Monat: April 2023

Sex-SMS an den „Bild“-Chef: Auch im Fall Reichelt gibt es nicht nur Gut und Böse

In der MeToo-Berichterstattung bevorzugen viele Medien Geschichten ohne Grautöne: hier das Opfer, dort der Täter. Die Wirklichkeit ist unübersichtlicher, wie SMS-Nachrichten im Fall Julian Reichelt zeigen

 Eine Geschichte aus dem Leben. Ein Mann und eine Frau treffen sich in Wien. Beide arbeiten bei derselben Firma, beide sind beruflich in der Stadt. Es entspinnt sich per SMS eine Konversation, die über den Tag anhält und erst in den frühen Morgenstunden endet.

13:20 Mann: Du bist auch in Wien?

13:34 Frau: Ja, Opernball

13:34 Mann: Ich auch nachher

13:35 Frau: Treffen?

13:36 Mann: Yes, bin erst mit Freunden essen. Danach Drink?

13:36 Frau: Ja, bin auch mit einer Freundin unterwegs. Sag Bescheid.

18:44 Frau: Sicher, dass Du später Zeit hast?

18:59 Mann: Nichts ist sicher außer Allah. Aber ziemlich. Wir können ja auch alle erst mal zusammen was trinken.

19:10 Frau: Machen wir so. Bin ab halb zehn im Schwarzen Kamel

Ein SMS-Verlauf, wie er so oder ähnlich jeden Tag tausendfach vorkommt. Einerseits. Andererseits auch wieder nicht, denn bei den beiden Personen, die am Ende dieses Tages ein Hotelbett teilen werden, handelt es sich um zwei Menschen, deren Beziehung erst die Compliance-Abteilung des Springer-Verlags, dann die Rechtsanwaltskanzlei Freshfields und kurz darauf alle großen Medien, von der „New York Times“ bis zum „Münchner Merkur“, beschäftigen wird.

Der Mann ist Julian Reichelt, vier Jahre Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, bis er nach Vorwürfen, er habe seine Macht missbraucht, gekündigt wurde. Auch die Frau kennt die Öffentlichkeit, allerdings nicht unter ihrem richtigen Namen. In der Berichterstattung über den Fall firmiert sie als Constanze Müller. Sie ist die Hauptbelastungszeugin im Verfahren gegen Reichelt; viele der ihm zur Last gelegten Vorgänge beruhen auf ihren Aussagen.

Was am 7. Februar 2018 in der Hotelnacht in Wien geschah, ist ein Dreh- und Angelpunkt des Skandals. Die Frau wird später erklären, Reichelt habe ihr befohlen, zu ihm ins Hotel zu kommen. Ihr sei auf dem Weg „kotzübel“ gewesen, nach dem Treffen habe sie angefangen, unkontrollierbar zu weinen. Aber sie habe sich nicht getraut, sein Verlangen nach „Sex auf Abruf“ abzuweisen.

So steht es auch in der Klageschrift, die sie in Los Angeles einreichte, um in Amerika die Gerechtigkeit zu erfahren, die ihr in Deutschland verwehrt blieb. Die Klage umfasst 132 Seiten, sie ist wie ein Drehbuch verfasst. Das meiste bleibt der Vorstellungskraft des Lesers überlassen. Außer eben, was diese Nacht in Wien angeht, da wird es konkret.

Eine Andeutung, dass es sich anders zugetragen haben könnte als bislang geschildert, findet sich bereits in der Geschichte der „Zeit“ vor zwei Wochen über die privaten SMS des Springer-Chefs Mathias Döpfner. „Oft ist es die Frau, die von sich aus über Sex spricht und Reichelt fragt, ob er noch vorbeikommen wolle“, schreiben die Autoren, ohne allerdings Einzelheiten zu nennen. Die lieferte am Freitag vergangener Woche dann der Medienredakteur Marvin Schade im Branchendienst „Medieninsider“.

Ich habe mit Schade telefoniert. Er ist aus gutem Grund vorsichtig, was die Bewertung angeht. Er sagt nicht, dass alles ganz anders war, als es die Frau schilderte. Aber der nun vorliegende Chat weise klar darauf hin, dass die Affäre einvernehmlicher war, als es bislang berichtet wurde. Das Leben ist nicht schwarz und weiß. Vor allem Journalisten sollten das eigentlich wissen.

23:34 Frau: Die Mädels wollen nach Hause.

23:34 Mann: In welchem Hotel bist Du?

23:39 Frau: Trendhotel Astoria.

23:53 Mann: Ich irgendwas mit Ferdinand. Bist Du noch unterwegs?

23:53 Frau: Ja.

00:01 Frau: Wollen jetzt aufbrechen.

00:17 Frau: Ist das auch ein Trend Hotel, in dem Du bist?

00:18 Mann: Jetzt schon…

00:18 Frau: Haha. Wo bist Du denn jetzt?

00:19 Mann: Noch im Restaurant. In ca. 20 los hier. Und Du?

00:21 Frau: Fast im Hotel. Wenn Dein Hotel das ist, was ich glaube, ist es 300 Meter von hier.

00:25 Mann: Das ist doch ganz praktisch, oder?

00:26 Frau: Gar nicht schlecht. Frage: Du zu mir oder ich zu Dir?

00:29 Mann: Ich glaub, meins ist besser.

00:30 Frau: Da bin ich mir sogar sicher. Schick mir mal die genaue Adresse.

00:30 Mann: Schubertring

00:38 Frau: Sind wirklich nur 300 Meter.

00:50 Frau: Yes or no?

Um das klar zu sagen: Ich hege keine besondere Sympathie für Julian Reichelt. Ich bin bis heute mit ihm per Sie, wir haben uns noch nie privat getroffen. Es soll auch das letzte Mal sein, dass ich mich zu der Sache äußere. Viele Journalisten haben eine Obsession mit dem Hause Springer entwickelt, ich will nicht den gleichen Fehler machen. Wenn ich trotzdem noch einmal über Reichelt schreibe, dann weil ich glaube, dass der Fall ein paar wichtige Lektionen bereithält.

