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Es lebe der Blockwart! Wie SPD und Grüne das Denunzieren als Dienst an der Demokratie verkaufen

Wer sich als Partei mit dem Staat verwechselt, der verwechselt Regierungskritik schnell mit Staatskritik. Auch die ist nach dem Grundgesetz erlaubt. Demnächst allerdings in deutlich engeren Grenzen, wenn es nach den Grünen geht

 Ende Januar lasen die Autoren Henryk M. Broder und Reinhard Mohr in Berlin aus ihrem Buch „Durchs irre Germanistan“. Das Buch, das seit Wochen auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ steht, ist ein munterer Streifzug durch die Ampel-Republik, bei dem vor allem Leute auf ihre Kosten kommen, die nicht jeden Tag ein Lichtlein für Annalena Baerbock und Robert Habeck aufstecken.

Die beiden Autoren sind geübte Vortragende, sie arbeiten nach dem Motto: Lieber einen Freund verlieren als eine gute Pointe. Die Stimmung war, trotz des traurigen Sujets, entsprechend heiter. Das Publikum, die bei solchen Gelegenheiten typische Berliner Mischung aus Alt-Achtundsechzigern, undogmatischer Linke und bürgerlicher Mitte, zeigte sich zufrieden.

Wenige Tage nach der Lesung fand sich auf dem Online-Melde-Portal „Berliner Register“ („Melde Diskriminierung und extrem rechte Aktivitäten an uns“) neben Berichten über Hakenkreuzschmierereien und ausländerfeindlichen Äußerungen folgender Eintrag:

„In der Bibliothek des Konservatismus fand eine Lesung statt, bei der das Buch Durchs irre Germanistan‘ durch die beiden Autoren vorgestellt wurde. Der Begriff ‚Germanistan‘ kann so verstanden werden, dass er durch die begriffliche Anlehnung an Namen arabischer Staaten die angebliche Rückschrittlichkeit Deutschlands verdeutlichen soll. Dies kann als rassistisch eingeordnet werden, weil arabischen Staaten eine Rückständigkeit zugeschrieben und auf Deutschland übertragen wird.“

In der Lesung seien zudem auf satirische Weise feministische Themen wie das Gendern und das Selbstbestimmungsgesetz ins Lächerliche gezogen worden. „Geschlechtergerechte Sprache wurde als Ausdruck von Kleingeist und Konformität dargestellt. Beispielsweise wurde einem Radiomoderator, der einem der Autoren durch seine geschlechtergerechte Ausdrucksweise aufgefallen war, unterstellt, hätte er im Nationalsozialismus gelebt, hätte er auch mit ‚Heil Hitler‘ unterschrieben. Diese Analogie kann zudem als NS-verharmlosend interpretiert werden.“

Rassistisch, frauenfeindlich und zudem noch nah an der Verharmlosung des Dritten Reichs: Viel mehr geht eigentlich nicht. Ich habe Reinhard Mohr sofort angerufen. Ihn plagte eine furchtbare Erkältung, als wir sprachen, aber ansonsten schien er unverändert guter Dinge. Für alles gäbe es eine Premiere, sagte er, auch für anonyme Anschwärzung. „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich jetzt denunziert worden, dabei stammen sämtliche inkriminierten Stellen aus einem im Handel frei erhältlichen Buch. Man sieht, wie sich der Geist des Blockwarts über alle Zeitenwenden hinweg erhalten hat.“

Broder und Mohr sind alte Hasen. Die Zwei wirft so schnell nichts aus der Bahn, schon gar nicht die Nennung bei einer Berliner Meldestelle. Jüngere Autoren sind da allerdings möglicherweise nicht so hart gesotten. Man weiß ja, wie das geht: Erst steht man prominent im Netz, dann heißt es: „Können wir den noch einladen? Der verbreitet angeblich antifeministische Texte.“ Dann ist man plötzlich ein umstrittener Autor. Und die Zeiten, als „umstritten“ ein Ehrenzeichen waren, sind definitiv vorbei. Wenn heute etwas die intellektuelle Szene in Deutschland auszeichnet, dann das Bedürfnis, nicht anzuecken.

