Monat: Mai 2020

Wenn die zweite Welle rollt

Das Einzige, was uns gegen eine neue Infektionswelle schützen kann, ist eine Tracing-App. Doch das erste Modell haben Datenschützer gleich zu Fall gebracht. Motto: lieber tot als überwacht.

Einmal war ich mit Karl Lauterbach zum Mittagessen verabredet. Wir wählten ein Restaurant am Gendarmenmarkt, das für seine gute Küche bekannt ist. Lauterbach studierte die Speisekarte. Dann winkte er den Kellner herbei und sagte, er habe sich entschieden. Ob er den von ihm gewünschten Gang auch ohne Salz bekommen könne? Der Kellner wirkte ein wenig konsterniert.

Lauterbach hat Medizin studiert, bevor er bei der SPD anheuerte und dort zum führenden Gesundheitspolitiker aufstieg. Er hat vor Jahren entschieden, komplett auf Salz zu verzichten. Wenn ich mich richtig erinnere, verwies er auf Studien, die nahelegen, dass salzlose Kost der Gesundheit zuträglicher sei als salzreiche, aber mein Eindruck war nach unserem Gespräch, dass es sich mehr um einen Selbstversuch handelt. Andere Menschen haben sich geschworen, in ihrem Leben nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren, Lauterbach hat beschlossen, dem Salz zu entsagen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich mag Lauterbach. Ich habe ein starkes Faible für Menschen, die anders sind als andere. Meist sind sie unterhaltsamer. Außerdem gehört Lauterbach zu den wenigen Politikern, die über Humor verfügen. Ich erlaube mir nur die Einschätzung, dass jemand, der in der persönlichen Lebensführung zu extremem Verhalten neigt, auch in der Politik eher extremen Ansichten den Vorzug gibt. Das Exzentrische bleibt selten auf eine Äußerungsform beschränkt. Wenn ich auf Lauterbachs Auftritte in den letzten Wochen blicke, habe ich nicht den Eindruck, falschzuliegen. Sobald es in der Krise wieder eine düstere Prognose oder schlechte Zahl gibt: Er hat sie parat.

In dieser Woche allerdings muss ich Lauterbach recht geben, und zwar was seine Einschätzung des Thüringer Weges in der Pandemiebekämpfung angeht. Er halte es für Wahnsinn, dass Bodo Ramelow ab Juni auf landesweite Vorgaben verzichten wolle, sagte Lauterbach. Wenn der Ministerpräsident so tue, als sei das Virus besiegt, habe das Auswirkungen auf ganz Deutschland. Ich würde noch hinzufügen, dass sich in Thüringen einmal mehr die Hufeisentheorie bestätigt. Während sie bei der AfD zum Widerstand gegen die CoronaRegeln aufrufen, erklärt man bei der Linkspartei die Pandemie dort, wo man regiert, einfach für beendet. Man kann nur hoffen, dass das Virus das auch so sieht.

Bislang war ich ganz zuversichtlich, dass es mit den verbliebenen Einschränkungen gelingen könnte, die Krankheit in Schach zu halten. Inzwischen rechne ich fest damit, dass es wieder zu einem Anstieg der Infektionen kommen wird. Ein Kollege aus Berlin berichtete mir von seinem Besuch in zwei von ihm regelmäßig frequentierten Restaurants. Spätestens um neun Uhr versammeln sich alle an der Bar. Wer hinzutritt, wird mit großem Hallo begrüßt, gerne auch mit Bussi und Umarmung. Christian Linder ist, was das Umarmungsverhalten angeht, keine Ausnahme. Er hatte nur das Pech, bekannt genug zu sein, dass jemand im richtigen Moment das Handy zückte.

Die einzige Hoffnung ist, dass man die Spur der Infektionen nachverfolgt, um die Neuinfizierten ausfindig zu machen und sie in Quarantäne zu nehmen. Glücklicherweise gibt es technische Möglichkeiten, die einem das erlauben. Sie sind sogar erprobt. In Südkorea haben sie vorgemacht, wie eine Gesellschaft den Kampf gegen das Virus mit dem Handy gewinnen kann. Smartphones haben ein sehr viel genaueres Gedächtnis als Menschen, das macht sie bei der Nachverfolgung von Kontakten so nützlich.

 

Der Journalist Wolfgang Bauer hat in einem langen Text für „Die Zeit“ das südkoreanische Wunder beschrieben. Südkorea hatte schlechte Ausgangsbedingungen. Es ist ein dicht bevölkertes Land, nahe an China, und es war zu Beginn der Pandemie neben China auch am härtesten getroffen. Inzwischen haben die Südkoreaner die Neuinfektionen so weit unter Kontrolle, dass die Bürger wieder ein weitgehend normales Leben führen können. Dass sie das ohne Lockdown und ohne Schulschließungen geschafft haben, verdanken sie einem Tracing System von Korea Telecom, dem größten Telefonanbieter des Landes.

Einmal am Tag, so kann man in Bauers Reisebericht lesen, veröffentlicht Korea Telecom die Namen der Restaurants, der Läden und Parks, in denen sich ein Infizierter aufgehalten hat. Die Nummern der Buslinien, die er benutzt hat, die Uhrzeiten. Ob der Betreffende allein oder in Begleitung unterwegs war. Jeder Einwohner in der Nähe wird per SMS informiert und hat so die Möglichkeit zu überprüfen, ob er zur selben Zeit am selben Ort war. Wenn die Inkubationszeit vorbei ist, werden die Daten gelöscht.

In der Bundesregierung ist man sich einig, dass man auch in Deutschland unbedingt eine Tracing-App braucht. Technisch ist die Sache nicht so furchtbar kompliziert. Die Entwickler in Südkorea brauchten für die Programmierung wenige Tage. Wahrscheinlich hätten sie uns das System sogar überlassen, wenn wir gefragt hätten.