Ich verstehe das Bedürfnis nach Übersichtlichkeit. Wo sich jeder so verhält, wie es das Drehbuch vorsieht, muss man weniger erklären. Überraschungen können nerven. Aber sollte man nicht gerade von Journalisten etwas mehr Gespür für die Fallstricke der Wirklichkeit erwarten? Malen nach Zahlen soll beruhigende Wirkung haben, als Methode beim Schreiben ist es furchtbar öde.

Ich bin unter anderem Journalist geworden, weil ich es immer reizvoll fand, die andere Seite zu hören. Der Mensch ist ein Bündel an widerstreitenden Motiven und Emotionen. Es mag Menschen geben, die das absolut Böse oder die reine Tugend verkörpern. Aber die meisten tragen beides in sich, mit größeren Anteilen des einen oder anderen. Deshalb sind ihre Handlungen oft komplex, mitunter auch kompliziert. Das macht es ja so interessant.

Nicht nur den Männern, auch den Frauen wird in der MeToo-Berichterstattung diese Komplexität verweigert. Sie kommen entweder als armes Hascherl vor, das nicht weiß, wie ihm geschieht – oder als ins Unglück Gestoßene, die sich dem Druck nicht erwehren konnte. Dass auch Frauen Avancen machen, weil sie sich Vorteile erhoffen oder weil sie es einfach aufregend finden, mit ihrem Chef eine Affäre zu haben, das kommt nicht vor.

Ist es möglich, dass man sich betrogen und ausgenutzt fühlt, obwohl man selbst es war, der eine Affäre initiierte? Auch das ist möglich. Es ist sogar denkbar, dass man einen Vorgesetzten manipuliert und dennoch als Verlierer endet. Aber mit dieser Erkenntnis bewegt man sich auf einem Terrain, das deutlich unübersichtlicher ist als die Geschichten, in denen der Mann immer der Täter und die Frau sein Opfer ist, ohne Graustufen dazwischen.

Eine Lehre aus dem Fall Relotius war, dass es saugefährlich werden kann, wenn Reporter dem Bedürfnis nachgeben, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen. Weil sich die Wirklichkeit dem Wunsch nach Eindeutigkeit widersetzt, muss der Autor nachhelfen, indem er Fakten unterschlägt oder, wie bei Relotius geschehen, Teile der Realität erfindet. Es sieht so aus, als ob es vielen schwerer fällt, die Welt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit in den Blick zu nehmen, als man sich das eigentlich vorgenommen hatte.

Im Sommer vergangenen Jahres hat der „Spiegel“ den Henri-Nannen-Preis für seine Reichelt-Berichterstattung erhalten. Nach Sichtung der Belege stellte der Chefredakteur des Branchendienstes „Kress Pro“, Markus Wiegand, die Preiswürdigkeit infrage, die Faktenlage erschien ihm zu dünn. Die Beleglage ist nicht besser geworden, muss man sagen.

@ Michael Szyszka

SMS-Leaks: Worum es bei dem Angriff auf Springer-Chef Döpfner in Wahrheit geht

Springer-Chef Mathias Döpfner steht in der Kritik, weil er sich in privaten SMS drastisch geäußert hat. Ein Skandal? Ja – für alle, die es immer schon unmöglich fanden, wie die Springer-Blätter die Grünen angehen

Was denkt Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der „Zeit“, über Politiker, die er für unfähig hält? Flucht er manchmal über sie? Hegt er hässliche Gedanken über Ossis, Muslime oder Angela Merkel?

Was schreibt Steffen Klusmann vom „Spiegel“ im Vertrauen, wenn er sich ärgert? Gestattet er sich Schimpfwörter? Hat Wolfgang Krach, der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, jemals eine SMS verfasst, von der er sich wünscht, er hätte sie nie geschrieben?

Nein, nein, nein. Ich bin sicher, diese Zeitungsführer schreiben auch in ihren schwärzesten Stunden so, dass es sich jederzeit für einen Leitartikel eignen würde. Niemals würde ihnen ein Wort wie „ficken“ über die Lippen, geschweige denn in die Tastatur kommen. Oder ein Ausdruck wie „AfD-Wichser“.

Selbstverständlich würden sie noch unter dem härtesten Einfluss von Alkohol oder anderer potenziell toxischer Substanzen in perfekter Orthografie darauf beharren, dass man auf keinen Fall ganze Volksgruppen über einen Kamm scheren dürfe. Schon gar nicht kämen sie auf die Idee, politische Gegner in die Opposition zu wünschen oder ihre Zeitungsmacht zu nutzen, damit sie dahin zurückkehren. Ein Verdikt wie: „Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten“? Bei ihnen undenkbar!

Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns, ist kein so beherrschter Mensch wie seine Journalistenkollegen. Er hat, wie man spätestens jetzt weiß, ein überraschend entflammbares Temperament, das sich gelegentlich auch in Flüchen und Schimpfkanonaden entlädt.

Zehn Tage ist es her, dass man in der „Zeit“ einen Teil der SMS lesen konnte, die er an Julian Reichelt, den ehemaligen Chefredakteur der „Bild“, geschickt hat, als dieser noch leitender Redakteur im Hause Springer war. So einen Freudentag hat man im übrigen Mediendeutschland seit Langem nicht mehr erlebt – kein Wunder, dass man ihn dort durch immer neue Kommentare und „Nachdrehen“ zu verlängern sucht.

Im „Spiegel“ war zu lesen, wie enttäuscht man von dem Mann sei, den man sich immer als Feingeist und Freund der schönen Künste vorgestellt habe. Und nun so ordinär und rabiat im Auftritt: schrecklich! Die brave „SZ“ fiel so sehr von einer Ohnmacht in die andere, dass sie der Causa über zehn Artikel widmete, darunter ein Streiflicht, eine Seite drei, einen Kommentar und zwei Medienaufmacher.