Das „Berliner Register“ ist das jüngste Beispiel für eine neue Private-Public-Partnership, die sich unter Schirmherrschaft von SPD und Grünen entwickelt hat. Private Betreiber übernehmen das Handling (in dem Fall der sozialistische Jugendverband Die Falken), die Finanzierung kommt vom Staat. Bis zu einer Million Euro erhält das „Berliner Register“ jährlich an Fördergeldern von der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales. Darüber hinaus gibt es Zuwendungen durch eine Reihe von Bezirksämtern. Das stellt die ganze Veranstaltung nicht nur auf eine solide ökonomische Basis, sondern verleiht den als „Vorfällen“ deklarierten Meldungen doch gleich mehr Gewicht.

Wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit? Bislang galt hier Artikel 5 Grundgesetz, wonach jeder frei ist, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußern. Einschränkendes regelten die Gesetze zum Persönlichkeitsschutz sowie spezielle Strafnormen (keine Volksverhetzung, kein Gewaltaufruf!). Wo beides kollidiert, die Meinungsfreiheit und das Strafrecht, legte das Verfassungsgericht fest, dass bei mehrdeutigen Aussagen immer der Deutung Vorrang zu gewähren sei, die eine Strafbarkeit ausschließe.

Das möchte die Bundesregierung so nicht mehr stehen lassen. Es soll nun das Gegenteil gelten: im Zweifel gegen den Angeklagten. „Viele Feinde der Demokratie wissen ganz genau, was gerade noch so unter Meinungsfreiheit fällt“, verkündete Bundesfamilienministerin Lisa Paus im Februar auf einer Pressekonferenz zum Thema „Hass im Netz“. Hass komme auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vor, dem Umstand wolle man Rechnung tragen.

Die Antwort heißt: „Gesetz zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung“. Aus Sicht der Regierung braucht es nicht nur neue Instrumente wie Meldeportale, bei denen man als aufmerksamer Bürger dann antifeministisches, transfeindliches und überhaupt diskriminierendes Verhalten anzeigen kann. Es braucht auch neue Kategorien, wenn man Delikte unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erfassen will.

Statt von der Meinungsfreiheit ist nun von mentalen und verbalen Grenzverschiebungen die Rede, die es in den Blick zu nehmen gelte. Der Chef des Bundesverfassungsschutzes spricht von „Denk- und Sprachmustern“, die sich nicht in der Sprache einnisten dürften. Seine Behörde hat im Jahresbericht vorsorglich eine neue Rubrik eingeführt: „Delegitimierung des Staates“, lautet diese.

Wie man sich der Delegitimierung verdächtig macht? Indem man zum Beispiel die politischen Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels infrage stellt und damit Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates untergräbt. So steht es da wörtlich drin.

Wer wäre nicht gegen Hass? Ich war vergangene Woche zu Gast in der „Münchner Runde“ beim Bayerischen Rundfunk. Mir gegenüber saß Katharina Schulze von den Grünen. Schulze berichtete, welche Mails sie erreichen. Von wüsten Beschimpfungen bis zu Vergewaltigungsandrohungen ist alles dabei. Sie würde gerne sagen, dass sie das völlig kalt ließe, sagte sie, aber das wäre gelogen.

Auch mich erreichen regelmäßig Beleidigungen. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich mich schon im Kofferraum eines Autos wiederfand. Aber das, was auf Frauen einprasselt, hat noch einmal eine ganz andere Qualität. Fast immer geht es ums Aussehen, häufig wird es schlüpfrig oder freiheraus ekelhaft. Da muss man schon aus sehr hartem Holz geschnitzt sein, um davon unbeeindruckt zu bleiben.

Die Sache ist nur: Für all das gibt es bereits Gesetze. Beleidigung ist ebenso strafbar wie jede Form der Gewaltandrohung. Wenn derlei ungeahndet bleibt, dann nicht, weil es an entsprechenden Vorschriften fehlt, sondern an Personal oder Willen, diese durchzusetzen. Das kann also nicht der Grund für die neue Initiative sein.