Der Bundesgesundheitsminister persönlich hat sich hinter die Sache geklemmt. Im Mai sollte es auch bei uns losgehen. Aber dann traten die Netzaktivisten vom Chaos Computer Club auf die Bühne und sagten, dass der Datenschutz nicht gewährleistet sei. Seitdem ist die Szene heillos zerstritten. Die beteiligten IT-Experten verbrachten mehr Zeit damit, sich gegenseitig mit Vorwürfen zu überziehen, als mit dem Coden. Vielleicht kommt die App jetzt im Juni, vielleicht auch erst im Herbst. Oder pünktlich mit dem Impfstoff.

Wie der Koreaner sagt: Eine Freiheit muss im Kampf gegen die Pandemie dran glauben. Die Koreaner haben sich entschieden, auf etwas Privatsphäre zu verzichten, um sich im Gegenzug ihre Bewegungsfreiheit zu bewahren. Wir opfern lieber die Freiheit, uns frei zu bewegen, damit unsere Daten in Sicherheit sind. Das ergibt, wenn man darüber nachdenkt, auch Sinn: Der Computernerd bleibt ohnehin am liebsten zu Hause.

Ich habe die deutsche Obsession mit dem Datenschutz nie ganz verstanden. Ich weiß noch, wie ich als 25-Jähriger über dem Fragebogen für die Volkszählung saß und mir zu erklären versuchte, warum uns die Beantwortung der Fragen zurück in die Diktatur führ en würde. Da ich den Warnungen vertraute, klebte ich trotzdem einen Aufkleber an die Tür, um dem Volkszähler zu zeigen, dass er unerwünscht sei. Ein Freund hat mich jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass die Tobereien zum 1. Mai, die in Kreuzberg seit den Achtzigern Tradition sind, im Kampf gegen die Volkszählung ihren Ursprung haben. Passt, würde ich sagen.

In der Welt der Hacker ist der Staat eine Macht, die uns überwachen und gängeln will. Glaubt man den Netzleuten, kann man nicht vorsichtig genug sein: Wer eben noch als Bürger Einsicht in seine Mobilfunkverbindungen gewährt hat, liegt morgen schon an der digitalen Kette! Ich will dagegen gar nichts sagen. Ich frage mich nur: Ist das nicht ziemlich genau das Denken, das man jetzt auch auf den sogenannten Hygiene-Demos antrifft? Eine Regierung, die ganz andere Absichten verfolgt, als sie uns sagt? Das Mobiltelefon als Einfallstor für finstere Mächte? Ein System, das jederzeit ins Totalitäre umkippen kann?

Normalerweise muss uns die Weltsicht des Hackers nicht weiter bekümmern. Wenn sich der Chaos Computer Club vor dem Merkel-Totalitarismus fürchtet, sei’s drum. Wenn die Netzgemeinde allerdings das wichtigste Instrument zu Fall bringt, das wir zur Bekämpfung des Virus bräuchten, wird es heikel. Das Leugnen und Verdrehen von Fakten könne in der Pandemie Leben gefährden, hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht mit Blick auf die Corona-Demos gesagt. Vielleicht könnte die Ministerin auch einmal ein Wort an die Netzgemeinde richten.

Der Corona-Demonstrant, der sich vor dem Virenchip fürchtet, ist nur ein Trottel. Der Netzaktivist, der die Tracing-App als Überwachungsinstrument denunziert, ist ein Gefährder.

Verrückt sind immer die anderen

Die Politik warnt vor einer „Corona-Pegida“, als sei der Hang zum Irrationalen das Privileg rechter Spinner. Dabei ist der Weg aus der grünen Lebenswelt zu den Hygiene-Demos kürzer, als viele denken.

Seit sechs Jahren gibt es „Die Anstalt“, die Satiresendung im Zweiten Deutschen Fernsehen. Oder wie der Schriftsteller Heinz Strunk sagen würde: Lachen aus der Todesgrube des Humors.

In einer Folge präsentierte der Kabarettist Claus von Wagner eine Tafel mit den Namen einer Reihe transatlantischer Organisationen wie der Atlantik-Brücke und dem Aspen-Institut. „In diesen Vereinigungen treffen sich Militärs, Wirtschaftsbosse und Politiker in diskreter Atmosphäre“, sagte von Wagner in einem Ton, der sofort klarmachte, dass sich dort Ungehöriges zutrage. Dann schwenkte die Kamera auf die Namen mehrerer Journalisten großer Zeitungen, darunter die „Frankfurter Allgemeine“ und die „Süddeutsche Zeitung“.

„Ich sehe da überhaupt keine Verbindungen“, sagte der zweite Mann auf der Bühne, der Mit-Kabarettist Max Uthoff, in gespielter Unschuld, worauf von Wagner den Vorhang lüftete, um ein Spinnennetz offenzulegen, das die Mitgliedschaften der Journalisten in den genannten Vereinen darstellte. „Oha, das ist aber ein ganz schön dichtes Netzwerk, sagen Sie mal“, rief Uthoff. „Aber dann sind ja alle diese Zeitungen nur so etwas wie die Lokalausgaben der Nato-Pressestelle.“

So funktioniert Verschwörungstheorie: Man beginnt mit der Behauptung von Macht und Einfluss, dann entdeckt man geheime Zirkel und finstere Motive, am Ende landet man bei einer Erklärung, die ein ganz neues Licht auf die Welt wirft. Dass sich die Namen der Journalisten, die in der „Anstalt“ als heimliche Nato-Einflussagenten enthüllt wurden, mühelos auf der Webseite der Organisationen einsehen ließen, bei denen sie Mitglied waren? Geschenkt. Irgendwo wird sicher auch die CIA ihre Finger im Spiel haben.