Darf man Ostdeutsche als Faschisten und intolerante Muslime als Gesocks bezeichnen? Natürlich darf man das. Es ist ungerecht, es ist unmanierlich, aber solange man damit nicht an die Öffentlichkeit tritt, liegt kein Grund für irgendwas vor. Wie heißt es so schön: Die Gedanken sind frei. Private Mails und Textnachrichten sind es auch.

Aber weil Döpfner nicht irgendwer ist, sondern der Chef des mächtigsten europäischen Medienhauses, heißt es nun, die SMS seien gar nicht richtig privat, jedenfalls nicht so privat, dass man daraus nicht zitieren dürfe. Dieses Argument wird kurioserweise vor allem von Leuten vorgebracht, die ansonsten bei jedem Verstoß gegen den Datenschutz einen Herzanfall bekommen.

Sie hätten die wirklichen privaten Nachrichten ja nicht veröffentlicht, rechtfertigen sich die „Zeit“-Redakteure. Also alles über Familie und Frauen hat man draußen gelassen, soll das wohl heißen. Andere machen aus den SMS-Fetzen umstandslos Dienstanweisungen an einen Untergebenen, womit es sich um quasi offiziöse Verlautbarungen handelt. Wenn es darum geht, eine Begründung zu liefern, warum man auch Sachen veröffentlicht, die man eigentlich nicht veröffentlichen sollte, waren Medien schon immer kreativ. Im Zweifel erfindet man irgendein „überragendes öffentliches Interesse“, dem man dient.

Wer das Verhältnis von Mathias Döpfner und Julian Reichelt kennt, weiß, dass es sich hierbei nicht um ein normales Arbeitsverhältnis gehandelt hat. Die beiden sahen sich als Kampfgefährten, als „Brothers in Arms“. Deshalb fiel ja auch die Trennung so schwer. Döpfner hielt noch an Reichelt fest, als alle ihm schon rieten, ihn loszuwerden. Reichelt wiederum entwickelte einen geradezu mörderischen Hass auf Döpfner, als der ihm am Ende die Tür wies. Schlimmer als ein zerbrochenes Arbeitsverhältnis ist enttäuschte Liebe.

Ein Bekannter, der für eine Zeitung in Berlin arbeitet, schrieb mir: „Die Scheinheiligkeit ist kaum zu ertragen. Wenn meine linken Freunde hören, dass ich in der Uckermark lebe, sagen sie immer: ,Echt? Da leben doch nur Nazis.‘ Das ist dann völlig akzeptierte Redeform.“ Aber auch das ist den Redakteuren in Hamburg vermutlich gänzlich unbekannt. Sie besitzen weder Häuser in der Uckermark, noch würden sie Ostler jemals als Nazis bezeichnen. Den einzigen Ossi, den sie in Hamburg beim Namen kennen, ist Gregor Gysi, und den mögen alle.

Um was es geht? Ganz einfach: Es geht darum, das einzige Medienhaus in Deutschland, das verlässlich gegen Rot-Grün antritt, in die Knie zu zwingen. Springer ist die letzte publizistische Macht, die in der Lage und vor allem auch willens ist, der Bundesregierung geschlossen das Leben schwer zu machen. Glaubt jemand ernsthaft, die „Süddeutsche“ würde einen Abgrund von „Menschenverachtung“ beklagen, wenn Döpfner seine Redaktionen angehalten hätte, entschiedener gegen den Klimawandel anzuschreiben und statt der FDP Annalena Baerbock zu unterstützen?

Marc Felix Serrao hat in der „NZZ“ darauf aufmerksam gemacht, dass das, was die „Zeit“ nicht für problematisch hält, mindestens so interessant ist wie das, was sie empörend findet. Nicht problematisch ist zum Beispiel eine Nachricht der Gesellschafterin Friede Springer an ihren Chefredakteur, in der sie den „lieben Julian“ bittet, er möge doch der „erfahrenen Bundeskanzlerin“ im Umgang mit der Corona-Pandemie zur Seite stehen. Es kommt eben ganz darauf an, für wen man Partei ergreift, damit ein Skandal daraus wird.

Man mag einwenden, dass es einen Unterschied macht, ob ein Vorstandsvorsitzender oder ein Chefredakteur seine Leute auf eine Blattlinie verpflichtet. Das ist formal richtig, aber für den Redakteur, den es trifft, fühlt sich beides gleichermaßen übergriffig an. Und dass dies ein Tabubruch wäre, können nur Leute behaupten, die frisch von der Journalistenschule kommen, wo man Pressekampagnen lediglich dem Namen nach kennt.

Der „Spiegel“ ist groß geworden, indem er Partei ergriff, erst für Brandts Ostpolitik, dann gegen Helmut Kohl. Auf 36 Titeln variierte die Redaktion die Zeile „Kohl kaputt“, bis es dann, nach 16 Jahren, endlich geschafft war. Ich habe in meinen 30 Jahren beim „Spiegel“ viele Ressortleitersitzungen mitgemacht. Lassen Sie es mich so sagen: Auch nach 1998 wurde dem Kampagnenjournalismus nicht abgeschworen. Fragen Sie Gerhard Schröder, der kann ein Lied davon singen.

Erst als Angela Merkel in der Flüchtlingskrise zur Kanzlerin der Herzen aufstieg, wandelte sich das Blatt. Seitdem sieht man sich in der Hauptstadtredaktion als kritischer, aber konstruktiver Begleiter der Regierung. Daher auch die unfassbare Langeweile, die viele Artikel heute verströmen. Wenn doch mal jemand ins Visier gerät, wie neulich der treue Merkel-Knappe Peter Altmaier, dann kommt die Geschichte garantiert nicht aus dem Berliner Büro.

