Monat: Oktober 2020

Welt der Angst

Warum hat der Verlag S. Fischer nach 40 Jahren die Zusammenarbeit mit seiner Autorin Monika Maron beendet? Politische Differenzen, das auch. Aber was, wenn der wahre Grund in der Feminisierung des Kulturbetriebs läge?

Ich war vor anderthalb Jahren in Dresden zu einer Lesung bei der Buchhändlerin Susanne Dagen. Ein Bekannter, der mit Frau Dagen befreundet ist, hatte mich gefragt, ob ich mal bei ihr auftreten würde. Seine Freundin lebe, neben dem Buchverkauf, vom Veranstaltungsgeschäft, es sei für sie aber immer schwieriger, Autoren zu gewinnen. Selbst langjährige Bekanntschaften würden absagen. Sie würden ihr nette Briefe schreiben, warum sie ihre Arbeit sehr zu schätzen wüssten, aber dann folge die Entschuldigung, man möge bitte, bitte verstehen, dass man der Einladung nicht folgen könne.

Susanne Dagen war einmal eine der angesehensten Buchhändlerinnen Deutschlands. Ihr Buchhaus Loschwitz wurde zweimal nacheinander mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet; zu ihren Kunden gehörten Prominente wie der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière und der Schriftsteller Ingo Schulze.

Dann machte sie den Fehler, ein Protestschreiben aufzusetzen, weil die Frankfurter Buchmesse den rechten Kleinverleger Götz Kubitschek aussperren wollte. Als man sie darauf hinwies, dass Leute wie Kubitschek kein Umgang für eine angesehene Buchhändlerin seien, zuckte sie mit den Achseln. Wie viele Ostdeutsche kann Dagen in Haltungsfragen ziemlich stur sein. Sie hat dann aus Trotz mit der Frau von Kubitschek eine Lesereihe auf YouTube gestartet. Seitdem gilt sie ebenfalls als rechts.

Die Dagens waren schon in der DDR dagegen. Die Mutter unterhielt in Dresden eine Galerie. Wenn die Familie im Urlaub war, kam es vor, dass die Mutter nach Hause zurückmusste, weil gerade mal wieder einer ihrer Künstler in Ungnade gefallen war und die Bilder von der Wand sollten.

Wer der Stasi getrotzt hat, hat keine Lust, sich sagen zu lassen, mit wem er zu verkehren hat. Ich verstehe das. Ich kann es auch nicht leiden, wenn man mir sagen will, wen ich treffen darf und wen nicht, und dabei habe ich noch nicht mal mit der Stasi zu tun gehabt.

Wie gefährlich es ist, mit Frau Dagen befreundet zu sein, hat dieser Tage die Schriftstellerin Monika Maron erfahren. Der Verlag S. Fischer hat mit Verweis auf die Bekanntschaft nach 40 Jahren die Zusammenarbeit beendet. Maron hat in einer Schriftenreihe ihrer Freundin ein kleines Essay-Bändchen veröffentlicht. Als die Fischer-Verlegerin sie per Mail aufforderte, sich von dem Buch zu distanzieren – eine Praxis, die Maron aus der DDR kannte – weigerte sich die Autorin. Maron kann ebenfalls ziemlich stur sein.

Viel war in der letzten Zeit von der sogenannten Cancel Culture die Rede, also dem Versuch, missliebige Meinungen zu unterdrücken, indem man Auftritte verhindert oder die Absage von Publikationsplänen erzwingt. Inzwischen glaube ich, dass die Dinge komplizierter liegen. Nicht der Versuch, Menschen am Reden oder Publizieren zu hindern, ist das eigentliche Problem. Das wahre Problem ist die Feigheit der Leute, die einfach Nein sagen müssten, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Im Grunde ist es doch ganz simpel: Man muss die Cancel-Culture-Rufe nur ignorieren. Niemand kann einen zwingen, eine Lesung abzusagen oder sich von einem Autor zu trennen, wir leben ja nicht in der DDR. Notfalls holt man den Staatsschutz.

Der Druck von außen wird oft maßlos überschätzt. Über die Zahl von 30 bis 40 Aktivisten, die sich gegenseitig anfeuern, reicht die Cancel-Culture-Clique selten hinaus. Ursächlich für die Feigheit ist die Angst vor den eigenen Mitarbeitern, den Lektoren, Übersetzern und Verlagsangestellten, die sich in einem S. Fischer Verlag ohne Monika Maron wohler fühlen als in einem mit ihr. Das ist der Druck, dem sie sich an der Spitze nicht gewachsen fühlen. Dass immer nur Autoren, die als rechts gelten, ein Problem darstellen, nie linke, gehört dabei zu den Eigentümlichkeiten des Verlagsgeschäfts. Wer links ist, kann den größten Unsinn von sich geben, das gilt dann als mutiger Aufschrei einer empörten Seele.

Die Änderung der Verlagswelt spielt auch eine Rolle. An die Stelle von Verlegern, die ihre Autoren als Mitglieder einer erweiterten Familie betrachteten, sind vielerorts Verlagsmanager getreten, die außerhalb der Branche kaum jemand mehr kennt und die Vertragsverhältnisse als rein juristische Position sehen.

Unter der aktuellen „Spiegel“-Geschichte über das Zerwürfnis zwischen Monika Maron und dem Fischer-Verlag stehen vier Namen, darunter zwei Kultur-Ressortleiter. Keinem der Redakteure war aufgefallen, dass die Fischer-Verlegerin Liv Bublitz, wie sie in dem Artikel genannt wird, in Wirklichkeit Siv Bublitz heißt.

Wer will den Redakteuren einen Vorwurf machen? Frau Bublitz ist sicher eine tüchtige Frau, an der der Holtzbrinck-Konzern, zu dem S. Fischer gehört, viel Freude hat. Sie ist halt nur nicht das, was man eine Verlegerpersönlichkeit nennt, also jemand, der sich schon aus Gründen der Selbstachtung dem Druck, den man auf ihn ausübt, entgegenstellen würde.