Wer an die segensreiche Wirkung von Bergkristallen glaubt, der hält auch Zuckerkugeln für eine angemessene Antwort zur Abwehr des Virus «

Ein paar Monate nachdem der Beitrag gelaufen war, traf ich in Bonn den Bestsellerautor Udo Ulfkotte. Der als Verschwörungstheoretiker über den Kreis der ZDF-Zuschauer hinaus zu Bekanntheit und Ansehen gelangte ehemalige „FAZ“-Journalist hatte die Einflusstheorie von Uthoff und Wagner in seinem Erfolgsbuch „Gekaufte Journalisten“ in einem eigenen Kapitel verarbeitet. So schließen sich manchmal die Kreise.

Ich habe mit Ulfkotte dann ein paar unterhaltsame Stunden verbracht. Er vertraute mir an, dass er ein in einem See gelegenes Haus bewohne, dessen Lage es nahezu unmöglich mache, sich ihm unbemerkt zu nähern. Im Gegensatz zu den ZDF-Satirikern hat Ulfkotte nie so getan, als wäre er lustig. Der Wahnsinn lag bei ihm offen zutage.

Mich haben Verschwörungstheorien bislang vor allem aus Kuriositätsgründen interessiert. Ich finde es in erster Linie skurril, wenn Menschen davon überzeugt sind, dass Geheimbünde das Sagen haben, zu denen selbst Leute wie ich mühelos Zugang finden (ich war jahrelang Mitglied der Atlantik-Brücke, bis sie mich wegen Verzugs bei den Mitgliedsbeiträgen von der Mitgliederliste strichen).

Wenn ich den Zeitungen glauben darf, sollte ich allerdings anfangen, mir Sorgen zu machen. Seit sich ein buntes Volk zu sogenannten Hygiene-Demonstrationen trifft, um gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung zu protestieren, ist der Verschwörungstheoretiker ins Zentrum der Berichterstattung gerückt. Die Bundesjustizministerin hat sich warnend eingeschaltet, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Bundesinnenminister Horst Seehofer natürlich, der immer noch an der Wiedergutmachung für seinen Aufstand gegen die Kanzlerin arbeitet.

Ich kann die Aufregung nicht ganz nachvollziehen. Welche Gefahr sollte von den Corona-Protesten ausgehen? Ist zu erwarten, dass sich die Demonstranten bewaffnen und vor das Kanzleramt ziehen? Oder dass sie die U-Bahn lahmlegen, auf der Suche nach den geheimen Tunnelanlagen, in denen die Reptilienkanzlerin ihre Menschenversuche durchführen lässt? Ich glaube erst an eine Gefahr für die Demokratie, wenn mir Jakob Augstein zuraunt, dass Bill Gates doch heimlich an der Machtübernahme arbeite, und zwar durch die Implementierung eines neuen Chefredakteur-Chip-Updates.

Ich habe mir die Proteste im Netz angesehen. Manches kam mir seltsam bekannt vor. Ein Video, das sich in den sozialen Kanälen gerade großer Beliebtheit erfreut, zeigt junge Menschen bei dem Versuch, das Virus wegzutanzen. Ich hätte schwören können, dass ich die gleichen Leute im Oktober in Berlin gesehen habe, als sie die Straßenkreuzung am Potsdamer Platz lahmlegten, um Körper gegen den Klimatod zu protestieren.

Der Weg von Extinction Rebellion zu den Hygiene-Demos ist kürzer, als viele denken. Allenthalben wird jetzt so getan, als handele es sich bei den Protesten um rechte Aufzüge. Die Rede ist von einer „Corona-Pegida“, so als sei der Hang zum Irrationalen das Privileg einer bestimmten politischen Seite. Dabei ist die grüne Impfgegnerin aus dem Prenzlauer Berg für das Esoterische und Versponnene mindestens so empfänglich wie der national gesinnte Gemüseapostel aus dem Vogtland.

Dass der Chef der Biomarke Rapunzel das Virus für ein intelligentes Wesen hält, dem man sich nicht in den Weg stellen sollte, kann nur Leute überraschen, die nie in eines der Blättchen geschaut haben, die im Bioladen ausliegen. Wer an die segensreiche Wirkung von Bergkristallen glaubt, der hält auch Zuckerkugeln für eine angemessene Antwort auf alles. Eine Freundin schrieb neulich auf Twitter, sie werfe in Diskussionen mit Globuli-Anhängern gerne ein, dass man Globuli nur in gerader Anzahl einnehmen dürfe. Bisher habe jeder Anhänger längere Zeit überlegt und dann gesagt, dass er das noch nicht gewusst habe.

Es sind immer die anderen verrückt. Oder wie Descartes anmerkte: Nichts ist gerechter verteilt als der Verstand – jeder glaubt, dass er genug davon besitze. 60 Prozent der Deutschen würden bei einer Covid-19-Erkrankung zu homöopathischen Mitteln greifen. 42 Prozent fänden es außerdem begrüßenswert, wenn die Politik im Kampf gegen das Virus nicht nur konventionelle Forschungsprojekte fördern würde. Im Zweifel handelt es sich um dieselben Leute, die am Wochenende die Nase über die Spinner rümpfen, die sich in Stuttgart und Berlin versammeln, um zum Widerstand gegen das Corona-Regime der Kanzlerin aufzurufen.