Die eigentliche Pointe ist, dass die veröffentlichten SMS einen Döpfner abbilden, den es so gar nicht mehr gibt. Der neue Döpfner ist ein Mann, der möchte, dass die „Bild“ weniger bullig auftritt. Der seinen Führungskräften Awareness-Seminare verordnet, in denen sie den inklusiven, gendersensiblen Sprachgebrauch erlernen, und der mit Kommentaren eingreift, wenn in einem seiner Blätter Wissenschaftler die verrückte These aufstellen, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt.

Man darf getrost davon ausgehen, dass 60 Prozent der Deutschen die Lage so sehen, wie der Mann an der Spitze des Konzerns sie in seinen Nachtnachrichten schilderte. Dass Merkels Energiepolitik ein Unglück fürs Land war und ihre Corona-Politik übertrieben, dass Scharia-Muslime eine Gefahr darstellen und die Angst vor dem Klimawandel hysterische Züge trägt: Das kann die Mehrheit sofort unterschreiben. Dieser Mehrheit eine Stimme zu geben war bislang die Stärke der „Bild“.

© Sören Kunz

Kunst als Tabu-Bruch? Bloß nicht, es könnte sich jemand beleidigt fühlen!

Der Künstler als Tabubrecher, der Grenzen überschreitet und das Publikum verstört? Das war gestern. Heute wird vom Kunstschaffenden verlangt, dass er niemandem zu nahe tritt. Wenn es doch mal passiert, gibt’s Ärger

Jetzt ist also Wolfgang Koeppen dran. Suhrkamp-Autor, Georg-Büchner- und Arno-Schmidt-Preisträger, einer der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur, nach Meinung mancher Kritiker sogar größer als Heinrich Böll und Günter Grass.

Marcel Reich-Ranicki, der nicht nur etwas von Literatur, sondern auch von den Abgründen der deutschen Seele verstand, hat keinen Schriftsteller so gefördert wie den Mann aus Greifswald. Wenn es jemanden gab, der der Nachkriegsgesellschaft den Spiegel vorhielt, wie es so schön heißt, den kleinen und großen Nazis, die selbstverständlich alle im inneren Widerstand gewesen waren, als der Wind umschlug, dann Koeppen.

Und nun? Nun hat eine Gymnasiallehrerin aus Ulm entdeckt, dass die antisemitischen, ressentimentgeladenen Spießer in Koeppens Roman „Tauben im Gras“ so reden, wie antisemitische, ressentimentgeladene Spießer nun einmal reden – und seine Entfernung von der Liste der Schullektüre verlangt. Die mehrfache Verwendung des Wortes „Neger“ in den Dialogen sei eine „Waffe“ und damit eine Form sprachlicher Gewalt, befand die brave Frau. Gewalt aber will man am Gymnasium nicht dulden, nicht als gesprochenes Wort und nicht in Schriftform.

Ach Ulm, ist man versucht zu sagen. So geht es nun einmal zu in einer Stadt, deren bedeutendster Beitrag zur Gegenwartskultur der bekannte Zungenbrecher ist, der einen immer wieder in und um Ulm herumführt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass der Literat Koeppen Anstoß erregt. Schon den Zeitgenossen galt er als verdächtiger Kamerad. Zu modern, zu unversöhnlich im Blick auf die verdruckste Heimeligkeit des Aufbaudeutschlands, so lautete das Urteil. Der Autor beschmutze seine Landsleute: wie unanständig, wie garstig!

Aber was weiß man auf der neuen Linken schon von Literatur oder Geschichte? Zwei Judith-Butler-Zitate reichen heute, um bei jeder Kulturdebatte mitzuhalten. Deshalb findet sich auch in der Berliner Tageszeitung „taz“ die Forderung, dass Koeppen von der Liste muss. „Der Roman reproduziert rassistische Sprache.“ Außerdem: „Es braucht auch die Literatur weißer Männer nicht, die an zukünftige Leser*innen of Color wohl keinen Gedanken verschwendet haben.“

Koeppen ist der vorerst Letzte in einer Reihe von Autoren, die als so anstößig gelten, dass man ihre Texte entweder glättet oder am besten ganz aus dem Verkehr zieht. Zuerst hat es Roald Dahl erwischt, den britischen Kinderbuchautor, der – shocking – in Personenbeschreibungen Worte wie „fett“ verwendet. Dann teilte der Verlag von Ian Fleming mit, dass der Bond-Erfinder einer gründlichen Überarbeitung unterzogen werde. Auch Agatha Christie muss den Lesegewohnheiten angepasst werden.

Allen Autoren geriet zum Verhängnis, dass sich in ihren Werken Stellen finden, die von zartbesaiteten Gemütern als belastend empfunden werden können, weil sie entweder Klischees bedienen oder Worte enthalten, die man heute bestenfalls in abgekürzter Form benutzt wie das N-Wort oder das Z-Wort. Im ersten Moment glaubte ich an einen Marketingtrick, um tote Autoren vor dem Vergessen zu retten. Aber dann stellte ich fest: Die Verlage meinen es ernst.

Der Empfindlichkeit sind keine Grenzen gesetzt. Dass man Chinesen heute nicht mehr Gelbgesichter nennt: klar, leuchtet ein. Aber „fett“? Überall, wo bei „Charlie und die Schokoladenfabrik“ das hässliche Wort auftaucht, steht demnächst „enorm“. Der Kollege Martenstein wies darauf hin, dass eine berühmte deutsche Hip-Hop-Band damit um die Umbenennung wohl nicht mehr umhinkommt. „Enormes Brot“? Gewöhnungsbedürftig, zugegeben, aber dafür korrekt, jedenfalls so lange, bis „enorm“ unter Diskriminierungsverdacht fällt.

