Schlagwort: Impfung

Zero Covid Forever

Wurde uns nicht China eben noch als Labor der Moderne angepriesen? Und nun? Nun stecken sie Teststäbchen in Lachse und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt

Ich bin in meinem Leben in vielen Ländern der Welt gewesen. Ich gehöre zu einer Generation, die noch ohne schlechtes Gewissen fliegen durfte. Eigentlich hat es mir überall gut gefallen.

Ich war auch einmal in China. Ich war bei einem Staatsbesuch dort, als Mitglied der journalistischen Entourage des Bundespräsidenten.

Touristisch gesehen lässt sich nichts aussetzen. Das Land hat atemberaubende Landschaften zu bieten. Die Verbotene Stadt gehört zu den architektonischen Wunderwerken, die man gesehen haben muss. Shanghai ist eine Megalopolis, die so schnell ihr Gesicht ändert, dass alle sechs Monate der Stadtplan überholt ist.

In Peking waren wir zu einem Staatsbankett eingeladen. Wir saßen an 12er-Tischen. Mein Sitznachbar zur Rechten war irgendein hohes Tier im Staatsapparat, mein Nachbar zur Linken machte was mit Finanzen.

Wenn Sie jemals eine Einladung zu einem Staatsdinner erhalten sollten, überlegen Sie es sich gut, ob Sie teilnehmen wollen. Es ist in der Regel eine sterbenslangweilige Veranstaltung. Das lässt man sich natürlich nicht anmerken. Schließlich ist man ja nicht als Privatperson eingeladen, sondern als Vertreter seines Landes. Also versucht man, einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Ich bemühte mich auf Englisch, ein Gespräch ins Laufen zu bringen. Aber da war ich erkennbar an die Falschen geraten. Der Chinese zu meiner Rechten tippte die ganze Zeit ungerührt in sein Handy, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Der Nachbar zur Linken drehte mir den Rücken zu und telefonierte ungezwungen, während er gleichzeitig seine Suppe schlürfte. Der einzige Trost war: Meinen Mitreisenden erging es nicht besser, wie mir ein Blick über die anderen Tische sagte.

Ich muss zugeben, diese Erfahrung hat mein Bild von China als Kulturland ein wenig getrübt. Ich bin überzeugt, es gibt auch ganz reizende, bescheidene Chinesen, die wissen, wie man sich Fremden gegenüber so benimmt, dass sie nicht das Gefühl haben, Gastfreundschaft sei ein Schimpfwort. Ich habe sie nur nicht kennengelernt.

Das Irre an den Chinesen ist: Sie halten sich für die Krone der Schöpfung. Ich glaube, es gibt kein Volk, das so von sich eingenommen ist wie das chinesische. Jeder, der nicht so ist wie sie, gilt als Mensch zweiter Klasse – wenn’s hochkommt. Ich hätte gedacht, bei einer Nation, der man mühsam abgewöhnen muss, nicht bei jeder Gelegenheit auf den Boden zu spucken, sei zivilisatorisch noch Luft nach oben, wie es so schön heißt. Aber das ist vermutlich diese typische europäische Hochnäsigkeit.

Warum diese kleine Vorrede? Weil ich seit Wochen in den Zeitungen Berichte finde, wie sie in Shanghai einen Lockdown nach dem anderen verhängen. Auch in Peking fürchten die Bürger eine neue Ausgangssperre.

Niemand darf die Wohnung verlassen, nicht einmal für den Gang mit dem Hund. Durch die Straßen patrouillieren Roboter, die die Menschen ermahnen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Sie hungern. Seit Bewohner in Shanghai auf ihren Balkon traten, um ihre Verzweiflung herauszuschreien, ist auch das Betreten des Balkons verboten. Wer dabei erwischt wird, wie er das Balkonfenster öffnet, muss mit ernsten Konsequenzen rechnen.

Noch schlimmer dran sind nur diejenigen, die das Unglück haben, in einem der Quarantänezentren zu landen. Die hygienischen Bedingungen in den Lagern sind so katastrophal, dass man sich garantiert ansteckt, wenn nicht mit Covid, dann mit einer anderen schrecklichen Krankheit. Es gibt Berichte über alte Menschen, die sie nachts aus ihren Betten zerren, um sie abzusondern. Kinder werden von ihren Eltern getrennt, Babys von ihren Müttern. Niemand ist mehr sicher.

Ich lese die Berichte aus Shanghai mit einer Mischung aus Faszination und Grusel. Wurde uns nicht China bis eben noch als Mekka der Hochtechnologie angepriesen? Als das Land, in dem alles zehnmal so schnell geht wie bei uns? Als Zukunftslabor des Kapitalismus und Leuchtturm der Moderne? Und nun stecken sie Teststäbchen in Lachse, weil das Virus angeblich über norwegische Lachsbestände eingeschleppt wurde, und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt. Ich habe mir die Moderne anders vorgestellt.

Überall in der Welt beginnt das Leben wieder normal zu laufen, nur in China nicht. Warum? Weil den Chinesen der Nationalstolz verbietet, sich mit einem Impfstoff impfen zu lassen, der funktioniert. Es gibt einen chinesischen Impfstoff, doch der taugt nichts gegen Omikron. Es ist halt eine Sache, Adidas-Sneaker oder Kettensägen von Stihl zu kopieren, und eine ganz andere, einen mRNA-Impfstoff abzukupfern. Mit Biontech gibt es einen Vertrag über die Lieferung von 100 Millionen Impfdosen, aber es fehlt die Zulassung, weil die Staatsführung den Einsatz als Eingeständnis der Schwäche sieht. Also bleibt nur der Dauerlockdown. Zero Covid Forever.

