Der Corona-Staat

Vieles erinnert in diesen Tagen an die Flüchtlingskrise: die Allianz des linken Lagers mit der Kanzlerin. Die Spaltung in ein helles und ein dunkles Deutschland. Das Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Ausland

Vor ein paar Tagen stieß ich bei Twitter auf einen Eintrag der Grünen-Politikerin Renate Künast. Frau Künast hatte das ZDF-„Morgenmagazin“ gesehen und dabei auch ein Interview mit Wolfgang Kubicki von der FDP wahrgenommen. Das Interview hatte sie empört. „So kommt man ins Moma. Ich glaub’s langsam nicht mehr“, schrieb sie. Den Ausschnitt, der sie so aufgebracht hatte, dass sie ihre Empörung mit der Welt teilen musste, heftete sie gleich bei.

Ich bin ein neugieriger Mensch. Was hat Kubicki jetzt wieder angestellt, fragte ich mich. Hat er die Kanzlerin beleidigt? Hat er gesagt, dass man den Zahlen des Robert Koch-Instituts nicht trauen dürfe? Ich habe mir den Ausschnitt daraufhin angesehen. Ich war enttäuscht.

Alles, was Kubicki im „Morgenmagazin“ zu sagen hatte, war, dass er es unverschämt finde, wenn die Kanzlerin erkläre, dass man keine Diskussionen über Lockerungen führen solle. Es sei die Pflicht eines Abgeordneten, nach der gesetzlichen Grundlage von Freiheitsbeschränkungen zu fragen. Für mich klang das nach einer Selbstverständlichkeit und Wann haben wir es das letzte Mal erlebt, dass eine der bekanntesten Vertreterinnen der Grünen Kritik an einer CDU-Kanzlerin so unerhört findet, dass sie am liebsten Frühstücksfernsehverbot für den Kritiker fordern würde? Ich war versucht zu schreiben: verrückte Zeiten. Aber dann fiel mir ein, dass wir das schon einmal erlebt haben. Es ist ziemlich genau viereinhalb Jahre her, dass die Grünen jeden Abend ein Kerzlein für Angela Merkel ansteckten, damit der Herrgott sie beschützen und ihre Feinde in den Staub werfen möge.

Die Corona-Krise sei einzigartig, heißt es, aber wenn man länger darüber nachdenkt, erinnert vieles an den Herbst 2015, als die Flüchtlingskrise Fahrt aufnahm. Alles ist wieder da: die Allianz des linken Lagers mit der Regierungschefin der Union. Der Stolz auf die vorbildliche deutsche Art, mit der man die Herausforderungen meistert. Die Ungeduld mit abweichenden Meinungen. Die Spaltung der Gesellschaft in ein helles und ein dunkles Deutschland.

Das helle Deutschland ist in diesem Fall das Deutschland, das jeden Tag in den Abgrund blickt – das ist eine der überraschenden Wendungen der Corona-Krise. In der Flüchtlingskrise war es den Merkel-Unterstützern ein Anliegen, Ängste zu zerstreuen und Zuversicht zu verbreiten. Die Zahlen seien gar nicht so bedrohlich, sagten sie, Deutschland könne in Wahrheit noch viel mehr Flüchtlinge vertragen. Es war ein Mutmacher-Programm.

Jetzt üben sich die Leute, die treu zur Regierung stehen, darin, die Zukunft in möglichst düsteren Farben zu malen. Wer nicht einstimmt in den Chor der schwarzen Prophetie, gilt als Bruder und Schwester Leichtsinn, die sich selbst und damit auch alle andern gefährden, da das Virus bekanntlich von einem zum anderen überspringt.

Eine der Erwartungen an die Krise war, dass mit den Umwälzungen, die das Land erfasst haben, links und rechts als politische Kategorien verschwinden würden. Die Hoffnung war verfrüht, wie sich zeigt. Die politischen Lager sind noch da, sie sind sogar so lebendig wie lange nicht mehr. Es gibt ein paar Freischärler, die sich nicht zurechnen lassen. Aber das ist die Ausnahme.

Wenn sich überhaupt etwas geändert hat, dann ist es die Verdächtigungswut, die alle erfasst, die aus der Reihe tanzen. Wo der Tod um die Ecke lauert, gilt jeder Scherz als frivol. Was eben noch als Provokation durchging, ist nun verantwortungsloses Gerede. Das Lachen des Anarchismus? Hochverrat! Wehe dem, der auf dem falschen Fuß beziehungsweise falschen Gedanken erwischt wird.