Es nützt auch nichts, wenn es sich bei den inkriminierten Stellen um Zitate handelt, der Autor also anstößige Ausdrücke benutzt, um Personen als besonders üble Vertreter ihrer Gattung zu kennzeichnen. Der Rassist befleißigt sich ja selten einer gendersensiblen Sprache. Es wäre zweifellos wünschenswert, auch der Totschläger würde von „PoC“ oder besser noch „BIPoC“ sprechen, wie der aufgeklärte Mensch „People of Color“ nennt. Allein der Weg ins Genderseminar von Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky blieb dem Rohling versperrt, weshalb er noch immer so redet, dass man sich schütteln muss.

Eine Reihe von Verlagen ist dazu übergegangen, sogenannte Sensitivity Reader mit der Begutachtung der zur Veröffentlichung vorgesehenen Manuskripte zu betrauen. Die „Zeit“ hat sich neulich den Spaß gemacht, einen Artikel über die Einrichtung dieser Bewusstseins-Lektoren von einem Bewusstseins-Lektor gegenlesen zu lassen. Um unbeanstandet durchzukommen, empfiehlt es sich, lieber stets einen Genderstern zu viel zu setzen, lernte man. Und immer Begriffe wie „weiß“ oder „schwarz“ großschreiben, um hervorzuheben, „dass es sich um eine ,Race‘, eine konstruierte Menschengruppe und nicht etwa um die Farbe handelt“!

Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, als die Kunst stolz darauf war, quer zu den Erwartungen der Gesellschaft zu liegen. Als sich Künstler damit brüsteten, widerborstig und unanständig zu sein. Dass Kultur verstört und gegen Tabus verstößt, galt nicht als Manko, sondern im Gegenteil als Beweis von Relevanz und Lebendigkeit. Nichts wäre für einen Künstler tödlicher gewesen als der Ruf, er unterlasse alles, was das Publikum herausfordern oder gar schockieren könnte. Der arme Mensch wäre sofort erledigt gewesen.

Heute ist die Kenntnis und Beachtung der Empfindlichkeitszonen geradezu Bedingung, um eine Beschäftigung zu finden. Nicht Originalität, sondern Affirmation ist die Voraussetzung für eine Karriere im Kulturbetrieb.

Geht den Leuten der Gouvernantenton, die andauernde Belehrung und Zurechtweisung nicht furchtbar auf die Nerven? Doch tut es, und wie sogar. Das Publikum ist intelligenter als die Macher. Die Münchner Kammerspiele, die stolz darauf sind, eines der politisch fortschrittlichsten Programme der Republik zu bieten, erleben einen beispiellosen Niedergang.

Unter der Überschrift „Da geh ich nicht mehr hin“ zeichnete die Theaterkritikerin Christine Dössel vor wenigen Tagen in der „Süddeutschen“ das Bild einer Bühne, die statt Kunst vor allem Gesinnung bietet. Das Gros der Inszenierungen begnüge sich damit, „queere, feministische, antirassistische Positionen zu vertreten oder – Lieblingswort – zu empowern“, schreibt die Kritikerin: „Die Kammerspiele kommen einem vor wie ein gesellschaftspolitisches Institut mit angeschlossenem Spielbetrieb.“ Dabei sei es alles andere als ausgemacht, dass Schwule, Lesben und People of Color nicht auch zuerst große Kunst sehen wollen und keine zielgruppenbemühte Ansprache. „Es gibt in München seit jeher ein offenes, dankbares, nach Theater lechzendes Publikum. Eigentlich dumm, das nicht zu bedienen.“

Das Ergebnis ist an den Einspielergebnissen ablesbar. Gerade mal 60 Prozent Auslastung, darüber kommt die Bühne kaum noch hinaus. Und dass die Bilanz nicht noch desaströser ausfällt, ist ausschließlich dem Komiker Gerhard Polt zu verdanken. „A scheene Leich“, das Stück, mit dem er gastiert: natürlich ausverkauft. Und selbstverständlich meldete die Dramaturgie sogleich Bedenken an, als Polt einen indischen Pfarrer parodierte.

Im vergangenen Jahr hat die Stadt München 1,2 Millionen Euro nachschießen müssen, für den laufenden Spielbetrieb ist es knapp eine Million. Aber irgendwie hat man sich darauf geeinigt, dass die Zuschauer schon noch lernen werden, welches Glück es für sie bedeutet, dass ihnen das Theater Bewusstseinsbildung statt Kunst liefert.

Ich bin da skeptisch. Auch im Theater gilt, was in meinem Gewerbe traurige Wahrheit ist: Wer als Abonnent einmal weg ist, der kommt nicht wieder. Das gilt übrigens auch für die treuen Buchkäufer, die man mit immer neuen Sprachmätzchen malträtiert. Wie sagte der alte Hopi-Indianer: Irgendwann werden sie feststellen, dass man Gendersterne nicht essen kann.

© Silke Werzinger

Am Glutkern

Die Regierung arbeitet an einem Gesetzesentwurf, der alles hinfällig macht, wofür Feministinnen jahrzehntelang gekämpft haben: Quoten, Räume nur für Frauen. Ob sie in Berlin wissen, was sie tun?

Wer ist die reaktionärste Politikerin Deutschlands? Meine Wahl fällt auf Bärbel Bas von der SPD.

Frau Bas ist Präsidentin des Bundestages und damit allen Abgeordneten verpflichtet, was sie nicht davon abgehalten hat, vor drei Wochen für eine Reform des Wahlrechts zu stimmen, deren Ziel es ist, CSU und Linkspartei aus dem Parlament zu kegeln. Nach dem neuen Gesetz könnte die CSU auch draußen sein, wenn sie in Bayern alle Wahlkreise gewinnt. Sobald eine Partei die Fünfprozenthürde reißt, ist sie raus, egal, was sie direkt geholt hat.

Nach der Reform ist vor der Reform, und deshalb hat Frau Bas jetzt erklärt, bei der Verkleinerung des Bundestages könne man nicht stehen bleiben. Im nächsten Schritt müsse man zur Parität im Bundestag kommen, also einer 50/50-Quote für Männer und Frauen.