Ich habe nie verstanden, wie man es in China aushalten kann. Diese Mischung aus Crony-Kapitalismus, Kontrollsucht und unverstellter Aggressivität würde mich in den Wahnsinn treiben. Aber ich bin vielen Leuten begegnet, die von China schwärmten. Die Geschwindigkeit, sagten sie, die Effizienz! Von Asien lernen hieße Siegen lernen.

Das galt auch lange für Corona. Erinnern Sie sich noch, vor zwei Jahren, als bei uns in den Talkshows lauter junge Frauen mit asiatischem Migrationshintergrund saßen, die uns genau erklären konnten, was sie weit im Osten alles besser machen würden als wir? Es ist um die No-Covid-Freunde erkennbar stiller geworden.

Ein ganz großer China-Fan war Angela Merkel. Sie bekam leuchtende Augen, wenn sie von ihren Besuchen bei Xi Jinping sprach. Kein Kanzler hat die Volksrepublik so oft besucht wie sie. Zwölfmal war sie in ihrer Amtszeit dort. Ich glaube, sie bewunderte Xi Jinping insgeheim dafür, wie er das Land regierte. Einmal so durchregieren können wie er, ohne dummerhafte Reinquatschereien von der Seite, das wäre auch ihr Traum gewesen. Man würde gerne wissen, wie sie das heute sieht. Aber sie ist ja verschwunden.

Vielleicht sollten wir in Zukunft genauer hinsehen, von wem wir uns wirtschaftlich abhängig machen. Ich bin nicht dafür, sich abzuschotten oder die Globalisierung zurückzudrehen, ganz und gar nicht. Aber es wäre doch schön, wir würden nicht den Fehler wiederholen, den wir mit Russland gemacht haben. Wer 1,5 Millionen Menschen in Umerziehungslager steckt, nur weil sie einer Religionsgemeinschaft angehören, der sie an der Staatsspitze misstrauen, dem ist alles zuzutrauen, auch im Bösen.

Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping hat vor einem Jahr über den Kampf gegen Covid-19 gesagt: „Beurteilt danach, wie die Pandemie von unterschiedlichen Regierungen und politischen Systemen gehandhabt worden ist, können wir klar sehen, wer besser ist.“ Da sah es noch so aus, als würde China als Musterland durch die Krise kommen.

Xi Jinping will im Herbst wiedergewählt werden. Dafür hat er extra die Verfassung ändern lassen. Er ist dann noch länger an der Macht als Mao. Ich sehe keinen Grund, ihm zu widersprechen. „Beurteilt nach den Ergebnissen…“: klar, warum nicht?

©Sören Kunz

„Beendet diesen Irrsinn endlich!“

Wir erleben eine neue Spaltung der Gesellschaft: dieses Mal nicht in Impfgegner und Impfbefürworter, sondern in Menschen, die ein Ende der Corona-Maßnahmen herbeisehnen, und andere, die sich genau davor fürchten

Es gibt ein neues politisches Kampfwort. Das Wort lautet „Durchseuchung“. Es ist ein böses, ein eisiges Wort. Man begegnet ihm auf Schritt und Tritt bei Menschen, die es unmöglich finden, dass trotz steigender Infektionszahlen alles weiter offen gehalten wird, insbesondere die Schulen und Kindergärten.

Sie könnten auch vom Lauf der Pandemie sprechen oder einfach sagen, dass das Virus gerade unter Kindern und Jugendlichen besonders grassiert. Aber das würde nicht so dramatisch klingen. Außerdem will man ja zu verstehen geben, dass die Regierung dahintersteckt.

Das ist die Idee bei dem Wort: dass es einen Plan der Mächtigen gibt, Minderjährige systematisch dem Virus auszusetzen, damit irgendwann alle infiziert sind und man zur Tagesordnung übergehen kann. Gewissermaßen die Virenchip-Theorie von links: Was dem Querdenker der Gates-Plan ist, wonach wir alle durch das Virus zu Befehlsempfängern der Wirtschaft gemacht werden sollen, das ist dem No-Covid-Anhänger die Durchseuchungsstrategie.

Sie denken, ich sauge mir das aus den Fingern? Das ist Originalton Jan Böhmermann, also Verschwörungstheorie mit ZDF-Siegel: „Die Wirtschaft verlangt, dass Eltern ihre Kinder in Schulen und Kindergärten stecken wollen. Husti, husti, auf geht’s Kids! Husti, husti.“

Meine Tochter hat im Januar das Virus aus der Kita nach Hause gebracht. Sie war einen Tag so schlapp, dass sie auf mir einschlief. Der PCR-Test fiel negativ aus. Das müsse nichts bedeuten, erklärte mir die Kinderärztin: Das Zeitfenster, in dem man das Virus bei Kindern nachweisen könne, sei eng.

Bei meiner anderen Tochter, zehn Monate alt, war dann auch der PCR-Test positiv. Sie hatte zwei Tage hohes Fieber, anschließend ging es wieder aufwärts. Beim Sohn wissen wir nicht, ob er sich angesteckt hat. Er zeigte keine Symptome. Aber ich gehe inzwischen fast davon aus, dass er die Krankheit hatte. Hat einer in der Familie Omikron, haben es in der Regel alle.