Ich habe nichts gegen Homöopathie. Es ist eine faszinierende Parallelwelt. Wo sonst auf Gottes Erdenrund ist es möglich, dass eine Substanz wirksamer wird, je stärker man sie verdünnt? Vielleicht sollte man den Homöopathen die Lösung der Energiekrise anvertrauen. Ich würde es auf einen Versuch ankommen lassen. Je weniger Benzin Sie in den Tank geben, desto weiter können Sie fahren. Genial! Ich hege nur gewisse Zweifel, ob sich der Glaube an die Wunderkraft der Potenzierung wirklich mit dem Slogan „Unite behind the Science“ verträgt, den sie im grünen Milieu adaptiert haben.

Manche erwarten, dass die Corona-Bewegung der AfD neuen Schub verleihen könnte. Ich bin mir da nicht so sicher. Was wäre die politische Forderung? In der Flüchtlingskrise war das klar: Grenzen dicht und alle Flüchtlinge wieder abschieben. Aber diesmal? Handymasten kippen? Mundschutzpflicht beenden sofort? Wut allein macht noch keine Bewegung. Man muss die Wut einem Ziel zuführen, damit daraus Politik entsteht.

Bis das Ziel gefunden ist, bestelle ich mir jetzt erst einmal den Hildegard Orgonakkumulator, den man derzeit günstig über Ebay erwerben kann. „Orgonenergie fördert den Aufbau von Lebensstrukturen“, heißt es in dem 1995 beim Verlag Zweitausendeins erschienenen Buch „Der Orgonakku-mulator“ von James DeMeo. „Sie sorgt für tiefere Atmung, höheres Energieniveau, größere Aktivität und Lebendigkeit, Stärkung von Widerstandskräften.“

Die Orgontheorie geht auf den Psychoanalytiker Wilhelm Reich zurück, der schon bei den Achtundsechzigern hoch im Kurs stand. Manches gerät eben nie aus der Mode.

Wende zum Weniger

Eine breite Allianz, die von Madonna bis zum ARD-Chefredakteur reicht, sieht die Krise als Mahnung, Konsum und Lebensstil radikal in Frage zu stellen und sich mit weniger zu begnügen. Gute Idee, warum nicht bei der ARD anfangen?

Der Chefredakteur der ARD, Rainald Becker, hat die Deutschen dazu aufgerufen, ihr Leben zu überdenken. Es sei an der Zeit, Lebensstil, Konsumverhalten und Wirtschaft grundlegend zu verändern, sagte er in einem „Tagesthemen“-Kommentar. Becker berief sich dabei auf die Sängerin Madonna und den Schauspieler Robert De Niro, die zusammen mit anderen Unterhaltungsgrößen einen Appell gegen das „Streben nach Konsum“ und das „Besessensein von Produktivität“ lanciert haben. Wer glaube, er könne nach der Krise einfach so weitermachen wie zuvor, sei ein Wirrkopf und Spinner.

Ich habe mir den „Tagesthemen“-Kommentar in der Mediathek mehrfach angeschaut, es war wie ein Zwang. Ich hege normalerweise gewisse Vorbehalte gegenüber älteren Herren mit Kurzhaarschnitt und Kurzarmhemden. Einmal haben Becker und ich uns in Berlin am Lufthansa-Gate getroffen. Es war auch ein kurzes Gespräch. Becker ist kein Freund des Small Talks, wie ich bei der Gelegenheit erfuhr.

Ich muss meine Meinung über den ARD-Chefredakteur revidieren. Ich hielt ihn für einen dieser Gremienlurche, wie ihn alle Bürokratien unweigerlich hervorbringen. Wer hätte gedacht, dass sich hinter der biederen Fassade des öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Funktionärs ein Revolutionär verbirgt? Oder vielleicht sollte man besser sagen: ein Swami beziehungsweise eine Swamini?

Der letzte ARD-Star, der sich unter den Augen der Öffentlichkeit auf den Weg nach innen begab, war die Schauspielerin Barbara Rütting, deren Engagement für Ökologie und Esoterik sie nach Stationen im Ashram in Poona und bei den Grünen in Bayern zur „V-Partei3“ führte, der „Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer“. Rainald Becker als eine Art Barbara Rütting der Corona-Welt: Die Krise hält die verrücktesten Wendungen bereit.

Dass die Pandemie ein Tor sei, durch das wir gemeinsam gehen müssen, um in eine bessere, gerechtere Welt zu gelangen, ist eine Vorstellung, die in diesen Tagen an Popularität gewinnt. Es ist, wenn man so will, die religiöse Deutung des Virus: durch die Schmerzen zu den Sternen.

Selbst Presseorgane, die nicht im Verdacht der Schwärmerei stehen, träumen von der Wende zum Weniger. „Der Aufbruch“ war eine Titelgeschichte überschrieben, in der ausgerechnet der „Spiegel“ den Nachweis zu führen versuchte, warum der Corona-Schock die Chance auf eine bessere Welt berge.

In der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ malte ein vom Politikchef Bernd Ulrich angeführtes Autorenteam aus, wie der Kapitalismus in die Knie gezwungen werde, wenn die Menschen massenhaft feststellen, dass sie das meiste, was er ihnen anbietet, nicht mehr brauchen. Ein neues Auto, ein neues Haus, der Jahresurlaub auf den Seychellen: alles entbehrlich, alles gestrichen. Der wahre Reichtum liegt am Boden der Seele, das wusste schon Barbara Rütting.

Sie werden es vermutet haben, mich plagen Zweifel, was die Läuterungswirkung der Pandemie angeht – auch wenn die Idee etwas ungemein Tröstliches hat, wie ich sofort einräume. Wer wünschte sich nicht, dass all die Opfer und Entbehrungen zu etwas Positivem führen könnten. Leider fehlt mir die Fantasie, um mir vorzustellen, dass eine Krise, die dafür sorgen wird, dass Millionen in Armut fallen, den Weg in einer besseren Welt ebnet.

Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass sich Menschen in Not nicht immer so verhalten, dass am Ende das Gute triumphiert. In Italien gehört jetzt die Mafia zu den Profiteuren. Wer in Zahlungsschwierigkeiten steckt, dem bietet sie ganz unbürokratisch ihre Unterstützung an. Auch die Drogenkartelle in Lateinamerika haben ihr Angebot um finanzielle Nachbarschaftshilfe erweitert. Dass es sich nicht um Charity-Organisationen handelt, wird man mit etwas Zeitverzug ebenfalls feststellen.

Konsumkritik ist wahrscheinlich so alt wie der Konsum. Vermutlich saßen die ersten Konsumkritiker schon in der Höhle beisammen und zerbrachen sich den Kopf, wie sie wieder loswerden könnten, was sie am Tag zuvor zusammengerafft hatten.

Je erfolgreicher das Wirtschaftssystem, desto stärker die Versuchung, sich über seine Wohltaten zu beklagen. Dass der Kapitalismus den Menschen ausbeute, indem er ihm nicht zu wenig, sondern im Gegenteil zu viel anbiete, ist eine Volte, die seit den siebziger Jahren ihren festen Platz im gesellschaftskritischen Diskurs hat. Den Menschen zum Konsumsklaven abgerichtet zu haben, gehört zu den unverwüstlichen Evergreens der Klage über den Entfremdungscharakter des Kapitalismus.

Der Schönheitsfehler der Wachstumskritik ist, dass sie bei den Leuten, die den Laden am Laufen halten, spätestens in Krisenzeiten nicht mehr richtig zündet. Wäre es anders, müssten die Grünen weiter von Höhenflug zu Höhenflug segeln. Wenn es eine Partei gibt, bei der Verzicht und protestantisches Entsagungsethos zum Kernbestandteil des Programms gehören, dann die Bewegung um Robert Habeck und Annalena Baerbock. Stattdessen sind die Grünen in den Umfragen bös abgerutscht, was man als Hinweis verstehen darf, dass die Wende zum Weniger deutlich weniger glamourös erscheint, wenn sie nicht nur in der Theorie, sondern ganz praktisch angetreten werden muss.

Es ist halt eine Sache, die Automobilindustrie in Gedanken abzuwickeln, wenn man weiß, dass mächtige Interessen gegen einen stehen, die das schon zu verhindern wissen. Oder wenn ein Wirtschaftszweig, den man zum Teufel wünscht, wirklich zum Teufel geht – mitsamt der zwei Millionen Arbeitsplätze, die dran hängen. Plus den 800 000 Arbeitsplätzen in der Luftfahrtindustrie. Das werden sie in der Zukunftsbranche der erneuerbaren Energie nicht wirklich herausreißen, selbst wenn sie in jeden Vorgarten ein Windrad pflanzen.

Ich sage es ungern, aber ich fürchte, der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian hat recht, wenn er sagt: Die Welt wird s ein wie zuvor, nur schlimmer. Ich glaube keinen Wimpernschlag lang, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. In Wahrheit verläuft die Pandemie erstaunlich überraschungsfrei. Die Deutschen schlagen sich besser als die Franzosen, die Spanier und die Italiener. Den Leuten ist die Öffnung des Baumarkts wichtiger als die Öffnung einer Buchhandlung. Wer in einer Hartz-IV-Familie aufwächst, ist mal wieder am meisten gekniffen.

Insofern hat mich ARD-Chefredakteur Becker angenehm überrascht. Ich habe ein klein bisschen Angst davor, was passiert, wenn Madonna jetzt die Schlipsauswahl übernimmt, um die angekündigte Änderung des Lebensstils einzuleiten. Das Letzte, was die Sängerin zu Corona von sich hinterließ, war ein Instagram-Video, das sie beim Bad in einer mit Rosenblättern gefüllten Wanne zeigte und in dem sie darüber nachsann, wie sehr die Krise uns doch alle gleichmache Warum man sich ausgerechnet Entertainment-Millionäre als Botschafter der Wachstumskritik aussucht, ist mir ein Rätsel, aber ich arbeite ja auch nicht bei der ARD.

Was die Degrowth-Pläne von Swami Becker angeht, hätte ich einen praktischen Vorschlag. Acht Milliarden Euro nehmen ARD und ZDF jedes Jahr an Gebühren ein, gerade steht eine neue Gebührenerhöhung ins Haus. Warum nicht mit der Wende zum Weniger im eigenen Hause beginnen? Vielleicht für den Anfang ein Verzicht von 5,5 Prozent der aktuellen Gebührenlast als Corona-Soli, das wäre doch eine tolle Sache.

Und wenn ich mir noch eines wünschen darf, lieber Rainald Becker: die nächste Sendung dann aus der Badewanne. Statt importierter Rosen kann es, ökologisch bewusst, auch Löwenzahn sein. „Lasst hundert Blumen blühen!“, forderte schon der Kapitalismuskritiker Mao Tse-tung.

Die Priester des Virus

Das Virus spricht nicht zu uns, es hat keinen Willen und keine Stimme. Es gibt allerdings Journalisten, die so tun, als spräche das Virus zu ihnen, und die glauben, sie hörten eine Botschaft, die andere nicht hören

Um es vorwegzuschicken: Ich halte mich an die Corona-Regeln. Ich trage Mundschutz beim Einkauf. Ich achte auf sicheren Abstand zu Fremden. Meine sozialen Kontakte habe ich auf ein Minimum reduziert. Mir kommt nicht einmal die Katze des Nachbarn über die Schwelle. Wenn der DHL-Bote vor der Tür steht, bitte ich ihn, sein Lesegerät auf die Stufe vor der Eingangstür zu legen und einen Schritt zurückzutreten. Erst dann quittiere ich den Empfang der Sendung.

