In der Herzkammer der grünen Bewegung

Warum fragt eigentlich niemand die grüne Parteispitze, wie sie zum fortgesetzten Rechtsbruch in ihrem Vorzeigeviertel Berlin-Kreuzberg steht? Dass dort Zustände wie in einem Mafia-Dorf herrschen, sollte nicht nur die Grünen bekümmern

Angela Merkel hat jetzt immer zwei sterile Plastiktüten dabei, wie ich bei dem bekannten Merkelbeobachter der „Welt“, Robin Alexander, gelesen habe: eine Tüte, aus der sie mehrmals täglich eine frische Maske zieht, und eine zweite, in der sie die getragenen Masken entsorgt. Angeblich lässt sie auch jeden Türgriff desinfizieren, den sie berührt.

Es gibt ein Video, das Merkel bei einer Begegnung mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte zeigt. Man sieht darauf, wie er auf sie zutritt, um sie zu begrüßen, und sie erschreckt zurückweicht. Wer der Kanzlerin begegnet, sollte zwei Meter Abstand halten. Besser noch wären drei.

Donald Trump hält das Tragen eines Mundschutzes für ein Zeichen der Schwäche. Als er Anfang der Woche das Krankenhaus verließ, wo sie ihn wegen seiner Corona-Erkrankung behandelt hatten, rief er den Amerikanern zu, sie müssten keine Angst vor Covid haben. Er fühle sich so gut wie seit 20 Jahren nicht mehr, was wohl heißen soll, dass einem im Grunde kaum etwas Besseres passieren kann, als sich mit dem Virus anzustecken.

Das ist die Bandbreite: Merkelsche Vorsicht und Trumpscher Heroismus. Die meisten Deutschen neigen in der Frage des Infektionsschutzes der Kanzlerin zu. Deshalb sind die Zahlen in Deutschland auch relativ moderat. Was Maske und Abstandsgebot angeht, muss man sie nicht überzeugen, dass der heroische Selbstversuch vergleichsweise oft ins Grab führt, da mag der US-Präsident das Virus noch so sehr als Jungbrunnen anpreisen.

Wer hätte gedacht, dass es auch mitten in Deutschland beim Umgang mit Corona ein Trump-Lager gibt. Und das ausgerechnet in einem Vorzeigequartier der linken Bewegung. Seit Wochen steigen die Zahlen in Berlin, kaum ein Bezirk ist so betroffen wie Friedrichshain-Kreuzberg. Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz liegt hier bei 58, das ist klar über dem Wert, bei dem eigentlich alles wieder geschlossen werden müsste. Neukölln, wo man die Maske aus Gottvertrauen für ein unnötiges Requisit hält („Das Virus ist groß, Allah ist größer“), liegt noch darüber.

Die Berliner Verwaltung ist wie immer heillos überfordert. Deshalb hilft nun die Bundeswehr bei der Kontaktverfolgung aus. Außer in Kreuzberg. Erste Reaktion auf das Angebot, Soldaten einzusetzen, um Infizierten hinterherzutelefonieren: Man wolle nicht, dass sich die Bürger an den Anblick von Soldaten gewöhnten. Das gebiete schon die Verantwortung vor der deutschen Geschichte. Der Zweite Weltkrieg als Begründung, weshalb man das Virus laufen lässt – das ist immerhin originell.

Am Mittwoch hat das Bezirksamt die Entscheidung noch einmal bestätigt: keine Bundeswehr in Kreuzberg, Covid-19 hin oder her. Man sieht hier, wenn man so will, die grüne Variante des Corona-Protests: Uns kann keener. Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz haben nicht ganz so viel Zutrauen in die natürlichen Abwehrkräfte der Berliner, weshalb Kreuzberg jetzt als Risikogebiet eingestuft wurde.

Ausnahmegenehmigungen für Heizpilze und Gastronomie an der frischen Luft gibt es auch nicht. Wegen der CO2-Bilanz. Der „Welt“-Kollege Robin Alexander hat vorsichtshalber schon mal im Rathaus nachgefragt, ob es okay sei, wenn die Patienten mit schwerem Verlauf im Krankenwagen abgeholt würden. „Oder besteht die Bezirksbürgermeisterin auf Lastenfahrrädern?“ Kreuzberg strebt die autofreie Zukunft an. Eine Antwort steht noch aus.

Die Weigerung, auf die steigenden Infektionszahlen angemessen zu reagieren, ist nicht nur immunologisch bedeutsam, sondern auch politisch. Der Bundesgesundheitsminister hat dieser Tage an den Berliner Senat appelliert, endlich die Corona-Regeln in der Hauptstadt durchzusetzen. Vielleicht sollte Jens Spahn einmal einfühlsam mit dem künftigen Koalitionspartner reden. Die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg kommt von den Grünen. Der Trump ist hier eine Frau und heißt Monika Herrmann.