Ich will nicht so weit gehen wie Böhmermann, der Kinder mit Ratten verglich. Aber in dem Punkt hat er recht: Wer kleine Kinder hat, der entkommt dem Virus nicht. Entweder es erwischt einen über den Kindergarten oder über die Schule.

Ich beruhige mich damit, dass das Risiko, als Geimpfter ernsthaft zu erkranken, verschwindend gering ist. Bei Kindern liegt die Hospitalisierungsrate selbst ohne Impfung nahe null. Aber vielleicht nehme ich die Sache zu sehr auf die leichte Schulter.

In der „FAZ“ stand vor wenigen Tagen der Erlebnisbericht einer Mutter, die schilderte, wie sie den Glauben an Karl Lauterbach verlor. Sie habe gedacht, mit Lauterbach als Gesundheitsminister sei sie geschützt, der passe gut auf die Menschen auf. Dann steckte sich die ganze Familie mit Corona an.

„Ich sitze auf dem Rand der Badewanne und weine hemmungslos“, so begann der Bericht. Es folgte eine detaillierte Schilderung des häuslichen Elends: der Mann mit Glieder- und Halsschmerzen auf der Schlafcouch im Keller, Küche und Wohnzimmer ein einziges Chaos. Früher hätte man gesagt: Gott, wie’s halt aussieht, wenn einen die Grippe niederstreckt. Aber so darf man das nicht mehr sehen.

Dies ist ein Eintrag, den der Privatdozent Raphael Berger von der Uni Salzburg am 6. Februar im Netz hinterließ: „Wir haben jetzt mit meiner Teenagertochter den ersten Covid-Fall in der Familie. Sie hat den 2. Tag in Folge mittelstarke Halsschmerzen & ich finde, da hört sich langsam der Spaß auf. Beendet diesen Irrsinn endlich!“

Es gibt eine neue Spaltung der Gesellschaft: dieses Mal nicht in Impfgegner und Impfbefürworter, sondern in Menschen, die ein Ende der Corona-Maßnahmen herbeisehnen, und andere, die sich genau davor fürchten.

Die Spaltung lässt sich auch soziodemografisch beschreiben. Die alleinerziehende Mutter oder die prekär Beschäftigte mit Migrationsgeschichte sind im Kreis der No-Covid-Befürworter, die gerne wieder alle nach Hause schicken würden, nur selten anzutreffen. Dafür findet man dort überdurchschnittlich viele Menschen mit Hochschulabschluss und Mittelschichtshintergrund.

Die „New York Times“ widmete vor zwei Wochen eine ganze Ausgabe ihres Podcasts „The Daily“ der Frage, wie die Leute heute zur Pandemie stehen. Ergebnis: Die Virusangst verhält sich umgekehrt proportional zum Ansteckungsrisiko. Am meisten fürchten sich diejenigen, die objektiv am besten geschützt sind, weil sie alle Impfungen haben und sich bei Bedarf ins Homeoffice zurückziehen können.

Vielleicht ist die Angst vor dem Virus eine Frage der Bildung und damit des Medienkonsums. Wer mehr liest, der liest auch mehr, wovor er sich fürchten kann. Wenn es nicht mehr das Virus selbst ist, weil es seinen tödlichen Stachel verloren hat, dann sind es die Spätfolgen einer Erkrankung.

Long Covid heißt das neue Schreckgespenst. Für die ganz Kleinen kommt PIMS hinzu, eine seltene, aber hochgefährliche Autoimmunerkrankung. Kaum ein Artikel kommt ohne Hinweis auf mögliche Folgen aus. Ich will um Himmels willen nicht die Gefährlichkeit bestreiten. Meine Schwägerin leidet seit Jahren unter einem chronischen Erschöpfungssyndrom. Ich weiß aus erster Hand, welche Einschränkungen ein Leben mit dieser Krankheit bedeutet. Aber wie wahrscheinlich ist es, an Long Covid zu erkranken?

40 Prozent der Infizierten würden an Langzeitfolgen leiden, stand im Dezember in den Zeitungen mit Bezug auf eine Studie der Uni Mainz. Das würde bedeuten, dass Millionen Deutsche Symptome entwickeln werden. Eine bemerkenswerte Sache scheint dabei zu sein: Man bekommt Long Covid auch, wenn man nie an Corona erkrankt ist. So stand es im Kleingedruckten der Studie, worauf mich ein Freund hinwies.

Auffällig sei, dass auch Personen, die keine Sars-CoV-2- Infektion durchgemacht hätten, über ähnliche Symptome berichteten, las man dort. Wir können also festhalten: Wir haben es mit einer Erkrankung zu tun, die völlig unabhängig vom Virus auftritt. Das ist so bestürzend wie erleichternd. Dann spielt es auch keine Rolle mehr, ob man sich schützt oder nicht.

Meine Kinderärztin berichtete von zwei Gruppen von Kindern, die nach zwei Jahren schwere Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Die eine Gruppe, die es schwer getroffen hat, sind die Kinder von Impfgegnern. Manche Leute gehen offenbar so weit, dass sie auch jeden Test ablehnen. So sitzen die Kinder dann in der Schule, ungetestet und ungeimpft, Außenseiter par excellence, weil die Eltern beschlossen haben, dass man den Kleinen nicht mal mit einem Wattestäbchen zu nahe kommen dürfe.