Das Ganze hat auch einen monetären Aspekt, den sollte man nicht außer Acht lassen. Was unter dem klangvollen Namen „Demokratiefördergesetz“ läuft, ist ein großes Subventionsverstetigungsinstrument. Renate Künast hat das in schöner Deutlichkeit gesagt, als sie im Bundestag klagte, wie leid sie es sei, dass Antifa-Gruppen jedes Jahr von Neuem Projektgelder beantragen müssten. In Zukunft soll die Finanzierung dauerhaft gelten, damit auch die Antifa Planungssicherheit hat. Das ist das Versprechen an die Basis.

Im Zuge der Flick-Affäre, dem ersten großen Spendenskandal der Republik, tauchte der Begriff der „Pflege der politischen Landschaft“ auf. So bezeichneten die Vertreter des Flick-Konzerns die Zuwendungen an Politiker, die sie als Verbündete betrachteten. Das Demokratiefördergesetz ist die grüne Form der Landschaftspflege.

182 Millionen Euro hat das von Lisa Paus geführte Familienministerium unter dem Fördertitel „Demokratie leben“ 2023 ausgeschüttet, dieses Jahr sind es, trotz Haushaltssorgen, knapp 200 Millionen Euro. Das ist eine Stange Geld. Damit kann man viele Leute, die einem nicht passen, zu Demokratiefeinden erklären.

© Michael Szyszka

Der Hasardeur

Viele denken, das Haushaltsdebakel der Regierung sei ein Versehen. Aber was, wenn der Verfassungsbruch einem Muster folgt? Wenn Olaf Scholz in Wahrheit ein Mann ist, der enorme Risiken eingeht, weil er sich für überlegen hält?

 Vielleicht haben wir uns alle in Olaf Scholz getäuscht. Vielleicht ist er gar nicht der, der er zu sein vorgibt.

Die Scholz-Erzählung geht so: Junge aus ordentlichen Verhältnissen beschließt mit zwölf Jahren Bundeskanzler zu werden, wird nicht ernst genommen und erreicht dann zur Überraschung aller dank Hartnäckigkeit sein Ziel.

Andere mögen besser aussehen oder charismatischer sein oder eloquenter. Aber im Gegensatz zu den Blendern und Aufschneidern in der Politik ist auf ihn Verlass: Das ist das Bild, das Scholz von sich zeichnet. So verbreiten es seine Leute.

Dazu passt das Äußere. Die Anzüge, nicht zu modisch, aber auch nicht zu billig. Die Aktentasche von Bree, die noch aus der Referendariatszeit stammt. Und natürlich der rasierte Kopf. Vielen verleiht der kahle Schädel etwas latent Bedrohliches, bei Scholz signalisiert die Glatze nur: wieder Geld für den Friseur gespart. Gegen Scholz wirkt sogar ein Glas Wasser aufregend. Wenn er die Augenbraue verzieht, gilt das schon als Sensation.

Aber was, wenn das alles nicht stimmt? Wenn sich hinter der demonstrativen Biederkeit ein Trickser und Täuscher verbirgt, der immer wieder ans Limit geht und darüber hinaus?

Anruf bei Fabio De Masi, dem Mann, der seit Langem der Meinung ist, dass Scholz nicht der ist, für den ihn die meisten halten. Dreimal saß De Masi dem Bundeskanzler gegenüber. Dreimal ging es um die Frage, ob man Olaf Scholz trauen kann.

Vor drei Monaten hat der Finanzexperte Strafanzeige gegen den Kanzler gestellt, wegen Falschaussage im sogenannten Cum-Ex-Skandal. Falschaussage ist keine Kleinigkeit. Bei Verurteilung drohen bis zu fünf Jahren Gefängnis.

Nun gut, lässt sich einwenden: Einer von der Linkspartei, was soll man da schon erwarten? Aber erstens gehörte De Masi nie zu den Ideologen, weshalb er seine Partei vergangenes Jahr auch verlassen hat. Und zweitens bescheinigen ihm selbst seine Gegner einen ausgeprägten detektivischen Scharfsinn.

