Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass etwas folgt. Was lernt der deutsche Hamas- Anhänger, wenn er der Regierung ins Gesicht lacht? Dass er machen kann, was er will
Der Bundeskanzler hat der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer zum Geburtstag gratuliert. Am Sonntag ist Frau Friedländer 102 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass schrieb Olaf Scholz auf Twitter beziehungsweise X, wie die Plattform jetzt heißt: „Margot Friedländer weiß um die Anfänge des barbarischen Regimes im Nationalsozialismus und was daraus folgte. Es ist ein großes Glück, dass sie heute wieder in Deutschland lebt und das ‚Nie wieder‘ mit Leben füllt.“
Keine Ahnung, welcher Trottel den Twitteraccount des Kanzlers betreut. Aber besser hätte man die Lage der Juden in Deutschland nicht zusammenfassen können: Man freut sich, dass sie da sind. Aber dafür, dass sich der Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholt, müssen sie schon selbst sorgen. Es wäre jedenfalls deutlich besser, es bliebe nicht einer Hundertjährigen überlassen, das „Nie wieder“ mit Leben zu füllen, sondern der deutsche Staat würde sich der Sache annehmen.
Die Politik überschlägt sich mit Versicherungen, dass man jeder Form des Antisemitismus entschieden entgegentreten werde, daran mangelt es nicht. Es gebe Null Toleranz für antisemitische und israelfeindliche Hetze, sagt die Innenministerin, das sei „die rote Linie“. Auch der Kanzler wiederholt unermüdlich, welche Bedeutung für ihn der Schutz jüdischen Lebens habe. Und dann? Dann ziehen am Wochenende Heerscharen enthusiastischer Hamas-Fans durch deutsche Innenstädte und zeigen, was sie von der roten Linie halten.
Man kann die Sache auch einfach laufen lassen, das ist ebenfalls eine Option. Der Aufruhr beschränkt sich bislang auf Städte, in denen der Anteil arabischstämmiger Menschen besonders groß ist – Berlin, Essen, Frankfurt, Düsseldorf. Auch in München gab es einen Umzug der Palästina-Freunde. Aber bevor jemand am Marienplatz die IS-Flagge schwenkt, muss noch einiges passieren.
Es sind auch nicht Hunderttausende, die laut rufend auf der Straße stehen. In Essen waren es 3000, in Berlin 8000. Es sieht nicht danach aus, als ob morgen schon das Kalifat anbrechen würde.
Aber es geht eine eindeutige Botschaft von den Demonstrationen aus: Wenn wir könnten, wie wir wollten, dann würden wir ganz andere Seiten aufziehen. Und auch der Adressat ist klar: Als Erstes sind die Juden dran, erst danach kommen die anderen.
Es ist ja kein Zufall, dass die Filialen von Starbucks attackiert werden. Der Starbucks-Gründer Howard Schultz ist jüdischen Glaubens, das reicht, um gegen die Scheiben zu spucken und die Gäste zu beschimpfen. Das Signal versteht jeder: Fühlt euch nicht zu sicher!
Ich bin dafür, die Dinge zu sehen und zu beschreiben, wie sie sind. Am Ende geht es um die Frage, wen wir in Deutschland halten wollen: die Juden oder die antisemitischen Troublemaker. Darauf läuft es hinaus.
Der ehemalige Justizsenator von Hamburg Till Steffen und heutige Geschäftsführer der Grünen im Bundestag hat eine Antwort gegeben, die auch meine wäre: „Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen.“ Wenn ich mich nicht täusche, denken viele Menschen in Deutschland ähnlich.
Ich habe noch keine Umfragen gesehen, wie die Deutschen zu den „Free Palestine“-Demonstrationen stehen. Aber ich vermute, wenn sie die aufgeregten jungen Männer sehen, wie sie den Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus in Berlin besteigen, um ihre Flagge zu hissen, sagen sich viele: „Mit diesen Leuten haben wir nichts zu schaffen und wollen es auch nicht.“
Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass ihnen etwas folgt. Was lernt der junge Hamas-Anhänger, wenn er beschließt, der Bundesregierung ins Gesicht zu lachen und mit Gleichgesinnten um den Block zu ziehen?
Dass sein Verstoß gegen die Ermahnungen aus Berlin für ihn und seine Kumpane nachteilige Folgen hat? Nein. Er lernt, dass er ungehindert tun und lassen kann, was er will. Egal, ob er die Taliban-Flagge schwenkt oder Starbucks-Besucher bespuckt – es bleibt bei der Ankündigung, jetzt, aber jetzt auch wirklich durchzugreifen und so etwas nicht mehr zu dulden.