Die andere Gruppe, die nach Aussage der Ärztin schlimm dran ist, sind die Kinder von Eltern, die in panischer Angst vor Ansteckung leben. Daran hat auch die Impfung nichts ändern können. Man mache sich keine Vorstellung, sagte sie, was es für ein Kind bedeute, wenn ihm von morgens bis abends eingebleut werde, dass draußen ein tödliches Virus lauere.

Wie sieht die Zukunft aus? Es gibt ja immer eine neue Variante, vor der man sich ängstigen muss, und damit eine neue Welle. Wenn man auf Abstandsregeln, Impfung und Maske nicht vertrauen kann, dann bleibt nur die dauerhafte Selbstabschließung der Gesellschaft.

Das exakt ist das, was empfohlen wird: zu Hause im Bett bleiben. So wie die Kolumnistin Margarete Stokowski, die nach überstandener Omikron-Erkrankung jetzt schrieb, dass das „Projekt Durchseuchung“ zeige, wie vielen Menschen der „faschistische Gedanke“ gefalle, dass man auf die Schwächsten gut und gerne verzichten könne.

Ich fand bislang, dass die Entscheidung, die Kinder nicht wieder zu Hause einzusperren, für die Politik spricht. Aber was verstehe ich schon von Faschismus.

©Michael Szyszka

Im Reich des Schattens

Wir sind Meister darin, politische Modewörter zu erfinden. Statt von Schwachen redet man heute von „Vulnerablen“. Aber wenn es darauf ankommt, ist niemand in der Politik zu erreichen, wie das Schicksal der Schattenfamilien zeigt

Ich habe das Wort „Schattenfamilie“ zum ersten Mal gehört, als ich auf Twitter die Kommentare unter einem Beitrag von mir zu den Corona-Maßnahmen durchsah. Ein Leser fragte mich, ob ich nicht einmal über das Schicksal dieser Familien schreiben wolle. Das sei doch ein lohnendes Thema. Er könne mir da die wildesten Geschichten erzählen.

Das Wort leitet sich von „Schattenkind“ ab. So bezeichnet man ein Kind, das einen Geschwisterteil hat, der behindert ist oder an einer chronischen Krankheit leidet und deshalb die meiste Aufmerksamkeit der Eltern erhält. Schattenfamilien sind demnach Familien, die im Schatten eines solchen Sorgenkinds leben.

Der Begriff hat sich in der Pandemie etabliert. Viele Menschen fürchten sich vor Ansteckung, weil sie unsicher sind, wie ihr Körper auf das Virus reagiert. Aber die Sorge ist noch einmal eine ganz andere, wenn man ein Kind in der Familie hat, dessen Herz, Lunge oder Niere nicht richtig funktioniert, womit die Wahrscheinlichkeit, ernsthaft zu erkranken, exponentiell steigt.

Kleine Kinder sind auch schwerer zu isolieren. Ein erwachsener Mensch folgt der Einsicht, wenn er sich entscheidet, seine Kontakte zu reduzieren. Aber ein Fünfjähriger?

Der Vater, der mich anschrieb, hat eine Tochter, die mit Spina bifida zur Welt kam, einer Fehlbildung der Wirbelsäule, die ihr das Gehen sehr erschwert. Er arbeitet als Statistiker, wie er mir bei einem der Gespräche erzählte, die sich aus unserem Kontakt auf Twitter ergaben. Am Anfang der Pandemie war er erleichtert, als es hieß, dass im Wesentlichen Kinder mit Lungenproblemen ein erhöhtes Risiko hätten, schwer an Covid zu erkranken. Aber dann sah er Datensätze aus Amerika, wonach auch Kinder mit Spina bifida stark gefährdet sind.

Wie kann man sich gegen ein Virus schützen, das draußen grassiert? Wenn jeder Kontakt potenziell tödlich ist, bleibt nur, die Außenwelt auszuschließen. Wie viele Familien, in denen ein Kind chronisch krank ist, ging auch die Familie von Sebastian Mathis – so heißt der Vater, mit dem ich sprach – in die Selbstisolation. Das Wort Schattenfamilie ist durchaus wörtlich zu nehmen.

Man kann sich also die Erleichterung von Eltern wie Mathis vorstellen, als die erste Impfung zugelassen wurde. Die Impfung war für Kinder zwar nicht freigegeben, aber gerade bei behinderten Kindern werden viele Medikamente im sogenannten Off-Label-Use verschrieben.

Kinderärzte scheuen das Haftungsrisiko, das gilt zumal bei unerprobten Behandlungsmethoden. Aber auch da gab es eine Lösung. Alles, was es brauchte, war eine Änderung im Infektionsschutzgesetz. Zwei Zeilen, die es den Ärzten erlauben würden, Impfungen auf ausdrücklichen Wunsch der betroffenen Eltern vorzunehmen.

Mathis schrieb alle an, die Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die gesundheitspolitischen Sprecher der Parteien, Karl Lauterbach, das Gesundheitsministerium. Es wäre so einfach gewesen: eine Erklärung von offizieller Stelle, dass man die Schutzimpfung für den speziellen Kreis behinderter oder chronisch kranker Kinder empfehle. Aber niemand fühlte sich zuständig. Aus dem Gesundheitsministerium erhielt Mathis nicht mal eine Antwort. Mit jeder Woche, die ins Land ging, wuchs seine Verzweiflung und sein Zorn.