Ich habe die Cum-Ex-Geschichte nie ernst genommen. Ein Skandal, den man nicht in zwei Sätzen erklären kann, ist in der Politik keiner. Bei Cum-Ex ist ja nicht mal klar, wie man es korrekt ausspricht, geschweige denn, was es bedeutet. Deshalb ist die Sache über die Wirtschaftsteile der Zeitungen auch kaum hinausgekommen.

Aber ein Kanzler, der lügt, das versteht jedes Kind. Dazu muss man keine Ahnung von den Windungen des Steuerrechts haben. Richtig erzählt ist es ein Krimi.

Die Geschichte beginnt wie viele Affären ganz klein, mit einer Anfrage der Linkspartei-Fraktion an den Senat der Hansestadt Hamburg. In Hamburg geht das Gerücht um, der Warburg-Banker Christian Olearius habe bei Steuerproblemen Schützenhilfe von oben erhalten. Gab es in der Sache Gespräche von Olearius mit Mitgliedern der Stadtregierung, insbesondere dem langjährigen Bürgermeister Olaf Scholz? Das ist die Frage der Abgeordneten.

Die Frage ist nicht nur politisch brisant. Ein Bürgermeister, der Einfluss auf ein Steuerverfahren nimmt, macht sich möglicherweise der Beihilfe zur Steuerhinterziehung schuldig. Das wäre der strafrechtliche Aspekt.

Die Antwort des Senats fällt eindeutig aus. Es habe keine Treffen gegeben, weder mit Scholz noch mit anderen Mitgliedern des Senats. Aber wie das manchmal so ist in der Politik: Was als letztes Wort gedacht war, ist der Anfang einer viel größeren Sache. Bei einer Hausdurchsuchung fällt der Staatsanwaltschaft ein Tagebuch des Warburg-Bankers in die Hände. Und was findet sich dort? Ein länglicher Eintrag über ein Treffen mit Scholz in dessen Amtszimmer am 10. November 2017.

Wie kann das sein? Das fragt sich auch De Masi, der für die Linke zu diesem Zeitpunkt im Bundestag sitzt. Also kommt es zur ersten Begegnung im Finanzausschuss des Parlaments, die Presse hat inzwischen ebenfalls Witterung aufgenommen. Ja, sagt Scholz bei diesem Auftritt, er habe Olearius getroffen, aber das sei ein völlig normaler Vorgang. Und, gab es weitere Treffen?, fragt de Masi. Nichts, was über das hinausgehe, was man bereits der Presse habe entnehmen können, antwortet Scholz.

Auch das lässt sich nicht lange halten. In dem vermaledeiten Tagebuch finden sich zwei weitere Begegnungen, eine im September und eine im Oktober 2016. Wieder wird Scholz vor den Finanzausschuss zitiert. Er habe sich lediglich die Sicht der Dinge von Christian Olearius angehört, gibt Scholz dieses Mal zu Protokoll. Er sei in solchen Fragen ausgesprochen vorsichtig, er stelle höchstens Nachfragen und nehme keinen Standpunkt ein.

Scholz hat zu diesem Zeitpunkt noch eine relativ genaue Erinnerung an den Ablauf des Gesprächs, wie man sieht. Von Erinnerungslücken ist keine Rede. Die kommen erst sieben Monate später, als er vor einem Untersuchungsausschuss in Hamburg aussagen muss. Da kann er sich plötzlich an nichts mehr erinnern, weder an die Treffen, noch an den Inhalt derselben.

Nicht mal sein Auftritt vor dem Finanzausschuss des Bundestags ist ihm plötzlich erinnerlich. „Konkret an die Sitzung des Ausschusses und seinen Verlauf kann ich mich nicht erinnern“, sagt der Mann, der bei anderer Gelegenheit selbst die Umstände eines 40 Jahre zurückliegenden Besuchs im Freibad Rahlstedt-Großlohe abrufen kann.