Ich war irritiert, als ich das las. Steht über dem Koalitionsvertrag nicht „Mehr Fortschritt wagen“? Und nun hält ausgerechnet diese Regierung eisern an der Zweigeschlechtlichkeit fest. Hey, Freunde von der Ampel, möchte man den Koalitionären zurufen: Wir leben im 21. Jahrhundert! 50/50-Quote? Das ist ja, als ob man dafür wäre, dass man wieder Mohrenkopf und Zigeunerschnitzel sagen darf.

Die Überwindung der heteronormativen Ordnung, die Anerkennung, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, die Einsicht, dass wir Menschen endlich zugestehen, sich nicht der männlichen oder weiblichen Welt zuordnen zu müssen: Für all das haben Transmenschen jahrelang gekämpft. Und nun kommt Bärbel Bas von der SPD und sagt: 50 Prozent Frauen und 50 Prozent Männer und dazwischen: nix. Unisex-Toiletten halten sie im Bundestagspräsidium vermutlich auch für überflüssig.

Der Vorstoß der Bundestagspräsidentin ist umso rätselhafter, wenn man bedenkt, dass eine Tür weiter im Justizministerium gerade ein Gesetzesentwurf fertiggestellt wird, der die Zwangsherrschaft des Geschlechts ein für alle Mal beenden soll. Nach dem sogenannten Selbstbestimmungsgesetz wird es künftig möglich sein, sein Geschlecht dem eigenen Empfinden anzupassen. Ein Antrag beim Standesamt und im Pass steht das, was man dort sehen möchte: männlich, weiblich oder nichts von beidem.

Ursprünglich sollte das Selbstbestimmungsgesetz längst fertig sein. Es handelt sich dabei schließlich nicht um irgendein Vorhaben, sondern um eines der zentralen An- liegen der Fortschrittskoalition. Oder, wie es Robert Habeck gewohnt poetisch und Ludwig-Börne-Preis-mäßig ausdrückte: um den „Glutkern der Ampel“.

Aber dann kamen der FDP Bedenken. Was sich so einfach liest, hat weitreichende Konsequenzen. Was, wenn ein Mann in einer Frauensauna oder einer Umkleidekabine oder einem Frauenhaus aufkreuzt und Einlass begehrt, weil er, wie er sagt, sich jetzt als Frau definiert? Darf man ihm dann den Eintritt verwehren? Oder muss man ihn einlassen, auch wenn äußerlich nichts darauf hindeutet, dass er nicht länger ein Mann ist?

In der Trans-Community werden solche Überlegungen als „Horrorszenarien“ abgetan, als der Versuch rechter Kreise, mit an den Haaren herbeigezogenen Beispielen Stimmung gegen Transmenschen zu machen.

Wie man’s nimmt. In Schottland hat sich gerade die Regierung von Nicola Sturgeon über einen solchen Einzelfall zerlegt. Die Person, um die es dabei ging, Isla Bryson aus Clydebank, Dunbartonshire, hatte als Adam Graham zwei Frauen mit „ihrem Penis“ vergewaltigt, wie es der Staatsanwalt ausdrückte, dann, während des Prozesses, Kosmetikkurse belegt und nach ihrer Verurteilung, der neuen Geschlechtsidentität entsprechend, die Verlegung in ein Frauengefängnis beantragt.

Es gibt ein sehenswertes Fernsehgespräch, in dem Sturgeon die ursprüngliche Entscheidung, dem Verlegungswunsch zu entsprechen, zu verteidigen versucht. Zunächst weist sie die Frage, ob ein rechtskräftig verurteilter Vergewaltiger in ein Frauengefängnis ge-höre, unwirsch ab – das sei hier nicht die Frage. Als der Reporter nachsetzt, das sei aber seine Frage, verstrickt sie sich in Widersprüche.

Transfrauen seien Frauen, erklärt die Ministerpräsidentin standhaft, es bestünden aber Umstände, in denen Transfrauen in einem Männergefängnis untergebracht würden. Das veranlasst den Reporter zur Frage, ob es Umstände gebe, in denen ein als Frau geborener Mann in ein Männergefängnis käme, worauf Sturgeon erwidert, dass hier von Transfrauen die Rede sei. Die Umstände für Transfrauen seien also andere als für Transmänner? „Nun ja“, stammelt die Ministerpräsidentin am Ende nur noch.

Das ist das Problem: Wenn man Geschlechtsidentität zu einer Frage der Selbstdefinition macht, mit welchem Argument will man dann sagen: Jeder, der sagt, dass er sich als Frau fühlt, ist auch eine Frau – aber bei dir gilt das nicht, du bleibst weiterhin ein Mann, weil wir dir nicht glauben? Gleichheit vor dem Gesetz ist das Wesen des Rechtsstaats.

Ich bin sicher, der Tag ist nicht fern, an dem wir auch in Deutschland vor einem solchen Konflikt stehen. Der Justizminister hat in den Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes einen Passus einfügen lassen, der sicherstellen soll, dass Frauen unter sich bleiben, wenn sie das wünschen. Selbstverständlich sei es etwa den Betreiberinnen von Saunen freigestellt, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und unerwünschten Personen den Zugang zu verweigern, erklärte der Minister bei der Vorstellung des Gesetzesentwurfs vor zwei Wochen.

Kaum hatte er das gesagt, meldete sich die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman, um ihn zu korrigieren. Aus Rücksicht auf die Intimsphäre sei es zwar grundsätzlich gestattet, Männer aus Frauensaunen fernzuhalten, ohne dass dies unter Diskriminierung falle. Völlig anders liege der Fall aber bei Transfrauen, also Frauen, die als Männer geboren wurden. „Hier geht es nicht darum, dass ein Mann das Angebot für Frauen nutzen will, sondern eine Frau“, belehrte Ataman den Justizminister.