Vielleicht muss man das Ganze nicht als Krisensymptom, sondern als Begleiterscheinung einer Feminisierung des Kulturbetriebs verstehen. Bevor jetzt alle über mich herfallen, füge ich vorsichtshalber hinzu, dass ich damit eine Stilfrage meine, nicht notwendigerweise eine des Geschlechts.

Hören wir nicht ständig, wie wichtig es sei, dass man alle mitnimmt und sich achtsam und inklusiv verhält? Wenn jemand bei einem Text ein Unbehagen oder Unwohlsein verspürt, dann wird darauf selbstverständlich eingegangen.

Die Übersetzerin findet, dass in der Anthologie mit den 100 schönsten Naturgedichten zu wenig afrikanische Autorinnen vorkommen: Um Gottes willen, natürlich, wir müssen unbedingt mehr für die Sichtbarkeit afrikanischer Gedichtkunst tun! Die Lektorin bei Blanvalet hat Bauchschmerzen bei dem neuen Krimi von Joanne Rowling, weil in den Zeitungen steht, dass Frau Rowling transfeindlich sei? Ein wichtiger Einwand, vielleicht sollte Blanvalet sein Engagement grundsätzlich überdenken.

Ich halte es nicht für die vordringliche Aufgabe von Kultur, Wohlbehagen zu erzeugen, aber das ist zweifellos eine Privatmeinung. Was nicht mehr ganz so privat ist, sind die Folgen der neuen Wohlfühlkultur, in der sich alle mitgemeint und mitgedacht fühlen. Wer darauf getrimmt ist, Konflikte zu moderieren, statt sie auszuhalten, ist total aufgeschmissen, wenn er unerwartet Rückgrat zeigen soll.

Manchmal wünsche ich mir die Verleger zurück, die sich nicht darum scherten, ob einer links oder rechts war, sondern nur, ob er etwas zu sagen hatte. Uns wird gepredigt, die Zeit breitbeinig auftretender Männer sei vorbei. „Breitbeinig“ ist geradezu zum Synonym für „verachtenswert“ geworden. Der Vorteil des breitbeinigen Auftritts ist allerdings, dass man fest auf der Erde steht, wenn ein Sturm kommt. Eine breitbeinige Person bläst so schnell nichts um.

Neulich gab es bei Kiepenheuer & Witsch einen Aufstand, weil sich im Lyrikband des Rammstein-Sängers Till Lindemann ein Gedicht fand, aus dem man mit ein wenig bösem Willen herauslesen konnte, dass der Autor Sex mit betäubten Frauen gut fände. An den Verlag erging die Aufforderung zur sofortigen Entfernung aller Lindemann-Bücher aus dem Verlagsprogramm.

Die Reaktion des Alt-Verlegers Helge Malchow: Er wies darauf hin, dass man in der Literatur aus gutem Grund zwischen Fiktion und Realität unterscheide, weshalb es bis heute üblich sei, dass man einen Autor nicht für Äußerungen seiner Geschöpfe zur Rechenschaft ziehe. Die Reaktion seiner Nachfolgerin, der braven Kerstin Gleba: eine lange, gewundene Erklärung, wie ernst man die Perspektiven und Argumente der Kritiker nehme, verbunden mit dem Versprechen, diese „wertvollen Impulse“ künftig stärker in der Verlagsarbeit zu berücksichtigen.

Ich glaube, ich bin für mehr breitbeinige Frauen im Kulturleben. Meine Verlegerin bei Random House, wo mein neues Buch erschienen ist, ist übrigens eine Frau. Sie sehen also, Standfestigkeit ist wirklich keine Frage des Geschlechts.

Die Zeugen Igors

Wie weit darf eine Polemik gehen? Nun ja, es gibt nicht viele Freiheiten, bei denen wir vor 100 Jahren schon mal weiter waren: Die Freiheit zur Boshaftigkeit ist so eine, wie der Fall des Pianisten Igor Levit zeigt

Das erste Quartal seiner neu gegründeten Zeitschrift „Die Fackel“ schloss Karl Kraus mit einem „Rechenschaftsbericht“ ab. Er lautete wie folgt: „Anonyme Schmähbriefe: 236, Drohbriefe: 83, Überfälle: 1“. Wie man sieht, bemaß Kraus den Erfolg einer Zeitschrift nicht an Auflage oder Umsatz, sondern an der Ablehnung, die sie hervorrief. Das war die Währung, die für ihn zählte.

Kraus erhob die Beleidigung zur Kunstform, deshalb ist es noch nach hundert Jahren eine Freude, ihn zu lesen. Gerade ist eine 1100 Seiten umfassende Biografie mit dem schönen Titel „Der Widersprecher“ erschienen. Man fragt sich unwillkürlich, welchem derzeit lebenden Autor so etwas im Jahr 2120 vergönnt sein wird?

Kraus hätte es als Journalist heute schwer. Karl Kraus im Feuilleton einer deutschen Tages- oder Wochenzeitung? Das gäbe ein Theater! So könne man nicht über Menschen schreiben, würde es heißen, das gehe zu weit. Schon nach dem ersten Artikel sähe sich eine Chefredaktion, die ihn zu Wort kommen ließe, mit der Aufforderung konfrontiert, den Widersprecher ruhigzustellen und sich bei den Lesern zu entschuldigen.

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat vor einigen Tagen einen Text über den Pianisten Igor Levit veröffentlicht. Levit ist für sein politisches Engagement mindestens so geliebt und gelobt wie für sein Klavierspiel, daher beschäftigte sich der Text auch zu zwei Dritteln mit Ersterem. Normalerweise werden Levit Kränze gewunden; er hat es als Künstler, der Position bezieht, wie das so schön heißt, bis in den „New Yorker“ und die „New York Times“ geschafft.