Bleibt die Frage, warum die Senatskanzlei ursprünglich erklärte, es habe nie ein Treffen gegeben, wenn es in Wahrheit sogar drei Treffen gab. Antwort des Scholz-Sprechers Steffen Hebestreit auf eine entsprechende Anfrage des „Hamburger Abendblatts“: Dass Scholz sich mit Olearius getroffen habe, gehe aus dem Kalender des Ersten Bürgermeisters hervor, der auch der Senatskanzlei vorgelegen haben müsste. „Wieso dies bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage nicht berücksichtigt worden ist, entzieht sich unserer Kenntnis.“

Ab jetzt wird es erst absurd und dann lächerlich. Ein Sprecher des Senats sagt, man habe im Büro Scholz nachgefragt, wie es sich denn mit den Terminen verhalten habe, aber keine Antwort erhalten. Und den Kalendereintrag, auf den sich Hebestreit in seiner Antwort an das „Hamburger Abendblatt” bezieht, den gibt es gar nicht. So sagt es jedenfalls Scholz bei seiner Befragung in Hamburg aus.

Huch, kein Eintrag? Ja, heißt es nun, der Termin sei im Outlook-Kalender leider nicht vermerkt. Als Scholz als Finanzminister nach Berlin gewechselt sei, habe es bei der Überspielung der Daten ein technisches Problem gegeben. Deshalb seien einige Termine im Kalender versehentlich überschrieben worden, darunter auch der vom 10. November 2017. Wo eigentlich das Treffen mit Olearius hätte stehen müssen, klaffe ein Loch.

Genau hier setzt die Strafanzeige an. Wenn es nicht einmal eine schriftliche Spur in Form eines Termineintrags gibt – wie kann Scholz dann bei seiner ersten Befragung einen Termin bestätigen, an den er, wie er anschließend vor dem Untersuchungsausschuss in Hamburg ausführt, keinerlei Erinnerung besitzt? Hat er die ursprüngliche Erinnerung an den angeblich nicht existenten Termineintrag also erfunden? Das ist denklogisch unmöglich, wie De Masi zu Recht folgert.

Bleibt nur die Erklärung, dass dem Kanzler, der sich bei anderer Gelegenheit mühelos an Schwimmbadbesuche im Jahr 1983 erinnern kann, das Gespräch mit dem bedrängten Banker in seinem Büro sehr wohl bis heute präsent ist, er also die Erinnerungslücken nur vortäuscht. Das allerdings wäre nach Strafgesetzbuch Paragraf 153 strafbar.

Ein Kollege, der Scholz neulich in kleinem Kreis erlebte, schilderte einen Mann, der auf seltsame Weise mit sich zufrieden scheint, so als habe er an dem Tag, als er Kanzler wurde, alles erreicht. Das wäre eine Pointe: Ein Bundeskanzler, dem es völlig egal ist, was jetzt noch kommt, weil sich sein Lebenstraum bereits erfüllt hat.

Der ehemalige Abgeordnete De Masi beschreibt Scholz als einen Zocker, der bereit ist, große Risiken einzugehen, weil er sich allen überlegen fühlt und deshalb glaubt, auch mit allem durchzukommen.

Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was beim mächtigsten Mann im Land bedenklicher ist.

© Silke Werzinger

Die letzten Tage von Sylt

Auf der Ferieninsel fürchten sie den Untergang, seit Aktivisten dazu aufgerufen haben, mit dem Neun-Euro-Ticket die Insel zu stürmen. Aber Hand aufs Herz: Wäre ein Ende von Sylt wirklich so schlimm?

Einmal war ich in List zu einem Vortrag. Der Veranstalter hatte für mich ein Zimmer im „Hotel Arosa“ gebucht. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man das Meer. Das Meer war weit weg, weil das Watt dazwischenlag. Aber wenn man sich anstrengte, sah man es.

Christian Wulff war mit mir auf Sylt. Das habe ich allerdings erst erfahren, als er schon wieder zu Hause war. Für ihn ist der Besuch nicht so gut verlaufen. Er hatte sich mit seiner Frau in einem Hotel in Westerland eingemietet. Wenn ich die Wahl hätte zwischen Westerland und List, würde ich immer List wählen. Westerland ist gewissermaßen das Bottrop von Sylt. Trotzdem gab es Ärger.

Ein Freund hatte die Buchung vorgenommen und später auch die Rechnung beglichen. Wulff sagte dazu, er habe dem Freund das Geld in bar zurückgegeben. Aber das glaubte ihm niemand. Die Geschichte stand dann groß in allen Zeitungen. Wenn der Bundespräsident sein Portemonnaie vergisst, ist das ein gefundenes Fressen, auch wenn es nur für Westerland reicht.