Wir reden gerne von den Schwächsten der Gesellschaft, denen man helfen müsse. Wir sind große Meister darin, neue Worte zu erfinden, die unser Mitgefühl ausdrücken sollen. Statt von Behinderten sprechen wir jetzt von den Vulnerablen. Das klingt gleich doppelt so sensibel. Aber wer wissen will, wie es abseits der Talkshows aussieht, dort, wo sich das reale Leben abspielt, auch das beschissene reale Leben, der muss nur mit Menschen wie Sebastian Mathis reden.

Wenn wir irgendwann auf die Pandemie zurückblicken werden, dann auch darauf, dass sie ziemlich schonungslos offengelegt hat, wer sich auf die Fürsorge der Politik verlassen kann und wer nicht. Am besten geschützt waren Menschen ab 65, die rüstigen Rentner, für die jeder Lockdown eine lästige, aber letztlich tolerable Einschränkung bedeutete. Kinder und Jugendliche hingegen rangieren auf der politischen Aufmerksamkeitsskala weit hinten. Ganz unten stehen Familien mit behinderten oder kranken Kindern, wie man jetzt weiß.

Im Sommer hatten Mathis und seine Mitstreiter endlich einen Arzt gefunden, der sich bereit erklärte, das Klagerisiko einzugehen und unter der Hand zu impfen. Zehntausend Kinder haben sie über die Monate vermittelt. Dass es da jemanden gebe, der helfen könne, verbreitete sich unter den Schattenfamilien wie ein Lauffeuer.

Seit Dezember sind Impfstoffe gegen Corona für Kinder ab fünf Jahren zugelassen. Jetzt beginnt das Spiel von vorn. Diesmal geht es um die Kinder unter fünf. Ich höre den Schrei der Impfgegner, die sagen, dass es unverantwortlich sei, so kleine Kinder zu impfen. Aber wer eine Tochter oder einen Sohn mit Trisomie 21 oder Spina bifida hat, der beurteilt das Risiko anders als ein Elternteil, dessen Kind eine Ansteckung mutmaßlich ohne große Folgen wegstecken wird.

Ich habe schon länger den Verdacht, dass diejenigen, die am eifrigsten mit Begriffen wie Solidarität hantieren, damit in Wahrheit am wenigsten am Hut haben. Der „Zeit“-Redakteur Bernd Ulrich schrieb einmal: „Auf jedem Armen sitzen zehn andere, die in seinem Namen Solidarität einklagen.“ Treffender kann man es nicht sagen.

Das Bekenntnis gegen Rassismus, Sexismus und Ausgrenzung ist ein Fashion-Item, ein Anstecker, den man sich anheftet, um zu zeigen, dass man dazugehört. Früher stellte man sein neues Auto aus, um andere zu beeindrucken. Heute hinterlässt man auf LinkedIn einen Eintrag, dass man es auch ganz wichtig findet, dass BIPoC zu ihrem Recht kommen, und wie schlimm es sei, dass es noch Hunger und Armut gibt.

In der „Süddeutschen Zeitung“ habe ich vergangene Woche ein Interview mit dem Arzt Gerhard Trabert gelesen, den die Linkspartei als Kandidat bei der Wahl zum Bundespräsidenten ins Rennen schickt. Ich war versucht, mich lustig zu machen. Der Mann hat keine Chance. Warum also gegen Steinmeier antreten?

Aber dann las ich, wie er sich seit Jahren um die medizinische Versorgung von Obdachlosen bemüht. Weil Menschen, die auf der Straße leben, so gut wie nie zum Arzt gehen, hat er sein Auto zur mobilen Praxis umgebaut und fährt damit in den Wald, zu Tiefgaragen und Domplätzen, wo Obdachlose leben.

Mir imponiert so jemand tausendmal mehr als die Siemens-Managerin, die mit Genderstern und Anti-Rassismus-Statements posiert. Ich teile nicht Traberts Sicht auf die Welt, natürlich nicht. Ich glaube keinen Augenblick, dass sich das Los armer Menschen verbessern würde, wenn wir alle nur noch die Hälfte verdienten. Aber ich habe großen Respekt vor jemandem, der seine Zeit der Aufgabe widmet, anderen zu helfen, anstatt über Solidarität nur zu reden.

Neulich hat Sebastian Mathis einen kleinen Sieg errungen. In der Behindertentoilette der Inklusionsschule, die seine Tochter besucht, steht jetzt ein Lüftungsgerät. Er hat auch dafür lange gekämpft. Diese Toiletten seien Virenhöllen, erklärte er mir, kleine, fensterlose Räume, in denen die Kinder nicht nur sauber gemacht werden, sondern in denen sie auch Nahrung zu sich nehmen, wenn sie über eine Sonde ernährt werden. Wenn es einen perfekten Ort gibt, um sich anzustecken, dann hier.

Als er sich beklagte, sagte man ihm, er habe doch ein Attest, das es ihm erlaube, seine Tochter aus der Schule zu nehmen. Das erklären die gleichen Leute, sagt er, die sonst keine Gelegenheit auslassen, darauf hinzuweisen, wie wichtig Inklusion sei. Der Widerspruch fällt ihnen nicht einmal auf.

Anfang Dezember nahmen Journalisten die Zustände an der Schule zum Anlass zu fragen, wo eigentlich die Gesundheitssenatorin sei. Zwei Tage später kamen Handwerker und installierten den Apparat.