Was haben sie im Feuilleton nicht den Theaterregisseur Frank Castorf hochleben lassen. Seine Volksbühne in Berlin war eine Pilgerstätte für alle, die sich wild und widerständig fühlten. Aber nun, wo Castorf davon redet, dass er sich von Frau Merkel nicht vorschreiben lassen wolle, wie oft er sich die Hand wasche, gilt der Rebell plötzlich als verstockter alter Mann. Dabei ist Castorf sich treu geblieben. So wie er heute über die Corona-Welt redet, hat er als Intendant über den Kapitalismus oder den Kolonialismus gesprochen. Ich mag ja Leute, die „si nix scheißn“, wie man in Bayern sagt. Aber damit bin ich offenbar in der Minderheit.

Der Seuchenstaat ist von seinem Wesen her autoritär. Deshalb kommt es notgedrungen zu Selbstwidersprüchen, wenn man ansonsten keine Gelegenheit auslässt, das Hohelied der Emanzipation zu singen. Es sind mehrheitlich Frauen, die wegen der Kinder ans Haus gefesselt sind, und es werden auch überdurchschnittlich Arbeitsplätze verloren gehen, die von Frauen besetzt werden, weil es gerade vor allem Branchen trifft, in denen viele Frauen arbeiten. Man kann das für ein Opfer halten, das für die Volksgesundheit gebracht werden muss. Aber ich finde, es gehört zur Redlichkeit, zumindest anzuerkennen, dass hier zwei Ziele im Widerstreit liegen.

Stattdessen beklagen die gleichen Leute, die am Morgen noch vehement eine Ausweitung des Shutdown verlangt haben, am Nachmittag, welchen Rückschlag eine Verlängerung der Kita-Schließung für den Feminismus bedeuten würde. Man kann sogar in einem Medium beides gleichzeitig lesen, ohne dass das eine mit dem anderen in Beziehung gesetzt wird. Manchmal auch von derselben Person.

Warum wird der Streit so erbittert geführt? Der Einsatz ist hoch, wo geht es sonst um Leben und Tod? Aber dahinter steht auch eine politische Agenda. Es ist kein Zufall, dass die neue Frontlinie entlang der alten politischen Lagergrenze verläuft. Wer links denkt, neigt im Augenblick dazu, jede Aufweichung des Corona-Regimes für eine Gefahr zu halten. Wer eher rechts eingestellt ist, erinnert daran, dass auch ohne Corona in Deutschland gestorben wird.

Ich glaube, dass viele im Grunde nichts dagegen haben, wenn der Staat wieder mehr zu sagen hätte. Den selbstständigen Unternehmer kennt man links der Mitte ohnehin nur vom Lesen. Der einzige Selbstständige, den man hier zu seinen Bekannten zählt, ist der Lebenskünstler, der sich von Projekt zu Projekt hangelt. Das wird es im Zweifel auch weiterhin geben, dann eben staatsfinanziert.

Mit dem Geld des Staates sind Erwartungen verbunden. Wohin die Reise geht, haben dieser Tage Vertreter der Linkspartei angedeutet. Der Flugverkehr gehöre mit einem Einstieg bei der Lufthansa unter demokratische Kontrolle gebracht, die Regierung müsse künftig entscheiden, wer wohin fliegen dürfe. Auch so nimmt der Corona-Staat langsam Form an.

Einer der angenehmen Nebeneffekte der Flüchtlingskrise war das Gefühl, den Nachbarn, wenn schon nicht historisch, dann doch moralisch überlegen zu sein. Niemand sollte die Deutschen an Großzügigkeit und Fremdenliebe übertreffen können. Diesmal ist es die vergleichsweise geringe Sterbezahl, aus der das helle Deutschland sein Selbstbewusstsein bezieht. Die Bewunderung des Auslands gilt als Beweis, dass man eben doch tüchtiger, vorausschauender und disziplinierter ist als der arrogante Amerikaner oder der unzuverlässige Südländer.

So ist der tägliche Vergleich der Corona-Statistiken beides: Bestätigung des eigenen Überlegenheitsgefühls und Anlass zur Sorge, dass der Triumph schon morgen zerronnen sein könnte, wenn man die Disziplin schleifen lässt. Vielleicht erklärt das die enorme Reizbarkeit. Zur Angst vor dem Virus kommt die Furcht vor der Demütigung, am Ende als Deutscher nicht besser dazustehen als der Bruder Leichtfuß auf der anderen Seite der Alpen.

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