Der Text in der „Süddeutschen“ fiel etwas anders aus. Er war in Krausscher Manier abgefasst, das heißt, der Autor machte gar nicht den Versuch, fair und unvoreingenommen zu sein. Levits Klavierkünste? Prima, aber auf keinen Fall zu vergleichen mit dem sehr viel begabteren Daniil Trifonov, der spiele in einer ganz anderen Liga. Levits Twitter-Einsatz gegen Rechts? Ein nicht wirklich ernst zu nehmendes Hobby. Seine Fans? Eine humorfreie Bagage, die auf jeden losgehe, der sich einen unabhängigen Gedanken erlaube.

Nebenbei bekam noch der Bundespräsident sein Fett ab für die Entscheidung, Levit fürs Twittern mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet zu haben – und natürlich alle Multiplikatoren und Journalisten, die sich täglich in gegenseitiger Bewunderung in die Arme fallen würden. „Igor Levit ist müde“, lautete die Überschrift, schon das eine boshafte Paraphrase der politischen Einlassungen des Künstlers, der wiederholt betont hatte, wie müde ihn der tägliche Rassismus mache.

Kaum war der Artikel erschienen, trat das Strafgericht zusammen, in und außerhalb der Redaktion. Der Text hätte nie erscheinen dürfen, hieß es, man müsse sich für die „SZ“ schämen.

Es folgte der Vorwurf, der Artikel sei im Kern antisemitisch (Levit ist Jude). Dann wurde gesagt, dem Autor sei es in Wahrheit darum gegangen, den Künstler für sein Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus zu diffamieren. Von dort war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Behauptung, die „Süddeutsche Zeitung“ betreibe die Sache der Rechten. Performativ nennt man in der Kunst eine Aktion, bei der die Reaktion des Publikums beweist, was zuvor als These formuliert wurde.

Ich kenne Levit ein wenig. Wir haben uns zweimal getroffen, das erste Mal in Berlin, wo wir in einem Café zufällig nebeneinander Platz nahmen, dann noch einmal zu einem Mittagessen in München. Ich habe ihn noch nie live spielen hören. Wahrscheinlich ist das Urteil der „Süddeutschen“ furchtbar ungerecht. Aber in einem Punkt scheint mir der Kritiker der „SZ“ nicht ganz falsch zu liegen, und zwar was die Empörungsbereitschaft der politischen Fanbasis angeht. Schon sehr viel kleinere Verfehlungen als eine Polemik können hier zu großer Aufregung führen.

Levit erzählte bei unserem Treffen in München, dass ihn Bekannte angeschrieben hätten, weil er eine Kolumne von mir mit einem Like versehen hatte – das müsse er erklären. Er fand an dem Vorgang nicht nur erstaunlich, dass sich Menschen offenbar die Mühe machen, die Liste seiner Likes daraufhin durchzusehen, ob irgendetwas Verdächtiges dabei ist. Noch mehr irritierte ihn verständlicherweise das Ansinnen, er solle Rechenschaft ablegen, warum er einen Text von mir gelesen und auch noch für gut befunden hatte.

Das ist der Stand linker Kulturkritik heute: Einmal Daumen hoch an der falschen Stelle, und man wird von den Twitter-Aufsehern ermahnt. Das gilt selbst dann, wenn man Levit heißt.

Ich bin auch müde. Mich ermüdet die unfassbare Selbstgefälligkeit, die mit dem Instant-Antifaschismus einhergeht. Dass im Kampf gegen Rassisten irgendetwas gewonnen wäre, wenn man im Netz möglichst oft „Nazis raus!“ ruft, können nur Leute meinen, die auch an die magische Wirkung von Zaubersprüchen glauben. Ich bin ebenfalls gegen rechts, ich halte den Antisemitismus für eine Geißel unserer Zeit. Ich käme trotzdem nie auf die Idee, auf die antifaschistische Wirkung von Twitter zu setzen.

Einen Effekt hat der Netz-Krawall allerdings: Weniger beherzte Redakteure werden sich nächstes Mal genau überlegen, ob sie sich trauen wollen, über einen Helden der Szene einen bösen Satz zu schreiben. Es geht um Einschüchterung, das ist der wahre Zweck der Übung, alles andere ist rhetorisches Trallala. Und die Methode führt ja auch zum Erfolg.

Die Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“ hat sich jetzt bei Levit und den Lesern entschuldigt. Der Entschuldigung konnte man entnehmen, dass den Chefredakteuren erst beim neuerlichen Lesen das Entschuldigungsbedürftige des Artikels aufgefallen war. Oder wie soll man es verstehen, dass sie nun den Abdruck eines Textes bedauerten, den sie selbst ins Blatt gehoben und vor wenigen Tagen noch vehement verteidigt hatten? So war die Entschuldigung auch eine Bankrotterklärung der eigenen Lese- und Urteilskompetenz.

Innerhalb der Redaktion sei kontrovers und leidenschaftlich diskutiert worden, steht in dem Schreiben. Die Kontroverse sah so aus: Über dem Ressortleiter der Kultur entlud sich die Wut der Redakteure, die über ihre Displays die Wut im Netz aufgesogen hatten. Die anderen Ressortleiter sahen betreten zu Boden, während die Chefredaktion schon in Gedanken an ihrer Selbsterklärung feilte. Auch so kann man einer stolzen Zeitung jede Selbstachtung und Unabhängigkeit im Denken austreiben. Man lässt der Online-Erregung einfach freien Lauf.

Wenn mit dem Radau wenigstens eine polemische Kraft einherginge. Leider verwechseln die meisten Internet-Krakeeler Polemik mit Pöbelei. Wie jede Kunstform ist auch die Beleidigung schnell verhunzt, wenn sich Dilettanten daran versuchen. Über „Fick dich, Opa“ oder „Halt die Fresse“ finden viele nicht hinaus. Dafür wird der Satz dann endlos wiederholt, so als würde die Iteration dem Gestammel mehr Wert verleihen.