©Sören Kunz

Ich bin raus

Zwei Jahre hat der Kolumnist alle Corona- Regeln befolgt. Er hat sich impfen und boostern lassen. Jetzt hat er beschlossen, dass es Zeit für Corona-Detox ist. Ab sofort wird er sein Leben nicht mehr an Infektionsmodellen ausrichten

Ich habe mich Heiligabend mit der Familie in den Süden abgesetzt. Condor DE1400 nach Lanzarote. Ich habe alle Mahnungen der Bundesregierung, über die Feiertage auf unnötige Reisen zu verzichten, in den Wind geschlagen. Ich habe die Empfehlung ignoriert, mich Weihnachten zu Hause im Kreis Geimpfter einzuigeln.

Auf Twitter las ich eine angeregte Diskussion, angestoßen von der in progressiven Kreisen hochgeschätzten Autorin Jasmina Kuhnke, ob man in Pandemiezeiten überhaupt in den Urlaub fliegen solle. Frau Kuhnke bekannte, dass sie schon Herzrasen bekomme, wenn sie dem Nachbarn an der Mülltonne begegne und der einen Ticken zu offensiv in ihre Richtung atme.

Es wurde Einigung darüber erzielt, dass Flugreisen insbesondere bei Menschen, die in der Öffentlichkeit stünden, problematisch seien, weil viele sich dann denken könnten, wenn der oder die das mache, dann sei es okay. Über Insta trudelte dann noch die Nachricht einer Bekannten von Frau Kuhnke ein, dass ihre Freundin original beim Müllrausbringen den Nachbarn getroffen und sich mit Corona angesteckt habe („What the fuck, what the fuck?“). Wie gut, dachte ich mir, dass ich weder so in der Öffentlichkeit stehe wie die Autorin noch eine Mülltonne habe, die ich mir mit dem Nachbarn teile.

Der Hinflug war bis auf den letzten Platz besetzt. Meine Sitznachbarin flüsterte mir zu, dass die Leute über den Jahreswechsel wie wild fliegen würden. Alle Weihnachtsflüge von München seien praktisch ausgebucht, habe sie im Radio gehört. Keine Ahnung, warum sie mir die Information im Flüsterton überbrachte. Vielleicht dachte sie, dass sie das Kabinenpersonal in letzter Sekunde des Flugzeugs verweisen würde, wenn eine der Stewardessen unser Gespräch mitbekäme.

Bei mir verstärkte das den Eindruck, dass wir dabei waren, etwas Gefahrvolles, um nicht zu sagen Verbotenes zu tun. Ein Ferienflug nach Lanzarote als Akt der Aufsässigkeit – wow! Und ich hatte immer gedacht, eine Reise auf die Kanaren sei der Inbegriff von Spießigkeit.

Ich habe keine Minute bereut, dass wir weggeflogen sind. Ich hatte vergessen, wie unbeschwert das Leben sein kann. Wenn ich morgens die Gartentür öffnete, blickte ich aufs Meer. Das Strandlokal, das wir wegen seiner ausgezeichneten Küche frequentierten, war jeden Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Die Gespräche an den Nebentischen drehten sich ums Wetter.

Ich habe auf Lanzarote einen Entschluss gefasst. Ich habe beschlossen, mein Leben zu ändern. Das ist doch das, was einem der Philosoph empfiehlt: Du musst dein Leben ändern! Lässt sich für diesen Vorsatz ein besserer Zeitpunkt als der Jahreswechsel finden?

Ich werde künftig auf Nachrichten zu Covid so weit es geht verzichten. Also ab sofort keinen Corona-Liveticker von NTV mehr, der mir jeden Morgen die neuesten Inzidenzen anzeigt. Die App wird umgehend deaktiviert. Ich schaue auch nicht mehr, was Karl Lauterbach oder Lothar Wieler empfehlen. Wenn der „Münchner Merkur“ meldet „RKI warnt vor Raclette und Fondue zwischen Weihnachten und Silvester wegen der Infektionsgefahr“, geht das von nun an mir vorbei. Von mir aus kann die nächste Welle nicht nur eine Wand, sondern ein Gebirgsmassiv sein: Ich bin raus.

Ich habe zwei Jahre alles mitgemacht. Ich habe mit meinen Kindern vor dem Kinderspielplatz gestanden und dem Flattern der Absperrbänder zugesehen. Auf dem Rodelberg haben wir streng darauf geachtet, dass zwischen uns und dem Nachbarschlitten anderthalb Meter Abstand lagen.

Selbstverständlich habe ich immer Maske getragen, auch draußen, wenn es vorgeschrieben war. Ich bin geimpft und geboostert. Mein Sohn ist kommende Woche zur Impfung angemeldet, wenige Tage nach seinem siebten Geburtstag. Die Geburtstagsfeier haben wir zum zweiten Mal in Folge abgesagt, weil wir niemanden in Schwierigkeiten bringen wollten.

Es gibt Menschen, die einen besonderen Kick aus düsteren Vorhersagen ziehen. Je düsterer die Prognose, desto mehr fühlen sie sich in ihrer Weltsicht bestätigt. Kurioserweise scheint die Schnittmenge zwischen den Angehörigen von Wissenschaftsredaktionen und den Anhängern von Katastrophenszenarien besonders groß.