Vorsorglich wies die Antidiskriminierungsbeauftragte darauf hin, dass „ästhetische Empfindungen“ dabei keine Rolle spielten, worunter man in dem Fall wohl das Vorzeigen eines männlichen Geschlechtsorgans verstehen muss. Das äußere Erscheinungsbild eines Menschen sei kein Grund, vom Diskriminierungsverbot abzuweichen. Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen: Aber ich fürchte, Frau Ataman hat recht.

Werden jetzt ganz viele Männer als Frauen kandidieren? Oder sich in die Sauna schleichen, um der Runde stolz ihr Gemächt zu präsentieren? Vermutlich nicht. Aber es wird Fälle geben, und es wird darüber berichtet werden. Es gibt genug Creeps, die einen Kick daraus ziehen, Frauen zu erschrecken.

Ich finde es faszinierend, dass Frauen bereit sind, alles aufzugeben, wofür sie jahrzehntelang gekämpft haben. Safe Spaces, Quoten, sämtliche Privilegien und Bevorzugungen, die an das Geschlecht gebunden sind. Denn auch das gehört ja zur neuen Freiheit: Dass man sich weigert, sich überhaupt als Mann oder Frau zu definieren.

Womit wir wieder bei Bärbel Bas wären. Die einzige Lösung, die ich sehe, um dem Anspruch der Regierung, alle Geschlechter sichtbar zu machen, Rechnung zu tragen: Man richtet mehrere Quoten ein. Also eine Quote für alle, die sich als Frauen verstehen. Eine Quote für diejenigen, die sich als Männer sehen. Eine Quote für nonbinäre Menschen und dann ganz viele Quoten für all die anderen. Die Flagge des Regenbogens hat schließlich auch mehr als zwei Farben, nicht wahr?

Was die weiteren Arbeiten am Selbstbestimmungsgesetz angeht, enthalte ich mich jedes Urteils. In dem Fall kann ich ausnahmsweise sagen: Da bin ich als Mann raus. Wenn jedem freigestellt ist, ob er oder sie in einem Frauen- oder Männerwettkampf antritt: Dann verlieren nicht die Männer.

Bezeichnenderweise ist in den beteiligten Ministerien nie von männlichen Belangen die Rede, auf die es Rücksicht zu nehmen gelte, sondern nur vom notwendigen Schutz von Frauen. Man kann das ebenfalls für eine Form der Diskriminierung halten – oder aber für Einsicht in die Lebenswirklichkeit.

© Michael Szyszka

 

Habecks Schattenmann: Lernen Sie Deutschlands gefährlichsten Beamten kennen

Die Energiewende ist ins Stadium der Torheit eingetreten. Auch nach dem Krisengipfel gilt: Ab Januar 2024 sollen keine neuen Öl- und Gasheizungen zugelassen werden. Dabei sind viele Häuser für Alternativen ungeeignet

Ich möchte Ihnen einen Mann vorstellen, der es verdient hat, dass man ihn beim Namen kennt. Der Mann heißt Patrick Graichen. Herr Graichen ist verbeamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Das ist sein offizieller Titel. Ich würde sagen: Er ist der Mann, der es in der Hand hat, 35 Millionen Immobilienbesitzer so arm zu machen wie noch kein Staatssekretär vor ihm.

Patrick Graichen ist der Vater der Wärmepumpe. Vor vier Wochen hat ein Gesetzentwurf sein Haus verlassen, in dem steht, dass ab Januar 2024 in deutschen Häusern keine Gas- oder Öltherme mehr eingebaut werden darf. Ich dachte erst, es gehe um Neubauten. Das hätte ich verstanden. Wer ein neues Haus plant, kann Platz für Alternativen schaffen.

Aber nein, der Gesetzentwurf betrifft alle Heizungen in Deutschland. Das heißt: Wenn Sie nach dem 1. Januar 2024 einen neuen Brenner brauchen, dann haben Sie ein Problem, und zwar ein großes. Daran hat auch der Krisengipfel nichts geändert, der am Dienstag nach zähen Verhandlungen zu Ende ging.

Falls Sie beim Blick auf die „Bild“-Schlagzeile („Habecks strenges Heizungsverbot gekippt“) dachten, die Bundesregierung habe sich besonnen, muss ich Sie enttäuschen. Alles bleibt im Grunde beim Alten. Es gibt nur eine Änderung: Alte Heizungen dürfen länger in Betrieb bleiben, wenn sie mit klimafreundlichen Gasen laufen. Die Regierung nennt das „technologieoffen“. Da grüner oder blauer Wasserstoff so schnell nicht zur Verfügung stehen wird, kommt eigentlich nur Biogas infrage. Wohl dem, der über einen Misthaufen vor der Haustür verfügt!

Ich habe mich mit dem Thema aus Eigeninteresse ausführlich beschäftigt. Ich wohne in Pullach, im Süden von München. Das Haus ist von 1993. Der Vorbesitzer hat nicht viel machen lassen. Fast alles, was ich vorfand, als ich es vor fünf Jahren kaufte, war im Originalzustand.

Wie das so ist, wenn man renoviert, man fängt mit dem Dringlichsten an. Also Boden, Badezimmer, Leitungen, Fenster. Vor anderthalb Jahr war dann die Gasheizung dran. Ich habe den Monteur meines Vertrauens, den Fachbetrieb Daniel Dietze aus Pullach, angerufen und um Vorschläge gebeten. „Wie wär’s mit einer Wärmepumpe?“, habe ich gefragt. „Soll super sein. Außerdem gibt’s doch Zuschüsse, wie ich gehört habe.“

Herr Dietze hat mich mitleidig angesehen und dann geantwortet: „Erstens ist Ihr Heizungsraum zu klein, da passt nie und nimmer eine moderne Wärmepumpe hinein. Und zweitens: Auch die Wärmepumpe läuft nicht mit Luft und Liebe. In Ihrem Haus werden Sie am Ende des Jahres eine Stromrechnung bekommen, dass Sie vor Weinen nicht mehr in den Schlaf finden.“ Es ist dann ein moderner Brenner von Buderus geworden.