Glaubt man den Sylt-Fans, ist Sylt das Paradies auf Erden. Deshalb wollen auch alle hin, wie es heißt, angefangen vom Bundespräsidenten, was wiederum die Immobilienpreise in Höhen getrieben hat, die selbst Leute, die in Starnberg am See wohnen, beim Erstgespräch mit dem Makler erblassen lässt.

Jetzt haben die Leute auf Sylt Angst. Nicht vor sinkenden Preisen, sondern vor dem Neun-Euro-Volk, das sich angekündigt hat. Seit Wochen trommeln Aktivisten, die Insel zu stürmen. Sieben Millionen Menschen haben das Billigticket bereits in der Tasche.

Ich habe nicht ganz verstanden, warum es das Neun-Euro-Ticket braucht, um Sylt heimzusuchen. So schlecht verdienen sie in den linken Kreisen nun auch nicht, dass man für eine Reise an die Nordsee auf verbilligte Bahnfahrten angewiesen wäre. Selbst bei der Antifa, die geregelte Beschäftigung nur dem Wort nach kennt, kommen die meisten mit staatlichen Subsidien und etwas Schwarzarbeit gut über die Runden.

Außerdem sind Schnellverbindungen beim Billigticket ausgeschlossen. Und mit dem Bummelzug kam man auch bislang schon relativ günstig nach Sylt. Dennoch ist in der „Süddeutschen Zeitung“ bereits ein Nachruf auf die Insel erschienen, eine melancholische Rückschau auf Uwe-Düne und Rotes Kliff, bevor der Mob alles niedertrampelt.

Ich habe die Sylt-Begeisterung nie teilen können. Manche sagen: Sylt sei die Hamptons Deutschlands. Der Vergleich stimmt – in dem Sinne, wie Bottrop das Paris des Ruhrpotts ist oder Chemnitz das Shanghai Ostdeutschlands.

Ich habe vier Jahre lang in New York gelebt, also gleich um die Ecke der Hamptons. Ich war beeindruckt, wie zurückgenommen und Low-key ein Ort sein kann, der sich als Rückzugsgebiet gestresster Wall-Street-Banker einen Namen gemacht hat. Auf Sylt ist es genau umgekehrt: Man wird aufs Geld gestoßen, wo man hinschaut.

Weil die Bauvorschriften kaum Neubauten zulassen, sehen die Reetdächer über den Butzenscheiben so aus, als sei jeder Halm einzeln gerupft, gezupft und gestriegelt worden. Ich glaube, wenn sie könnten, würden sie für den Ferrari auch noch eine unterirdische Reetdachgarage bauen. Und für den Hund ein Reetdachkuschelzimmer. Wobei, wer weiß, vielleicht gibt es das ja längst.

Sylt ist so lässig wie eine 60-Jährige, die partout wie 40 aussehen will. Zu viel Chirurgie, zu viel Filler, zu viel Anstrengung. Eigentlich ein Wunder, dass die Insel bei den Russen nicht beliebter war, als die noch reisen konnten. Ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass man im Watt nur bedingt mit einer Megajacht navigieren kann

Wettermäßig sollte man nicht zu viel erwarten. Man kann Glück haben, dann scheint die Sonne. Aber es hat seinen Grund, weshalb überall Strandkörbe herumstehen, die einen vor den Launen der Witterung schützen. Als ich dort war, war es Mai und lausig kalt. Dafür schwärmten sie unentwegt von der Champagnerluft, die Sylt angeblich so einzigartig macht.

Dieses zwanghafte Gutfinden drückt sich auch kulinarisch aus. An der berühmten „Sansibar“ ist vor allem bemerkenswert, dass man monatelang im Voraus buchen muss, um einen Platz zu ergattern. Der andere Großgastronom ist der Fischhändler Gosch. Dass man es mit pappigen Aufbackbrötchen, in die man ein paar zu Tode gesottene Scampi gequetscht hat, zum Inbegriff der Küstengastronomie bringen kann, ist zweifellos bewundernswert. Mit Küche hat das allerdings nichts zu tun.