Ich halte nichts davon, sein republikanisches Temperament zu beweisen, indem man sich möglichst unangepasst gibt. Wo wäre der Punkt? Außerdem gehöre ich gleich doppelt zur Risikogruppe. Ich bin diese Woche 58 Jahre alt geworden, womit ich mich bedenklich der statistischen Todeszone des Virus nähere. Und ich leide an Asthma- Anfällen, seit der Heuschnupfen einen Etagenwechsel vorgenommen hat, wie mein Hausarzt das nennt.

Meinetwegen sollen sie nach der Entdeckung eines Impfstoffs auch eine Impfpflicht einführen oder einen Immunitätspass. Ich fürchte keine Corona-Diktatur, und ich mag einfach nicht daran glauben, dass die Kanzlerin heimlich darauf hinarbeitet, Deutschland zum Vasallenstaat eines Weltherrschers Bill Gates zu machen. Ich bin bei allem dabei, was mir an Verhaltensregeln zum Schutz der Alten und Schwachen auferlegt wird und mir einigermaßen vernünftig erscheint.

Wo ich nicht mehr mitmache, ist, wenn ich das Gefühl habe, die Regierung gibt eine Richtung vor, und alle marschieren mit. Wenn die Regierung sagt: „Hier entlang”, gehöre ich zu denen, die fragen: „Geht’s nicht auch andersherum?” Sie mögen das für kindisch halten. Für mich war es einer der Gründe, in den Journalismus zu gehen.

Alternativlos ist ein Wort, das in meinem Sprachgebrauch nicht vorkommt. Ich denke immer in Alternativen. Schon der Herrgott hat für eine Alternative gesorgt, als er den Teufel erschuf. Theologisch übrigens eine vertrackte Sache: Ist das Böse eine eigene Kraft, unabhängig vom Willen des Herrn? Oder ist der Teufel ein Werkzeug Gottes und damit das Eingeständnis, dass Gott nicht nur Gutes im Schilde führt?

Wie auch immer: Ich kann nicht sagen, dass mich die vergangenen Wochen eines Besseren belehrt hätten. Eine Kanzlerin, die uns sagt, dass alles von den Infektionszahlen abhängt, und die sich dann auf einer Pressekonferenz bei der Zahl der Infizierten um ein Drittel vertut? Ein Wirtschaftsminister, der erst erklärt, dass niemand sich in Deutschland wegen Corona um seinen Arbeitsplatz zu sorgen brauche, um dann kurz darauf Milliarden zur Rettung von Arbeitsplätzen auszugeben, von denen er doch eben noch gesagt hat, dass sie nicht gerettet werden müssten? Eine Behörde für den Seuchenschutz, deren Zahlen über Nacht quasi Gesetzeskraft erlangen, obwohl sie bis vor acht Wochen davon ausging, dass die Alpen eine Hürde seien, die das Virus nie überwinden könnte? Wäre ich Comedian, würde ich sagen, hier liegt 1-a-Showmaterial.

Ich sage nicht, dass man sich nicht irren kann. Jeder kann und darf sich irren, sogar Wissenschaftler. Ich hätte nur die Erwartung, dass man die Zahlen und Voraussagen von Behörden- und Regierungsvertretern, die in ihren Einschätzungen so oft danebenlagen, mit etwas mehr Vorsicht genießt.

Leute wie ich würden raunen, heißt es jetzt, so als verfolgte jeder, der die Maßnahmen der Politik infrage stellt, eine verborgene Agenda. „Raunen” ist das Äquivalent zu „zündeln”. Als es noch gegen rechts ging, war dies das Wort, um einen auf die Strafbank zu schicken. Man weiß nicht genau, was gemeint ist, aber es klingt irgendwie gefährlich. Wer raunt oder zündelt, von dem hält man sich besser fern.

Es lassen sich seltsame Distanzierungsrituale beobachten. Ein Autor des „Tagesspiegel” schreibt von „sogenannten Journalisten”, die seit Wochen Fragen hätten, „die angeblich die Demokratie und den Rechtsstaat betreffen”. Damit auch jeder versteht, wie unsinnig er diese Fragen findet, setzt er „‚Fragen haben’“ in Anführungsstriche und spricht im Weiteren von den „‚Kolleginnen und Kollegen’“ ebenfalls in Anführungsstrichen. Eine Kolumnistin des „Spiegel” bezeichnet den Streit über die Corona-Politik als „Geisterdebatte”, so, als müsse man ein bisschen wirr im Kopf sein, wenn man auf Widersprüche in der Wissenschaftsgemeinde hinweist oder die Angst vor dem Virus für übertrieben hält.

Etwas ist ins Rutschen geraten. Es hat schon vorher begonnen, als es noch nicht gegen das Virus, sondern gegen den Faschismus ging. Plötzlich fanden viele Journalisten, dass es ihre Aufgabe sei, selbst aktiv zu werden, um Deutschland vor einem Rückfall in finstere Zeiten zu bewahren. Das Virus ist noch gefährlicher und tödlicher als der Faschismus, also verdoppelt man die Anstrengungen.

Aufmerksame Leser könnten jetzt einwenden, dass ich mich doch ebenfalls an anderen Journalisten abarbeite. Natürlich tue ich das, mit Wonne sogar. Aber ich denke, ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich Leute, deren Meinung ich nicht teile, deshalb noch lange nicht aus dem Kollegenkreis ausschließe. Ich verschicke auch keine Bilder mit Sterbezahlen, um sie ins Unrecht zu setzen, oder Fotos von Intensivstationen, versehen mit dem Zusatz: „Na, glücklich jetzt, Ihr Lockdown-Gegner?”