Wenn jemand ein Schaubild präsentiert, wonach sich in der ersten Januarwoche über eine Million Menschen angesteckt haben werden, kann man sicher sein, dass einer um die Ecke biegt, der einen Experten in petto hat, der bis Mitte Januar 40 Millionen Infizierte voraussagt.

Der Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli hat schon vor Jahren zur Nachrichtenabstinenz ermuntert. Es gibt angeblich medizinische Gründe, die dafür sprechen. Sobald wir etwas sehen oder lesen, was uns beunruhigt, gelangt eine erhöhte Menge des Stresshormons Cortisol in die Blutbahn. Cortisol verstärkt die Anfälligkeit für Infekte, es sorgt für Verdauungsstörungen und hemmt das Wachstum von Knochen und Haaren.

Dobelli vergleicht Nachrichten mit Zucker und empfiehlt eine strenge „News-Diät“, um die giftige Wirkung zu begrenzen. Ich hielt das bislang für Mumpitz. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob Dobelli nicht doch recht hat. Mich macht der Blick auf die Modelle mit den Infektionszahlen, die mich dazu bringen sollen, noch vorsichtiger zu sein, nicht einsichtig, sondern gleichgültig. Es heißt ja, dass Müdigkeit eine Begleiterscheinung der Überzuckerung sei.

Mein Eindruck ist, dass ich nicht der Einzige bin, der so empfindet. Ein Freund aus München hat über die Pandemie seine Frau verloren. Ob das Eheende „an“ oder „mit“ Corona erfolgte, darüber steht das Urteil aus. Er nahm sich jedenfalls alle Prognosen sehr zu Herzen.

Er verließ kaum noch das Haus. Wenn es seine Frau unter Menschen drängte, hielt er ihr Vorträge, wie unverantwortlich ihr Verhalten sei. Den geplanten Urlaub musste sie alleine mit der Tochter antreten, weil er der Sicherheit an Bord misstraute. Außerdem wollte er kein schlechtes Beispiel abgeben, wie er erklärte. Irgendwann war sie weg beziehungsweise bei jemandem, der sich nicht Tag und Nacht einschloss.

Vor meiner Abreise habe ich mit ihm telefoniert. Das RKI könne ihn mal, sagte er. Solange in München die Bars geöffnet seien, gehe er abends aus. Er hat auch wieder jemanden kennengelernt, eine Juristin, auf der Suche nach Begleitung wie er. Man hatte sich angelächelt, eines ergab das andere. „Und Corona?“, fragte ich. „Lustig, dass du danach fragst“, sagte er. „Darüber habe ich erst am nächsten Morgen nachgedacht.“

Ich kann ziemlich genau sagen, wann es bei mir klick gemacht hat. Es war drei Tage vor Weihnachten, als das RKI eine „Strategie-Ergänzung“ zur Bekämpfung der Omikron-Welle vorstellte. „Maximale Kontaktbeschränkungen“, „maximale infektionspräventive Maßnahmen“, „Reduktion von Reisen auf das unbedingt Notwenige“ – das waren die vorgeschlagenen Maßnahmen. Also der nächste Lockdown, dieses mal noch härter und entschiedener, eben maximal. Da wusste ich, das RKI hat mich verloren.

Ich werde nicht plötzlich unvorsichtig sein. Ich werde mich weiter an die Regeln halten. Ich werde nur nicht mehr mein ganzes Leben an den Schaubildern ausrichten, die das Schlimmste annehmen.

Nach der Welle ist vor der Welle, auch das ist ja eine Lehre aus den vergangenen zwei Jahren. Es wird immer irgendeine Variante geben, die noch leichter zu übertragen ist und damit potenziell noch gefährlicher.

Wollen wir in dauernder Habachtstellung vor dem Virus leben? Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man dem Impfstoff vertrauen will oder nicht. Entweder die Impfung schützt, wie versprochen, vor schweren Verläufen – oder wir sind ohnehin verloren. Dann nützen uns auch die mit Magenbittermiene vorgetragenen Modelle von Sandra Ciesek nichts mehr.

Ich will niemanden davon abhalten, sich zu Hause einzuschließen. Jeder soll machen, was er für sinnvoll hält. Ich habe meine Entscheidung getroffen. I am out.

©Sören Kunz

Herrschaft der Experten

Darf man Wissenschaftler für ihre Vorschläge in der Pandemie kritisieren? Oder ist Kritik ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit? Der Streit um einen „Bild“-Artikel wirft grundsätzliche Fragen auf

Am Samstag vor zwei Wochen veröffentlichte die „Bild“ einen Text über neue Corona-Maßnahmen, auf die sich die Bund-Länder-Runde geeinigt hatte. In Ländern mit hoher Inzidenz dürften nur noch Gäste mit Boosterimpfung ohne Test ins Lokal, berichtete die Zeitung. Für Ungeimpfte sei der Zutritt komplett verboten. Dazu kämen Regeln für Weihnachtsfeiern sowie ein Böllerverbot.

Entstanden seien die Vorschläge in einem kleinen Kreis von Experten, hieß es im weiteren Verlauf. Namentlich genannt wurden die Physiker Viola Priesemann, Dirk Brockmann und Michael Meyer-Hermann. Die Empfehlungen seien dann über den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach an Olaf Scholz gegangen, der sie den Ministerpräsidenten präsentiert habe. Überschrieben war der Artikel mit: „Die Lockdown-Macher – Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest.“ Dazu waren die drei genannten Wissenschaftler im Foto zu sehen.