Mit der Wärmepumpe erreicht die Energiewende das Stadium der Märchenstunde. Oder soll man sagen: der Torheit? Alle wissen, dass das Vorhaben scheitern muss, aber keiner traut sich, es auszusprechen.

Viel war in den vergangenen Tagen von den Kosten die Rede. Das kommt ja dazu: So eine Wärmepumpe ist wahnsinnig teuer. Für meinen Gasbrenner habe ich alles in allem 13000 Euro bezahlt, inklusive Einbau und Inbetriebnahme. Dafür spare ich jetzt etwa 30 Prozent an Energie. Die Bilanz kann sich sehen lassen, wie ich finde. Aber das reicht den Leuten im Wirtschaftsministerium nicht. Deshalb muss jetzt auch die arme Oma auf dem Lande ran, die froh ist, dass sie ihr Häuschen abbezahlt hat.

Die entscheidende Frage wird interessanterweise selten gestellt: Funktioniert die Umstellung überhaupt? Beziehungsweise: Die Frage wird gestellt und auch beantwortet (und zwar abschlägig), aber die Antwort dann ignoriert. Im „Spiegel“ kam neulich die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker, lange Zeit Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, zu Wort. Wie sie den Wärmepumpenplan der Regierung bewerte, wurde sie gefragt. Das sei ein Irrweg, den Wirtschaftsminister Habeck am besten sofort beenden sollte, lautete ihr Urteil. Viele Häuser in Deutschland seien für den Einsatz nicht geeignet. Außerdem gebe es weder genug Geräte noch Handwerker.

Möglicherweise liest man Wochenpresse im Wirtschaftsministerium nicht. Oder man denkt dort: Frauen auf dem Bau, die kann man ohnehin nicht ernst nehmen. Herr Graichen hat Politikwissenschaft studiert, bevor er bei einer grünen Lobbyfirma anheuerte. Politik ist ein schönes Studium. Bauphysik kommt da allerdings nicht vor. Ich bin der Letzte, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Ich habe Physik in der 10. Klasse abgewählt. Aber ich entwerfe eben auch keinen Energiemasterplan für Deutschland.

Die Bürger sollten sich keine Sorgen machen, heißt es jetzt, das Wärmepumpen-Projekt werde sozial abgefedert. Wer es sich nicht leisten könne, solle nicht mehr für eine Wärmepumpe als für eine Gasheizung zahlen müssen. Niemand werde im Stich gelassen, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil am Dienstag. Das ist jetzt der Plan: Wir nehmen Milliarden in die Hand, um ein Vorhaben zu finanzieren, von dem alle wissen, dass es nicht funktionieren kann. Das ist die Torheit auf die Spitze getrieben.

Bleibt noch die Frage nach dem Einbau. Wann haben der SPD-Vorsitzende oder der Bundeswirtschaftsminister das letzte Mal versucht, einen Handwerker zu bekommen? Aber vielleicht läuft es ja wie bei der Bahn: Um ihr Image zu verbessern, hat die Bahn ein Programm aufgelegt, wonach Pünktlichkeit garantiert ist, sobald ein Spitzenpolitiker den Zug besteigt. Möglicherweise gibt’s das jetzt auch für Monteure.

Was sagt Herr Graichen zu allem? Vor ein paar Monaten war der Staatssekretär zu Gast beim Verband der Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Geht eine Hand hoch: Wo denn die 60000 Handwerker herkommen sollen, die es schätzungsweise bräuchte, um die ehrgeizigen Pläne der Bundesregierung in die Tat umzusetzen? Na ja, sagte der Herr Staatssekretär, dann müssen halt ein paar Fliesenleger weniger Fliesen verlegen. Es gab ein sehr lautes Klack, als allen die Kinnlade runterfiel.

Eine Lösung: Solange es noch erlaubt ist, den alten Brenner durch einen neuen ersetzen. Dann ist man erst einmal auf der sicheren Seite. In jedem Fall aber würde ich dazu raten, Ersatzteile zur Seite zu legen. Reparaturen sind weiterhin erlaubt, wie Robert Habeck vor ein paar Tagen sagte: „Wer kaputte Ölheizungen oder Gasheizungen hat, der kann sie heile machen. Und zwar nicht nur einmal, sondern so lange, wie es irgendwie geht.“

Also: Austausch ist ab Januar verboten, aber „heile machen“ ist okay. Ich prophezeie Ihnen, Ersatzteile für Öl- oder Gasheizungen sind ab nächstem Jahr das neue Gold. Falls Sie mir nicht glauben: Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Die Professorin im Rat der Wirtschaftsweisen, Veronika Grimm, spricht vom „Havanna-Effekt“. So wie die Kubaner immer noch mit brüchigen Oldtimern durch die Straßen fahren, werden viele Deutsche mit allen Mitteln versuchen, ihre alte Heizung über die Zeit zu retten.

Aus München erreichte uns diese Woche übrigens die Nachricht, dass sich die Besit-zer von Elektrofahrzeugen auf höhere Strompreise einstellen müssen. An den Schnellladestationen der Stadtwerke München steigt der Preis bei Gleichstrom auf 79 Cent pro Kilowattstunde. Das macht umgerechnet auf 100 Kilometer 15,80 Euro. Da fahren viele Verbrenner günstiger.

Anderseits: Wer hat gesagt, dass der Umstieg auf Strom Geld spare? Seien Sie froh, wenn überhaupt Strom fließt. Die Besitzer von Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen sollten sich auf Engpässe einstellen, hat kürzlich der Chef der Bundesnetzagentur gewarnt, es könne zu Stromrationierungen kommen.

Vielleicht ist die Pelletheizung die Lösung, und sei es als Back-up. Holz gibt’s immer.

© Sören Kunz