Man muss zur Ehrenrettung der Linken sagen, dass es nicht immer so war. Es gab auch glanzvolle Zeiten. Gerade die linke Bewegung verfügte über große polemische Talente. Wiglaf Droste, den sie vor einem Jahr zu Grabe getragen haben, oder Wolfgang Pohrt, den unbestechlichen Kapitalismus-Zersäger.

Aber erstens waren das manische Leser, schon das unterscheidet sie von den Netz-Epigonen. Die Lektüre der Twitterkönig*innen von heute erstreckt sich in der Regel auf zwei queerfeministische Traktate zu Rassismus und Gender, zu mehr lässt einem ja der dauernde Blick aufs Handy auch keine Zeit.

Zum anderen bezogen Leute wie Droste und Pohrt ihren Antrieb aus dem anarchischen Vergnügen, es gerade den Vertretern im linken Lager reinzureiben, die man für einfältig oder naiv oder beides zusammenhielt. Das Einzige, was die Vertreter der neuen Linken anstreben, ist, einen guten Eindruck bei der eigenen Crowd zu machen. Für deren Lob und Anerkennung ist man bereit, buchstäblich alles zu geben.

Wie soll man dieses Twitter-Strebertum nennen? Ziemlich einfach, würde ich sagen: ordinärer Konformismus.

Die zwei Gesichter des Olaf Scholz

Seltsame Wesensveränderung bei Olaf Scholz: Eben noch stand der Finanzminister für strikte Haushaltsdisziplin, nun gibt er das Geld aus, als gäbe es kein Morgen. Bange Frage: Wurde Scholz heimlich ausgetauscht?

Was ist mit Olaf Scholz passiert, unserem Finanzminister? Er sieht aus wie Scholz. Er hat die Stimme von Scholz. Aber er redet nicht mehr wie Scholz. Wenn es jemanden im Bundeskabinett gab, der auf Haushaltsdisziplin achtete, dann der Mann aus Hamburg. Für die Verteidigung der schwarzen Null war er sogar bereit, die eigenen Leute vor den Kopf zu stoßen, worauf sie nicht ihn, sondern zwei No Names zu Parteivorsitzenden wählten.

Und nun? Nun gibt er das Geld aus, als ob es kein Morgen gäbe. Auf 218 Milliarden Euro belaufen sich die Schulden für dieses Jahr, ein einsamer Rekord. Im nächsten Jahr kommen nach ersten Schätzungen noch mal 96 Milliarden dazu. Für alle und alles ist Geld da: für die Mütter, denen es an der Rente mangelt, für die Piloten der Lufthansa, für die Kurz und Geringbeschäftigten, denen der Staat bis zum Jahr 2022 ihren Lohn garantiert.

Wenn man Scholz fragt, ob man nicht irgendwo sparen könnte, zuckt er die Achseln. Oder sagt: Wir geben so viel aus, da wollen wir doch jetzt nicht kleinlich sein. Dass er sich inzwischen sogar für eine Koalition mit den Leuten von der Linkspartei erwärmt, ist so gesehen nur folgerichtig. In der schönen Welt des Sozialismus ist immer genug Geld da: Entweder wächst es auf den Bäumen, oder man nimmt es von den Reichen, wer immer unter diese Kategorie gerade fallen mag.

Ich kann mir die Wesensveränderung bei Scholz nur so erklären, dass ihn die Niederlage beim Kampf um den Parteivorsitz innerlich gebrochen hat. Manchmal haben traumatische Erfahrungen für Menschen verheerende Wirkungen. Sie sind dann einfach nicht mehr sie selbst. Oder, andere Erklärung: Sie haben den „Scholzomat“ heimlich ausgetauscht – wie in dem berühmten Horrorfilm „Invasion of the Body Snatchers“, wo die Bewohner einer Kleinstadt durch äußerlich identische Doppelgänger ersetzt werden.

Das würde auch erklären, warum sich die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter Borjans so leicht auf Scholz als Kanzlerkandidaten verständigen konnten. Die Wähler sollen Zutrauen zur SPD fassen. Sie sollen sagen: Das ist ja unser alter Olaf Scholz, der wird schon aufpassen, dass kein Unsinn passiert. Und dann, zack, ist die Wahl vorbei, und es stellt sich heraus, dass Scholz gar nicht mehr der Scholz ist, den sie kannten.

Ich mag Scholz. Wir kommen beide aus Hamburg, das verbindet. Die hanseatische Herkunft erklärt auch, warum er oft so gehemmt wirkt. Als die strengen Corona Regeln gelockert wurden, ging ein Seufzer der Erleichterung durch Hamburg: endlich zurück zu den gewohnten fünf Metern Abstand! Ich habe außerdem nichts gegen Leute, die langweilig sind. Langweiler sind gewissenhaft. Wenn alle in der Regierung wie Andi Scheuer wären, gäbe es ein heilloses Durcheinander. Ich mag auch Scheuer. Aber es kann in jeder Runde nur einen von seiner Sorte geben.

Man sollte bei Scholz allerdings nicht den Fehler machen, sich von ihm in ein Gespräch verwickeln zu lassen. 15 Minuten dehnen sich da schnell zu drei Stunden. Ich spreche aus Erfahrung. Bei einem politischen Sommerfest in Berlin war ich letztes Jahr so unvorsichtig, mich in ein Gespräch über die wechselvolle Geschichte des Ortsverbands Hamburg Wandsbek hineinziehen zu lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass man über die historische Entwicklung von Wandsbek mehr als zwei Sätze verlieren kann. Ich habe mich geirrt, wie ich feststellen musste.

Es folgte dann noch die Geschichte des Ortsverbandes Hamburg-Harburg und die des Ortsverbandes Bargteheide. Mein Rat: Wenn Sie jemals auf einer Party Olaf Scholz begegnen sollten, tun sie so, als müssten sie erst noch ganz dringend jemand anderes begrüßen.