Sylt ist der Beweis, dass Geld und guter Geschmack nicht notwendigerweise Hand in Hand gehen. Es gab andere Zeiten, als die kulturelle High Society aus Hamburg die Insel als Sommerfrische entdeckte – Augstein, Nannen, der große Fritz J. Raddatz. Für ein paar Jahre mischte sich sogar Gunter Sachs mit seiner Entourage unters Partyvolk. Aber das ist lange her.

Heute ist Sylt fest in der Hand der Zahnarztmillionärin aus Wuppertal oder Wanne-Eickel, die es für wahnsinnig fancy hält, wenn man sich eine Sauna zum Trocknen der Kaschmirpullover einbauen lässt und das auch allen auf die Nase bindet. Kurz: Es ist der ideale Ort für Menschen, die an Zwangsstörungen leiden. Sie fühlen sich nicht so alleine.

Was uns zu der Frage bringt, ob reiche Menschen die glücklicheren Menschen sind. Die meisten vermuten automatisch, dass Geld die Stimmung hebt, daher auch der Neid, den Reichtum bei den weniger Begüterten auslöst. Dass Geld glücklich macht, stimmt, allerdings nur zu einem gewissen Grade. Wenn man aller Geldsorgen enthoben ist, steigert das zunächst nachweisbar das Wohlbefinden. Danach aber beginnt ein Reichsein, wo es faktisch egal ist, ob man nun zehn Millionen oder zehn Milliarden besitzt.

Der Mensch vergleicht sich mit anderen, das liegt in seinem Wesen. Es gibt immer einen, dessen Haus größer, dessen Jacht länger und dessen Auto schneller ist. Nicht einmal Elon Musk ist davon frei. Im Zweifel hat Jeff Bezos gerade die fettere Schlagzeile und Bill Gates die wohlwollenderen Kritiken.

Die wirklich reichen Leuten sind ohnehin nicht auf Sylt. Wer so viel Geld besitzt, dass es für mehrere Leben reicht, hat es in der Regel nicht nötig, damit anzugeben. Außerdem sind viele Megareiche nicht für den Müßiggang gemacht, deshalb sind sie ja so reich. Im „Spiegel“ habe ich ein Porträt des Unternehmers Michael Kühne gelesen, der es mit Logistik zu einem der reichsten Männer Deutschlands gebracht hat. Der Mann ist 85 Jahre alt, aber bis heute beginnt der Tag um sechs Uhr morgens. Es folgen Sitzungen, Telefonate, ein endloser Strom von Mails. Ich bezweifle, dass einer wie Kühne einen Fuß nach Sylt setzt. Ihm wäre es dort zu fad.

Der eigentliche Reiz von Sylt sei, dass man unter sich sei, sagt der Makler Eric Weißmann. Das leuchtet ein. Über die Probleme mit dem Parken des Bootes spricht es sich einfacher mit Menschen, die ebenfalls darunter leiden, dass die Liegeplätze so knapp geworden sind. Andererseits stelle ich es mir grauenhaft langweilig vor, immer dieselben Gespräche führen zu müssen.

Ich habe einmal mit Gloria von Thurn und Taxis über ihr früheres Jetset-Leben gesprochen. Am Anfang sei es ganz lustig gewesen, sagte sie. Aber dann habe es ihr furchtbar zum Hals herausgehangen: immer die gleichen Orte, immer die gleichen Gesichter, immer die gleichen Themen. Weshalb sie sich bald ausklinkte und ihr Leben fortan der Familie und der Sicherung des Unternehmens widmete.

Der kurioseste Aspekt am Sylt-Erstürmungsaufruf der Neun-Euro-Aktivisten ist sicher, dass hier Leute über andere die Nase rümpfen, die in ihrer Welt mindestens genauso penibel darauf achten, dass man schön unter sich bleibt. Hier reicht schon die falsche Haartracht und man ist rausgefallen.

Schon deshalb wäre ich für einen Sturm auf Sylt. Das könnte lehrreich für beide Seiten sein. Der Kontakt mit fremden Kulturen soll einem ja manchmal die Augen öffnen.

©Sören Kunz