Ich bin neulich auf einen Satz von Helmut Schmidt gestoßen: „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was im Rechtsstaat erlaubt ist.“ SPD-Kanzler Schmidt hat das nach dem Überfall der Befreiungskämpfer der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm gesagt.
Wir sind noch nicht wieder so weit, dass der Staat durch Geiselnahmen oder Anschläge herausgefordert wird. Bislang beschränkt sich die Drohung, den Staat aus den Angeln zu heben, auf wilde Ankündigungen.
Aber für Leute, die jüdisch sind, klingt das bedrohlich genug. Wenn die jüdische Gemeinde in München die Redaktion der „Jüdischen Allgemeinen“ darum ersucht, die Zeitung in einem neutralen Umschlag zu verschicken, damit nicht ersichtlich ist, wer die Abonnenten sind, bekommt man eine Vorstellung, wie die Stimmungslage ist.
Was also bietet sich an? Man kann das Versammlungsrecht einschränken, wenn die begründete Annahme besteht, dass aus einer Demonstration heraus Straftaten begangen werden. Man kann die Strafen für Volksverhetzung (Paragraf130 StGB) und die Billigung von Straftaten (Paragraf140 StGB) heraufsetzen. Man kann auch mal die Polizei in Marsch setzen.
Was spricht dagegen, einen Kessel zu bilden und die Demonstranten einer Personenfeststellung zuzuführen, wenn wie in Essen verbotene Symbole gezeigt werden?
Ich habe dieser Tage eine Mail von einem Polizeibeamten aus Nordrhein-Westfalen erhalten. Wo denn der Wasserwerfer sei, wenn man ihn brauche, hatte ich in einem Kommentar bei „Welt TV“ gefragt. Die Frage könne er mir gerne beantworten, schrieb er mir: „Im Carport.“ Die meisten Einsatzleiter seien der Meinung, dass Wasserwerfer nicht mehr in die Zeit passten. Ich war als Student in Hamburg bei einer Reihe linksradikaler Demos dabei. Ich kann nur sagen, dass ein Wasserwerfereinsatz eine durchaus ernüchternde Wirkung auf die Beteiligten hat.
Es gehe darum, die Trauer auf die Straße zu tragen, heißt es aus der muslimischen Community. Wenn es denn um Trauerbekundungen ginge! In Berlin zeigten Videoaufnahmen einen Mann, der mit einem selbst gebastelten „Free Palestine“-Schild zu den Demos erschienen war. Allerdings hatte er den Slogan um einen kleinen Zusatz ergänzt: „Free Palestine from Hamas“. Das reichte, um ihm den Zugang zu verwehren. Kaum waren Aktivisten seiner ansichtig geworden, schoben sie ihn rüde zur Seite.
Noch ist es zu früh, um die Parolen über die rassistische deutsche Mehrheitsgesellschaft wieder hervorzukramen. Aber es dauert nicht mehr lange, bis es so weit ist. In einer Reihe angesehener Blätter finden sich die ersten Texte, warum die eigentlichen Antisemiten nicht unter Muslimen zu finden seien, sondern unter Rechtsradikalen. Den Anfang machte die „Spiegel“-Redakteurin Özlem Topcu mit einem Leitartikel, dass die wahre Gefahr von Rechtsextremisten ausgehe.
In der „taz“, dem linken Zeitungsprojekt aus Berlin, verstieg sich ein Autor zu der These, dass Deutschland nicht deshalb ein Problem mit muslimischem Antisemitismus habe, weil wir zu großzügig bei der Einwanderung aus arabischen Ländern waren. Nein, im Gegenteil: Es gebe so viel Antisemitismus unter Muslimen, weil wir die Leute nicht schnell genug eingebürgert hätten. Judenhass als Reflex gegen eine zu restriktive Einwanderungspolitik: Das ist zumindest originell.
Die Bundesregierung will die Einbürgerung erleichtern. Der entsprechende Gesetzesentwurf wurde vom Kabinett im August auf den Weg gebracht. Vielleicht sollte man im Lichte der Ereignisse noch einmal darüber nachdenken, ob das wirklich so schlau ist. Man kann auch über einen Entzug der Staatsbürgerschaft nachdenken, sicher. Aber es ist sehr viel einfacher, jemanden den Stuhl vor die Tür zu setzen, der noch nicht im Besitz eines deutschen Passes ist.
Wie sagte Till Steffen: Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen. Wenn wir weiter nichts tun, wird’s genau andersherum kommen.
© Silke Werzinger
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