Aber wer weiß, vielleicht haben wir uns schon immer in ihm getäuscht. In der „Süddeutschen Zeitung“ fand sich neulich eine lange Recherche, wie Scholz als Bürgermeister in Hamburg der Warburg Bank eine Steuerschuld von 47 Millionen Euro erließ. Ich muss das anders formulieren: Scholz hat sich mehrfach mit dem Chef der Warburg Bank getroffen, der ihm seine Steuersorgen vortrug, worauf das Finanzamt die Steuerschuld vergaß.

Er könne sich an den Inhalt der Gespräche nicht mehr erinnern, sagt Scholz, er habe aber keinen Einfluss auf das Finanzamt genommen. Klingt zugegebenermaßen etwas abenteuerlich. Deshalb soll sich jetzt auch ein Untersuchungsausschuss mit dem Vorgang befassen.

Noch rätselhafter ist sein Verhalten im Wirecard- Skandal. Ein Finanzminister hat viel zu tun, da kann man sich nicht um alles kümmern, das verstehe ich. Wenn ich allerdings als Minister in der Zeitung lesen würde, dass sich ein Dax-Konzern, dessen Finanzzweig von meinen Leuten überwacht wird, in merkwürdige Transaktionen verstrickt hat, dann würde ich mal nachfragen lassen, was da los ist. Es war auch nicht irgendein Käseblatt, das Anfang 2019 über Unregelmäßigkeiten im Asiengeschäft von Wirecard berichtete, sondern die „Financial Times“, die angesehenste Finanzzeitung der Welt.

Was haben sie stattdessen bei der BaFin, der dem Finanzministerium unterstehenden Finanzaufsicht, gemacht? Den Redakteur der „Financial Times“ wegen des Verdachts auf Insiderhandel verklagt. Er habe den Aktienkurs auf Talfahrt schicken wollen, um sich zu bereichern. Nun ja, wir wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Nicht zugunsten der BaFin.

Wenn Sie jetzt denken, das hat sicherlich personelle Konsequenzen gehabt, muss ich Sie enttäuschen. Keine Frage, wer einer Behörde vorsteht, die nicht bemerkt, dass 1,9 Milliarden Euro lediglich auf philippinischen Fantasiekonten existierten, der ist vermutlich nicht der richtige Mann, um die Sicherheit des Finanzplatzes Deutschland sicherzustellen. Sehe ich auch so, aber so sieht man es nicht in der Welt, in der Olaf Scholz lebt. Der Arbeitsplatz für Felix Hufeld, den Chef der BaFin, ist sicher. Dafür bürgt der Finanzminister persönlich, egal, was kommt.

Zum Beispiel das. Der grüne Abgeordnete Danyal Bayaz hat eine Kleine Anfrage ans Finanzministerium gestellt, wie es denn mit den Aktiengeschäften der BaFin-Mitarbeiter aussah. Ergebnis: Die 94 Mitarbeiter, die für die Verfolgung von Insidergeschäften und Marktmanipulationen zuständig sind, haben bis zum Absturz mit keiner Aktie so viel gehandelt wie mit der von – ja, genau – Wirecard.

Das ist ein wenig so, als würden die Aufseher im Casino sich nach getaner Arbeit an den Roulettetisch setzen und sich von den Croupiers, die sie tagsüber überwacht haben, die Chips zuteilen lassen. Eine eigenartige Arbeitsauffassung, würde ich sagen. Vom Bundesfinanzministerium war in einer ersten Stellungnahme zu hören, man habe die Regeln überprüft und für streng und angemessen befunden.

Wenn es ein Land gibt, das Verlässlichkeit und Korrektheit liebt, dann doch Deutschland, dachte ich immer. Aber so ist es, wenn man den ganzen Tag zu hören bekommt, dass man zu traditionell und zu alt und zu verknöchert sei. Dann sagt man sich irgendwann: Wir müssen auch mal was wagen! Warum nicht mal eine Firma in den Dax holen, die ganz anders ist. Jung und schillernd und digital, um diesen verstaubten Klub von Großkonzernen aufzumischen.

Alt und verstaubt waren sie bei Wirecard nicht. Ein Unternehmen, das mit der Zahlungsabwicklung der Glücksspiel- und Pornobranche groß geworden ist – viel jünger und schillernder geht es nicht. Dagegen ist jeder Bordellbesitzer ein hochseriöser Unternehmer. Bei dem weiß man wenigstens, womit er sein Geld verdient.

Wenn ich darüber nachdenke, dann hätte ich doch gerne den alten Olaf Scholz zurück. Also den Vor-Warburg-, Vor-Wirecard-, Vor-Megaschulden-Scholz. Aber vielleicht habe ich mir den immer nur eingebildet, möglicherweise gab es den nie. Das wäre allerdings eine noch größere Enttäuschung als der Wirecard-Skandal.

In der Herzkammer der grünen Bewegung

Warum fragt eigentlich niemand die grüne Parteispitze, wie sie zum fortgesetzten Rechtsbruch in ihrem Vorzeigeviertel Berlin-Kreuzberg steht? Dass dort Zustände wie in einem Mafia-Dorf herrschen, sollte nicht nur die Grünen bekümmern

Angela Merkel hat jetzt immer zwei sterile Plastiktüten dabei, wie ich bei dem bekannten Merkelbeobachter der „Welt“, Robin Alexander, gelesen habe: eine Tüte, aus der sie mehrmals täglich eine frische Maske zieht, und eine zweite, in der sie die getragenen Masken entsorgt. Angeblich lässt sie auch jeden Türgriff desinfizieren, den sie berührt.

Es gibt ein Video, das Merkel bei einer Begegnung mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte zeigt. Man sieht darauf, wie er auf sie zutritt, um sie zu begrüßen, und sie erschreckt zurückweicht. Wer der Kanzlerin begegnet, sollte zwei Meter Abstand halten. Besser noch wären drei.