Ich will mich nicht beklagen. Im Zweifel haben sie mich beim „Tagesspiegel” oder beim „Stern” immer schon für einen überschätzten Fatzke gehalten. Ich lebe ganz gut davon, dass mich einige Leute nicht mögen. Es geht auch nicht um Denkverbote. Man kann in Deutschland denken, was man will. Man findet sogar meist eine Plattform, auf der man das, was man denkt, der Allgemeinheit zugänglich machen kann. Was mich stört, ist, wenn so getan wird, als sei es unanständig, bei moralisch kniffligen Fragen eine Minderheitenmeinung zu vertreten. Oder wenn Journalisten glauben, sie dienten einer höheren Wahrheit.

Vor ein paar Tagen hat ein Kollege der „Süddeutschen Zeitung” auf Twitter einen Kommentar an meine Adresse hinterlassen. Manche sogenannten Intellektuellen hätten nicht verstanden, dass das Virus kein Diskurspartner sei, mit dem man freudig um das beste Argument ringen könne, schrieb er. Hier liegt ein Missverständnis vor. Ich will nicht mit dem Virus diskutieren, sondern mit den Menschen, die glauben, sie seien seine Propheten.

Das Virus spricht nicht zu uns, es hat keinen Willen und keine Stimme. Die Natur spricht grundsätzlich nicht zu uns, anders, als manche meinen. Es gibt allerdings Leute, die so tun, als spräche das Virus zu ihnen, und die glauben, sie hörten eine Botschaft, die andere nicht hören können. So funktionierten früher Priesterstaaten.

Ich habe vergangene Woche darüber geschrieben, wie sehr mich vieles an die Flüchtlingskrise erinnert. Ein Punkt, den ich ausgespart hatte, war die Rolle der Medien. Eine Reihe von Untersuchungen hat gezeigt, dass sich damals bei vielen Deutschen das Gefühl verfestigte, die Mehrheit der Presse würde nicht umfassend und unvoreingenommen berichten. Wir sollten aufpassen, dass sich das nicht wiederholt.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, nun wahrlich kein Fahrensmann von mir, hat in einem Interview mit dem „Standard” seinen Eindruck formuliert, dass der politische Journalismus in der Corona-Berichterstattung zu sehr dem Blick der Virologen gefolgt sei. Am Anfang habe es kaum eine andere Möglichkeit gegeben, als einen situativ bedingten Verlautbarungsjournalismus zu betreiben. Aber je länger die Krise anhält, desto mehr bräuchte es Distanz und Debatte. „Eine Orientierung an Expertenmonopolen ist, prinzipiell gesprochen, nie gut. In Zeiten einer derart dramatischen Krise wird sie gefährlich.” Ich wüsste nicht, wie ich es besser sagen könnte.

Der Corona-Staat

Vieles erinnert in diesen Tagen an die Flüchtlingskrise: die Allianz des linken Lagers mit der Kanzlerin. Die Spaltung in ein helles und ein dunkles Deutschland. Das Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Ausland

Vor ein paar Tagen stieß ich bei Twitter auf einen Eintrag der Grünen-Politikerin Renate Künast. Frau Künast hatte das ZDF-„Morgenmagazin“ gesehen und dabei auch ein Interview mit Wolfgang Kubicki von der FDP wahrgenommen. Das Interview hatte sie empört. „So kommt man ins Moma. Ich glaub’s langsam nicht mehr“, schrieb sie. Den Ausschnitt, der sie so aufgebracht hatte, dass sie ihre Empörung mit der Welt teilen musste, heftete sie gleich bei.

Ich bin ein neugieriger Mensch. Was hat Kubicki jetzt wieder angestellt, fragte ich mich. Hat er die Kanzlerin beleidigt? Hat er gesagt, dass man den Zahlen des Robert Koch-Instituts nicht trauen dürfe? Ich habe mir den Ausschnitt daraufhin angesehen. Ich war enttäuscht.

Alles, was Kubicki im „Morgenmagazin“ zu sagen hatte, war, dass er es unverschämt finde, wenn die Kanzlerin erkläre, dass man keine Diskussionen über Lockerungen führen solle. Es sei die Pflicht eines Abgeordneten, nach der gesetzlichen Grundlage von Freiheitsbeschränkungen zu fragen. Für mich klang das nach einer Selbstverständlichkeit und Wann haben wir es das letzte Mal erlebt, dass eine der bekanntesten Vertreterinnen der Grünen Kritik an einer CDU-Kanzlerin so unerhört findet, dass sie am liebsten Frühstücksfernsehverbot für den Kritiker fordern würde? Ich war versucht zu schreiben: verrückte Zeiten. Aber dann fiel mir ein, dass wir das schon einmal erlebt haben. Es ist ziemlich genau viereinhalb Jahre her, dass die Grünen jeden Abend ein Kerzlein für Angela Merkel ansteckten, damit der Herrgott sie beschützen und ihre Feinde in den Staub werfen möge.

Die Corona-Krise sei einzigartig, heißt es, aber wenn man länger darüber nachdenkt, erinnert vieles an den Herbst 2015, als die Flüchtlingskrise Fahrt aufnahm. Alles ist wieder da: die Allianz des linken Lagers mit der Regierungschefin der Union. Der Stolz auf die vorbildliche deutsche Art, mit der man die Herausforderungen meistert. Die Ungeduld mit abweichenden Meinungen. Die Spaltung der Gesellschaft in ein helles und ein dunkles Deutschland.

Das helle Deutschland ist in diesem Fall das Deutschland, das jeden Tag in den Abgrund blickt – das ist eine der überraschenden Wendungen der Corona-Krise. In der Flüchtlingskrise war es den Merkel-Unterstützern ein Anliegen, Ängste zu zerstreuen und Zuversicht zu verbreiten. Die Zahlen seien gar nicht so bedrohlich, sagten sie, Deutschland könne in Wahrheit noch viel mehr Flüchtlinge vertragen. Es war ein Mutmacher-Programm.

