Kandidatin gestimmt. „Mehr Radwege sind doch gut, das hebt den Wert unseres Hauses“, sagte meine Frau, die aus der Finanzindustrie kommt und der ich auch in politischen Dingen meist folge. Nur im Bund sollte man die Grünen besser nicht ranlassen, meinte sie: Da könne zu viel Unsinn passieren.

Wen die grüne Wende wie viel kosten wird, das ist die große Frage. Vor zwei Wochen war Annalena Baerbock beim ZDF zu Gast. Wie es denn in Zukunft mit dem Fliegen aussehe, wurde sie gefragt. Ihre dort geäußerte Position lässt sich so zusammenfassen: Wir müssen verzichten, aber nichts wird eingeschränkt. Jeder könne fliegen, wohin er wolle, aber natürlich dürfe es keinen Konsum auf Kosten künftiger Generationen geben. Als die Interviewer sich mit den Antworten unzufrieden zeigten, erreichte die Kanzlerkandidatin schließlich das rettende Ufer: Der globale Flugverkehr müsse eingeschränkt werden. Globale Lösungen sind immer gut, da kann niemand etwas dagegen haben.

Das Wolkige und Wohlklingende ist die Paradedisziplin der Grünen, da macht ihnen so schnell keiner etwas vor. Parteiprogramme bringen es mit sich, dass sie sich so lesen, als wäre die ideale Gesellschaft gleich um die Ecke, wenn sich nur alle endlich ein wenig am Riemen reißen würden. Die einzige Partei, die auf jeden Schmonzes verzichtet, ist die AfD, aber dort haben sie ja auch jeden Versuch aufgegeben, sympathisch zu wirken. Trotzdem bemühen sich die meisten Parteien wenigstens, hier und dort etwas Handfestes anzubieten.

Andererseits: Warum die Wähler vergraulen, wenn es auch ohne allzu Konkretes geht? Im Prinzip ist man sich ja einig, dafür sorgt schon die erstaunliche soziale Homogenität der Anhängerschaft.

Die Grünen waren immer ein Elitenprojekt. Keine andere Partei versammelt in ihren Reihen so viele akademisch gebildete oder zumindest anakademisierte Menschen. Nirgendwo ist der Anteil derjenigen, für die Wachstum schon deshalb keine Perspektive sein muss, weil sie auf die eine oder andere Weise vom Staat leben, ähnlich groß.

Lange haben sich die Grünen ihrer Herkunft geschämt. Bei der Wahl 2013 meinten sie noch, ein ambitioniertes Sozialprogramm auflegen zu müssen, um zu beweisen, dass sie auch etwas von Hartz IV verstehen. Inzwischen zeigen die Grünen ganz unverstellt, dass sie die Partei derer sind, die die Sorge ums Materielle weitgehend überwunden haben.

Auch die Grünen wissen, dass es da draußen Menschen gibt, die ihre Kinder nicht Jonas und Lena nennen, Montessori für einen Schaumwein halten und bei Fridays for Future bereits beim Buchstabieren ins Stolpern geraten. So wie man als gebildeter Mensch ja auch weiß, dass es im Regenwald Stämme gibt, die im Lendenschurz durch die Gegend streifen und noch mit Pfeil und Bogen jagen.

Man sieht sie halt nur nie. Jeder Grüne zählt mehr migrantisch bewegte LGBTQIA+-Aktivisten in seinem Bekanntenkreis als Abkömmlinge aus der Unterschicht. Schon das Wort ruft Unbehagen hervor. Deshalb ist auch ganz viel von klimagerechter Gesellschaft die Rede, das klingt irgendwie weitläufiger als die soziale Gerechtigkeit, für die man früher bei den Linken stritt. Zur Not erhöhte man halt die Hartz-IV-Sätze. Wenn es an etwas nie mangelt in der grünen Welt, dann an Geld. Das wächst dort auf den Bäumen.

Etwa 25 Prozent der Deutschen geben in Umfragen an, im September für die Grünen stimmen zu wollen. Weitere 25 Prozent sagen, dass sie sich theoretisch vorstellen könnten, grün zu wählen. Die Parteiführung wertet dies als Zeichen, dass die Grünen inzwischen Volkspartei seien. Für mich sind die Zahlen eher Ausdruck des Wohlstands dieser Gesellschaft.

Für 50 Prozent der Deutschen sind auch 200 Euro mehr für den Mallorcaflug kein Problem. Die Erhöhung der Ticketpreise hätte im Gegenteil sogar einen Vorteil. An Bord wäre man endlich wieder mehr unter sich: weniger Plebs, mehr Baedeker. Wenn das kein Versprechen an die Anhängerschaft ist!