Donald Trump hält das Tragen eines Mundschutzes für ein Zeichen der Schwäche. Als er Anfang der Woche das Krankenhaus verließ, wo sie ihn wegen seiner Corona-Erkrankung behandelt hatten, rief er den Amerikanern zu, sie müssten keine Angst vor Covid haben. Er fühle sich so gut wie seit 20 Jahren nicht mehr, was wohl heißen soll, dass einem im Grunde kaum etwas Besseres passieren kann, als sich mit dem Virus anzustecken.

Das ist die Bandbreite: Merkelsche Vorsicht und Trumpscher Heroismus. Die meisten Deutschen neigen in der Frage des Infektionsschutzes der Kanzlerin zu. Deshalb sind die Zahlen in Deutschland auch relativ moderat. Was Maske und Abstandsgebot angeht, muss man sie nicht überzeugen, dass der heroische Selbstversuch vergleichsweise oft ins Grab führt, da mag der US-Präsident das Virus noch so sehr als Jungbrunnen anpreisen.

Wer hätte gedacht, dass es auch mitten in Deutschland beim Umgang mit Corona ein Trump-Lager gibt. Und das ausgerechnet in einem Vorzeigequartier der linken Bewegung. Seit Wochen steigen die Zahlen in Berlin, kaum ein Bezirk ist so betroffen wie Friedrichshain-Kreuzberg. Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz liegt hier bei 58, das ist klar über dem Wert, bei dem eigentlich alles wieder geschlossen werden müsste. Neukölln, wo man die Maske aus Gottvertrauen für ein unnötiges Requisit hält („Das Virus ist groß, Allah ist größer“), liegt noch darüber.

Die Berliner Verwaltung ist wie immer heillos überfordert. Deshalb hilft nun die Bundeswehr bei der Kontaktverfolgung aus. Außer in Kreuzberg. Erste Reaktion auf das Angebot, Soldaten einzusetzen, um Infizierten hinterherzutelefonieren: Man wolle nicht, dass sich die Bürger an den Anblick von Soldaten gewöhnten. Das gebiete schon die Verantwortung vor der deutschen Geschichte. Der Zweite Weltkrieg als Begründung, weshalb man das Virus laufen lässt – das ist immerhin originell.

Am Mittwoch hat das Bezirksamt die Entscheidung noch einmal bestätigt: keine Bundeswehr in Kreuzberg, Covid-19 hin oder her. Man sieht hier, wenn man so will, die grüne Variante des Corona-Protests: Uns kann keener. Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz haben nicht ganz so viel Zutrauen in die natürlichen Abwehrkräfte der Berliner, weshalb Kreuzberg jetzt als Risikogebiet eingestuft wurde.

Ausnahmegenehmigungen für Heizpilze und Gastronomie an der frischen Luft gibt es auch nicht. Wegen der CO2-Bilanz. Der „Welt“-Kollege Robin Alexander hat vorsichtshalber schon mal im Rathaus nachgefragt, ob es okay sei, wenn die Patienten mit schwerem Verlauf im Krankenwagen abgeholt würden. „Oder besteht die Bezirksbürgermeisterin auf Lastenfahrrädern?“ Kreuzberg strebt die autofreie Zukunft an. Eine Antwort steht noch aus.

Die Weigerung, auf die steigenden Infektionszahlen angemessen zu reagieren, ist nicht nur immunologisch bedeutsam, sondern auch politisch. Der Bundesgesundheitsminister hat dieser Tage an den Berliner Senat appelliert, endlich die Corona-Regeln in der Hauptstadt durchzusetzen. Vielleicht sollte Jens Spahn einmal einfühlsam mit dem künftigen Koalitionspartner reden. Die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg kommt von den Grünen. Der Trump ist hier eine Frau und heißt Monika Herrmann.

Wenn Dortmund die Herzkammer der SPD ist, dann ist Kreuzberg die Seele der grünen Bewegung. Nur in Kreuzberg ist es noch selbstverständlich, dass ein Bundestagsabgeordneter einen nicht unwesentlichen Teil seiner politischen Energie in den Kampf gegen die Ansiedlung einer McDonald’s-Filiale steckte, damit die heimische Jugend vor Fast Food geschützt wird. Nur hier leistet man sich bis heute zwei besetzte Häuser als „Schutzraum“, um die Spezies des Autonomen vor dem Aussterben zu bewahren.

Spätestens wenn man sich als Bürger nicht mehr auf die Straße trauen kann, weil einem der linke Mob nachstellt, hört die Folklore für viele allerdings auf. Im „Spiegel“ stand neulich eine lange Geschichte über die besetzten Häuser in der Rigaer Straße und in der Liebigstraße. Der Text begann damit, wie der Verwalter der Rigaer Straße 94 sein Haus betreten will und sofort niedergeschlagen wird.

Dann lernte man eine alleinerziehende Mutter kennen, die erzählte, wie sie eine junge Frau zur Rede gestellt habe, die die Fassade ihres Hauses besprühte. Seitdem kann sie nicht mehr das Haus verlassen, ohne Angst haben zu müssen, attackiert zu werden. Vor zwei Jahren bekam ein Ehepaar Tag und Nacht Polizeischutz. Die Frau hatte den Fehler gemacht, Krankenwagen und Polizei zu rufen, als ein polizeibekannter Gewalttäter aus der Rigaer Straße einen Passanten während eines Streits auf der Straße fast bewusstlos schlug.

Vergangene Woche nahm sich das Politmagazin „Kontraste“ der Sache an. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass in einer deutschen Großstadt Zustände wie in einem Mafia Dorf herrschen. Die Redaktion wusste zu berichten, dass die Besetzer unter dem persönlichen Schutz des grünen Baustadtrats Florian Schmidt stehen. Seit 2016 sind gravierende Mängel beim Brandschutz bekannt. „Kontraste“ präsentierte Dokumente, wonach die Brandschutzbestimmungen auf Anweisungen von Schmidt bis heute missachtet werden, weil jede Bauarbeit bedeuten würde, dass die Bewohner der besetzten Häuser nicht mehr ungestört wären.