Jetzt üben sich die Leute, die treu zur Regierung stehen, darin, die Zukunft in möglichst düsteren Farben zu malen. Wer nicht einstimmt in den Chor der schwarzen Prophetie, gilt als Bruder und Schwester Leichtsinn, die sich selbst und damit auch alle andern gefährden, da das Virus bekanntlich von einem zum anderen überspringt.

Eine der Erwartungen an die Krise war, dass mit den Umwälzungen, die das Land erfasst haben, links und rechts als politische Kategorien verschwinden würden. Die Hoffnung war verfrüht, wie sich zeigt. Die politischen Lager sind noch da, sie sind sogar so lebendig wie lange nicht mehr. Es gibt ein paar Freischärler, die sich nicht zurechnen lassen. Aber das ist die Ausnahme.

Wenn sich überhaupt etwas geändert hat, dann ist es die Verdächtigungswut, die alle erfasst, die aus der Reihe tanzen. Wo der Tod um die Ecke lauert, gilt jeder Scherz als frivol. Was eben noch als Provokation durchging, ist nun verantwortungsloses Gerede. Das Lachen des Anarchismus? Hochverrat! Wehe dem, der auf dem falschen Fuß beziehungsweise falschen Gedanken erwischt wird.

Was haben sie im Feuilleton nicht den Theaterregisseur Frank Castorf hochleben lassen. Seine Volksbühne in Berlin war eine Pilgerstätte für alle, die sich wild und widerständig fühlten. Aber nun, wo Castorf davon redet, dass er sich von Frau Merkel nicht vorschreiben lassen wolle, wie oft er sich die Hand wasche, gilt der Rebell plötzlich als verstockter alter Mann. Dabei ist Castorf sich treu geblieben. So wie er heute über die Corona-Welt redet, hat er als Intendant über den Kapitalismus oder den Kolonialismus gesprochen. Ich mag ja Leute, die „si nix scheißn“, wie man in Bayern sagt. Aber damit bin ich offenbar in der Minderheit.

Der Seuchenstaat ist von seinem Wesen her autoritär. Deshalb kommt es notgedrungen zu Selbstwidersprüchen, wenn man ansonsten keine Gelegenheit auslässt, das Hohelied der Emanzipation zu singen. Es sind mehrheitlich Frauen, die wegen der Kinder ans Haus gefesselt sind, und es werden auch überdurchschnittlich Arbeitsplätze verloren gehen, die von Frauen besetzt werden, weil es gerade vor allem Branchen trifft, in denen viele Frauen arbeiten. Man kann das für ein Opfer halten, das für die Volksgesundheit gebracht werden muss. Aber ich finde, es gehört zur Redlichkeit, zumindest anzuerkennen, dass hier zwei Ziele im Widerstreit liegen.

Stattdessen beklagen die gleichen Leute, die am Morgen noch vehement eine Ausweitung des Shutdown verlangt haben, am Nachmittag, welchen Rückschlag eine Verlängerung der Kita-Schließung für den Feminismus bedeuten würde. Man kann sogar in einem Medium beides gleichzeitig lesen, ohne dass das eine mit dem anderen in Beziehung gesetzt wird. Manchmal auch von derselben Person.

Warum wird der Streit so erbittert geführt? Der Einsatz ist hoch, wo geht es sonst um Leben und Tod? Aber dahinter steht auch eine politische Agenda. Es ist kein Zufall, dass die neue Frontlinie entlang der alten politischen Lagergrenze verläuft. Wer links denkt, neigt im Augenblick dazu, jede Aufweichung des Corona-Regimes für eine Gefahr zu halten. Wer eher rechts eingestellt ist, erinnert daran, dass auch ohne Corona in Deutschland gestorben wird.

Ich glaube, dass viele im Grunde nichts dagegen haben, wenn der Staat wieder mehr zu sagen hätte. Den selbstständigen Unternehmer kennt man links der Mitte ohnehin nur vom Lesen. Der einzige Selbstständige, den man hier zu seinen Bekannten zählt, ist der Lebenskünstler, der sich von Projekt zu Projekt hangelt. Das wird es im Zweifel auch weiterhin geben, dann eben staatsfinanziert.

Mit dem Geld des Staates sind Erwartungen verbunden. Wohin die Reise geht, haben dieser Tage Vertreter der Linkspartei angedeutet. Der Flugverkehr gehöre mit einem Einstieg bei der Lufthansa unter demokratische Kontrolle gebracht, die Regierung müsse künftig entscheiden, wer wohin fliegen dürfe. Auch so nimmt der Corona-Staat langsam Form an.

Einer der angenehmen Nebeneffekte der Flüchtlingskrise war das Gefühl, den Nachbarn, wenn schon nicht historisch, dann doch moralisch überlegen zu sein. Niemand sollte die Deutschen an Großzügigkeit und Fremdenliebe übertreffen können. Diesmal ist es die vergleichsweise geringe Sterbezahl, aus der das helle Deutschland sein Selbstbewusstsein bezieht. Die Bewunderung des Auslands gilt als Beweis, dass man eben doch tüchtiger, vorausschauender und disziplinierter ist als der arrogante Amerikaner oder der unzuverlässige Südländer.

So ist der tägliche Vergleich der Corona-Statistiken beides: Bestätigung des eigenen Überlegenheitsgefühls und Anlass zur Sorge, dass der Triumph schon morgen zerronnen sein könnte, wenn man die Disziplin schleifen lässt. Vielleicht erklärt das die enorme Reizbarkeit. Zur Angst vor dem Virus kommt die Furcht vor der Demütigung, am Ende als Deutscher nicht besser dazustehen als der Bruder Leichtfuß auf der anderen Seite der Alpen.