Wenn Dortmund die Herzkammer der SPD ist, dann ist Kreuzberg die Seele der grünen Bewegung. Nur in Kreuzberg ist es noch selbstverständlich, dass ein Bundestagsabgeordneter einen nicht unwesentlichen Teil seiner politischen Energie in den Kampf gegen die Ansiedlung einer McDonald’s-Filiale steckte, damit die heimische Jugend vor Fast Food geschützt wird. Nur hier leistet man sich bis heute zwei besetzte Häuser als „Schutzraum“, um die Spezies des Autonomen vor dem Aussterben zu bewahren.

Spätestens wenn man sich als Bürger nicht mehr auf die Straße trauen kann, weil einem der linke Mob nachstellt, hört die Folklore für viele allerdings auf. Im „Spiegel“ stand neulich eine lange Geschichte über die besetzten Häuser in der Rigaer Straße und in der Liebigstraße. Der Text begann damit, wie der Verwalter der Rigaer Straße 94 sein Haus betreten will und sofort niedergeschlagen wird.

Dann lernte man eine alleinerziehende Mutter kennen, die erzählte, wie sie eine junge Frau zur Rede gestellt habe, die die Fassade ihres Hauses besprühte. Seitdem kann sie nicht mehr das Haus verlassen, ohne Angst haben zu müssen, attackiert zu werden. Vor zwei Jahren bekam ein Ehepaar Tag und Nacht Polizeischutz. Die Frau hatte den Fehler gemacht, Krankenwagen und Polizei zu rufen, als ein polizeibekannter Gewalttäter aus der Rigaer Straße einen Passanten während eines Streits auf der Straße fast bewusstlos schlug.

Vergangene Woche nahm sich das Politmagazin „Kontraste“ der Sache an. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass in einer deutschen Großstadt Zustände wie in einem Mafia Dorf herrschen. Die Redaktion wusste zu berichten, dass die Besetzer unter dem persönlichen Schutz des grünen Baustadtrats Florian Schmidt stehen. Seit 2016 sind gravierende Mängel beim Brandschutz bekannt. „Kontraste“ präsentierte Dokumente, wonach die Brandschutzbestimmungen auf Anweisungen von Schmidt bis heute missachtet werden, weil jede Bauarbeit bedeuten würde, dass die Bewohner der besetzten Häuser nicht mehr ungestört wären.

Normalerweise kann man gar nicht so schnell gucken, wie einem die Behörden den Laden dichtmachen, wenn jemand sagt: Brandschutz missachtet. Das ist die heilige Kuh im Ordnungsrecht. Nicht so in Kreuzberg. Konsequenzen für Baustadtrat Schmidt? Keine. Brandschutz sei nicht verhandelbar, erklärte die Fraktion der Grünen im Abgeordnetenhaus nach dem Fernsehbericht. Aber wenn keine akute Gefahr für Leib und Leben bestehe, sei eine Ermessensentscheidung möglich. Ein vier Jahre währender Ermessensspielraum? Davon kann jeder kleine oder große Hausbesitzer nur träumen.

Ich schreibe diese Kolumne am Mittwoch, am Donnerstag ist Redaktionsschluss. Für Freitag war jetzt die Räumung des Hauses in der Liebigstraße angekündigt. 3000 Polizeibeamte wurden zusammengezogen, der Besitzer hat die Räumung gerichtlich erzwungen. Es ist auch ein Ringen mit der Politik.

Noch vor wenigen Wochen hat die Bezirksverordnetenversammlung auf Antrag der Grünen und der Linken extra eine Resolution verabschiedet, in der man den Autonomen mit Blick auf die geplante Räumung volle Unterstützung zusicherte. Mit seinem „solidarischen Kiezbezug“ und seiner „Widerständigkeit“ präge das Haus das Viertel und sei deshalb aus Kreuzberg nicht mehr wegzudenken, hieß es darin.

Komischerweise wird die Grünen Spitze nie befragt, wie sie zu dem fortwährenden Rechtsbruch in ihrer Herz und Seelenkammer steht. Kann man sich vorstellen, dass Alice Weidel damit durchkäme, wenn sie erklären würde: „Ach, die spielen da ein bisschen verrückt in Brandenburg. Das muss man nicht weiter ernst nehmen, das hat mit unserer Arbeit bei der AfD rein gar nichts zu tun.“ Ich kann es mir nicht vorstellen.

Also, liebe Grünen Berichterstatter: Beim nächsten Mal, wenn ihr dem wahnsinnig sympathischen Herrn Habeck oder der rasend netten Frau Baerbock begegnet, vielleicht auch eine Frage zu Berlin und den Zuständen in Kreuzberg. Ich bin sicher, die Auskunft, wie die Parteivorsitzenden zur Gesetzlosigkeit im grünen Vorzeigeviertel Friedrichshain-Kreuzberg stehen, interessiert sogar Wähler der Grünen.

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