Normalerweise kann man gar nicht so schnell gucken, wie einem die Behörden den Laden dichtmachen, wenn jemand sagt: Brandschutz missachtet. Das ist die heilige Kuh im Ordnungsrecht. Nicht so in Kreuzberg. Konsequenzen für Baustadtrat Schmidt? Keine. Brandschutz sei nicht verhandelbar, erklärte die Fraktion der Grünen im Abgeordnetenhaus nach dem Fernsehbericht. Aber wenn keine akute Gefahr für Leib und Leben bestehe, sei eine Ermessensentscheidung möglich. Ein vier Jahre währender Ermessensspielraum? Davon kann jeder kleine oder große Hausbesitzer nur träumen.

Ich schreibe diese Kolumne am Mittwoch, am Donnerstag ist Redaktionsschluss. Für Freitag war jetzt die Räumung des Hauses in der Liebigstraße angekündigt. 3000 Polizeibeamte wurden zusammengezogen, der Besitzer hat die Räumung gerichtlich erzwungen. Es ist auch ein Ringen mit der Politik.

Noch vor wenigen Wochen hat die Bezirksverordnetenversammlung auf Antrag der Grünen und der Linken extra eine Resolution verabschiedet, in der man den Autonomen mit Blick auf die geplante Räumung volle Unterstützung zusicherte. Mit seinem „solidarischen Kiezbezug“ und seiner „Widerständigkeit“ präge das Haus das Viertel und sei deshalb aus Kreuzberg nicht mehr wegzudenken, hieß es darin.

Komischerweise wird die Grünen Spitze nie befragt, wie sie zu dem fortwährenden Rechtsbruch in ihrer Herz und Seelenkammer steht. Kann man sich vorstellen, dass Alice Weidel damit durchkäme, wenn sie erklären würde: „Ach, die spielen da ein bisschen verrückt in Brandenburg. Das muss man nicht weiter ernst nehmen, das hat mit unserer Arbeit bei der AfD rein gar nichts zu tun.“ Ich kann es mir nicht vorstellen.

Also, liebe Grünen Berichterstatter: Beim nächsten Mal, wenn ihr dem wahnsinnig sympathischen Herrn Habeck oder der rasend netten Frau Baerbock begegnet, vielleicht auch eine Frage zu Berlin und den Zuständen in Kreuzberg. Ich bin sicher, die Auskunft, wie die Parteivorsitzenden zur Gesetzlosigkeit im grünen Vorzeigeviertel Friedrichshain-Kreuzberg stehen, interessiert sogar Wähler der Grünen.

Wer weiß schon, was ein Cis-Mann ist?

Die Vertreter der neuen Gendersprache proklamieren, es ginge ihnen um den gesellschaftlichen Fortschritt. In Wahrheit zementiert das politisch korrekte Sprechen die sozialen Unterschiede

Von dem berühmten, jüngst verstorbenen Anthropologen David Graeber gibt es ein Buch namens „Bullshit Jobs“. Darin findet sich die Beobachtung, dass die unteren Schichten mehr gegen Intellektuelle hätten als gegen reiche Leute. Warum das so ist? Ganz einfach, sagt Graeber: Weil der Lastwagenfahrer vom Lande genau wisse, dass seine Tochter niemals eine internationale Menschenrechtsanwältin werde oder eine Theaterkritikerin der „New York Times“.

Millionärin vielleicht. Das ist unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen. Aber Theaterkritikerin? Nie im Leben. Selbst wenn die Lastwagentochter die richtigen Schulen besucht hat, bleibt ihr die Welt der Intellektuellen mit ihren raffinierten Sprachcodes und Lebensweisen verschlossen. Schon die Zahl der Praktika, die sie absolvieren müsste, um sich dort zu empfehlen, sorge dafür, dass sie außen vor bleibe.

Graeber hat recht. Der Millionärsklub kennt zumindest die Figur des Neureichen, also den Aufsteiger, der dazustößt, trotz zweifelhafter Herkunft und noch zweifelhafterer Ansichten. Die intellektuelle Welt ist auf einzigartige Weise hermetisch und exklusiv. Hier erkennt man schon nach wenigen Sätzen, die einer äußert, ob er (oder sie) dazugehört oder nicht. Sprache verändere Bewusstsein, lautet ein Mantra im linken Lager. Vor allem aber markiert sie soziale Grenzen.

Ich musste dieser Tage wieder an Graeber denken, als ich las, dass die Fahrkartenkontrolleure in Berlin jetzt angehalten sind, Schwarzfahrer nicht mehr Schwarzfahrer zu nennen. Wenn sie auf jemanden ohne Ticket stoßen, sollen sie ihn als „Person ohne gültigen Fahrschein“ ansprechen. Die Anti Schwarzfahrer Initiative ist Teil eines 44-seitigen Leitfadens des Senats, um die Vielfalt in der Stadt zu stärken, wie es darin heißt.

Besonderen Wert wird in dem Papier auf die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit gelegt, weshalb Mann und Frau nicht mehr einfach Mann und Frau genannt werden, sondern man von „Cis Geschlechtlichkeit“ spricht. Erklärung der Senatsverwaltung für Justiz, die den Leitfaden erstellt hat: „Mit der Vorsilbe ,cis‘ wird beschrieben, dass eine Person in Übereinstimmung mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht lebt. Der Begriff ist das Pendant zu Transgeschlechtlichkeit und stellt gesellschaftlich die ,Norm‘ dar.“

Was als Ausweis fortschrittlichen Denkens gilt, ist in Wahrheit nichts anderes als die Zementierung der Klassengesellschaft. Kann man sich weiter von den normalen Bürgern entfernen beziehungsweise ihnen zeigen, welche Verachtung man insgeheim für sie empfindet, als ihnen nahezulegen, künftig von „Cis Männern“ und „Cis Frauen“ zu sprechen?

Früher war der Gebrauch von Messer und Gabel ein Merkmal, an dem man unwillkürlich erkannte, ob jemand zur Elite zählte – oder, wie am russischen Zarenhof, die Beherrschung des Französischen. Heute ist es der mühelose Gebrauch der Sprache der Vielfalt, die Dazugehörige und Außenstehende trennt.

Ich habe die neue Gendersprache lange nicht richtig ernst genommen. Ein Spezialvokabular, das zum Teil schrecklich ungelenk wirkt, das oft auch grammatikalisch falsch ist, aber im Grunde harmlos – so dachte ich. Der Mensch sucht beim Sprechen die Abkürzung. Niemand bei klarem Verstand spricht statt von Fußgängern lieber von zu Fuß Gehenden, geschweige denn von Fußgänger*innen. Außer bei offiziellen Anlässen. Oder wenn er gezwungen wird. Ich war überzeugt, das funktioniert nur in geschlossenen Anstalten wie Behörden oder Hochschulen.

Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wenn selbst Anne Will und Claus Kleber sich bemüßigt fühlen, beim Reden eine Kunstpause einzulegen, um den Genderstern mitzusprechen, dann zieht die Sache breitere Kreise. Der Deutschlandfunk hat seine Redakteure gerade auf die durchgängige Anwendung gendergerechter Sprache verpflichtet – gut, der geht noch als geschlossene Anstalt durch. Aber auch in Hannover oder im braven Kiel gelten mittlerweile strenge Genderrichtlinien. Selbst das Bistum Eichstätt fühlt sich dem Zeitgeist verpflichtet und teilt per Twitter mit, dass die „Bischöfe und Liturg*innen“ zum Schöpfungstag Kraniche gebastelt hätten, als Zeichen für den Frieden.

Das Irre ist, dass nie ganz klar ist, was mit dem Genderstern eigentlich zum Ausdruck gebracht werden soll. Dass Frauen unsichtbar blieben, wenn die weibliche Form nicht explizit mitgesprochen werde, wie es zur Begründung heißt: Schon das ist eine waghalsige Annahme. Jüngere Frauen verfügen bekanntlich über deutlich höhere Bildungsabschlüsse als Männer. Warum das sogenannte generische Maskulinum schuld daran sein soll, wenn sie den Karrierepfad verlassen und sich ins Familienleben verabschieden, will mir nicht recht einleuchten. Aber meinetwegen.

Nur, warum dann mit Pause reden? Weil es nicht mehr ausreiche, nur Frauen sichtbar zu machen, wie die Vertreter der neuen Sprache betonen, sondern man auch all diejenigen berücksichtigen müsse, die sich irgendwo auf dem Weg zwischen den Geschlechtern befinden. Damit allerdings hat die Sache den Bereich des Nachvollziehbaren verlassen.

Es ist eine Sache, Menschen, die sich nicht für eines der beiden Geschlechter entscheiden können, mit Höflichkeit und Respekt zu begegnen. Etwas völlig anderes ist es, eine ganze Gesellschaft darauf verpflichten zu wollen, beim Reden und Schreiben eine Art Schluckauf einzubauen, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt.

Es ist übrigens gar nicht so einfach, richtig zu gendern. Beim Schreiben wirft man überall, wo man denkt, dass es sein muss, einen Stern dazwischen. Das geht noch relativ leicht. Kompliziert wird es beim Reden. Da man den Genderstern nicht sprechen kann, muss man bei jedem Wort in der Mitte eine Dehnungssekunde einlegen. Wobei aufgepasst: Ist die Pause zu lange, ist es auch nicht recht. Dann gerät man in Verdacht, man wolle sich lustig machen und die Angelegenheit ins Lächerliche ziehen. Schlimmer als jemand, der im Zustand der Unwissenheit lebt, ist der Ignorant, der zwar weiß, wie es richtig geht, sich aber bewusst darüber hinwegsetzt.

Wie bei jeder Revolution geht es auch darum, sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen, indem man den weniger Gebildeten und Erleuchteten demonstriert, wie sehr sie der Entwicklung hinterherhinken. Deshalb durchzieht alle Proklamationen ein Ton der Herablassung und augenverdrehenden Indigniertheit.

„Wisst ihr es nicht besser oder ist das eure Unfähigkeit, sich auf Veränderungen einzulassen?“ war vergangene Woche ein Text überschrieben, in dem der aktuelle Jahrgang der Deutschen Journalistenschule ein Plädoyer fürs Gendern ablegte. Der Text endete damit, dass die neue Zeit unaufhaltsam sei und die Widersacher in den Redaktionen glücklicherweise bald in Rente gingen, wo sie dann nur noch wütende Leserbriefe schreiben könnten, die niemand mehr zur Kenntnis nehme.

Bleibt der Unwille in den niederen Ständen. Alle Versuche, sie zur Akzeptanz der neuen Sprache zu bewegen, stoßen auf finstere Ablehnung. Die werktätigen Massen mögen nicht einsehen, warum sie plötzlich so sprechen sollen wie die Söhne und Töchter des Bürgertums, die es sich leisten können, zwischen Abitur und „irgendwas mit Medien“ sechs Semester Genderstudies einzulegen. Instinktiv spüren sie, dass man sie für minderbemittelt und erziehungsbedürftig hält. Das erfüllt sie verständlicherweise mit Grimm.

Dass sich gesellschaftliche Teilhabe auch übers Sprachverständnis entscheidet, ist eine Erkenntnis, die gerade die Linke lange umgetrieben hat. In den siebziger Jahren führte das zu verschiedenen Initiativen, auf Groß und Kleinschreibung zu verzichten. Heute gibt es den Versuch, über die sogenannte Leichte Sprache die Barriere zu senken. Wie sich die Cis Grammatik mit dem Versuch verträgt, auch Menschen zu erreichen, die ohnehin Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, wird für immer das Geheimnis der Genderaktivisten bleiben.