Seit Langem hat ein „Bild“-Text nicht mehr solche Wellen geschlagen. 94 Beschwerden sind bis heute beim Presserat eingegangen. Mehrere Wissenschaftsorganisationen, darunter die Leopoldina und die Max-Planck-Gesellschaft, kritisierten die Berichterstattung als einseitig und diffamierend. Die Forscher würden zur Schau gestellt und persönlich für unpopuläre, aber erforderliche Maßnahmen verantwortlich gemacht. Die Humboldt-Universität wandte sich in einer Erklärung dagegen, dass den Lesern suggeriert werde, die Wissenschaft sei ein Treiber politischer Entscheidungen. Das sei eine bewusste Falschaussage, die Verschwörungstheoretikern Auftrieb verleihe.

Einige verlangten ein Eingreifen von oben. „Das ist nicht nur gelogen, sondern Verleumdung und eine Gefahr für die Freiheit von Wissenschaftler*innen, nach bestem Wissen zu beraten“, schrieb die Politökonomin Maja Göpel, die mit dem Bestseller „Unsere Welt neu denken“ einem größeren Publikum bekannt geworden ist. „Bitte Klarstellung aus Politik und Presserat.“

Und die Sache ist damit nicht ausgestanden, wie sich denken lässt. Am Donnerstag erklärte Karl Lauterbach in seinem ersten TV-Auftritt als Gesundheitsminister, er habe mit der „Bild“ Kontakt aufgenommen und dafür gesorgt, dass der Artikel aus dem Netz entfernt werde – was die Zeitung umgehend dementierte. Der Text ist online nach wie vor abrufbar. Sowohl an Olaf Scholz als auch an Vertreter der Grünen erging der Appell, nicht mehr mit Redakteuren der „Bild“ zu reden.

Wo verläuft die Grenze zwischen Politik und Wissenschaft? Sind beides streng getrennte Sphären, wie die Protestierenden insinuieren? Oder geht es möglicherweise darum, einen Bereich abzustecken, der sakrosankt und damit geschützt gegen Kritik ist? Eine Art Vorraum der Politik, bei dem auch die Kontrollfunktion der Medien nicht mehr greift?

In einem Artikel in der „Zeit“ über den neuen Gesundheitsminister stieß ich auf folgende Passage: „Sein Team, dazu zählt Lauterbach Wissenschaftler wie Christian Drosten, die Modelliererin Viola Priesemann, den Helmholtz-Forscher Michael Meyer-Hermann, den Arzt Michael Hallek, den Physiker Dirk Brockmann. Sie alle, so sieht es Lauterbach, sind mit ihm Minister geworden. Sie alle werden die Politik prägen.“

Lauterbach selbst hat zwei Tage vor der „Bild“-Veröffentlichung bei einem Auftritt bei Maybrit Illner freimütig berichtet, wie er mit Priesemann, Brockmann und Meyer-Hermann zusammengesessen und Modelle durchgerechnet habe. „Wir haben überlegt, welche Maßnahmen würden jetzt die Welle bremsen, ohne dass wir in einen kompletten Lockdown gehen müssen.“ Es habe Übereinstimmung geherrscht, welche Maßnahmen richtig seien, die habe man an Scholz dann weitergeben. „Es war schon gut, dass die Wissenschaft einen enormen Einfluss hatte“, sagte Lauterbach, sichtlich stolz auf das Erreichte.

Ein Gesundheitsminister, der Wissenschaftler als Mitglieder eines Teams begreift, mit dem er Politik gestaltet und gestalten will? Das klingt für mich nicht danach, als handele es sich bei der Annahme, Wissenschaft könnte ein Treiber politischer Entscheidungen sein, um eine Verschwörungstheorie.

Der Experte ist ein wundersames Wesen. Er weiß genau, was nottut. Wenn die Politik nicht schnell genug seinen Empfehlungen folgt, kann man sicher sein, dass er in der nächsten Talkshow sitzt und dort erklärt, warum das, was die Politik plant, zu wenig ist und zu spät. Aber er ist nie verantwortlich. Man kann verstehen, dass Wissenschaftler ein Interesse daran haben, dass es so bleibt.

Sie habe sich nie in die Öffentlichkeit gedrängt, hat Viola Priesemann vor ein paar Tagen in einem Interview erklärt. „Ich meine, ich bin Physikerin! Ich arbeite sehr gern allein in meinem stillen Kämmerlein.“ Das hält sie selbstredend nicht davon ab, aus dem stillen Kämmerlein einen „Notschutzschalter“ zu fordern, wie der Shutdown in der neuesten Wendung heißt. Und wehe, ein verantwortlicher Politiker spielt auf Zeit! „Was für eine irrsinnige Idee in der aktuellen Lage und der aktuellen Gefahr“, heißt es dann.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur sogenannten Bundesnotbremse den Weg in die Expertokratie eröffnet. Solange die Regierung sich bei ihren Entscheidungen auf die Expertise von Fachleuten stützen kann, ist jedes Grundrecht disponibel, lautet im Kern das Urteil. Gibt es mehrere Studien, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist der Gesetzgeber frei, welcher Studie er den Vorzug gibt. Entscheidend ist, dass er eine Expertise vorweisen kann.

Es geht den Kritikern der „Bild“-Berichterstattung nicht darum, die Wissenschaft insgesamt vor Angriffen zu schützen. Es geht darum, die eigenen Leute zu einer Art Überexperten zu erklären. Wer zum Kreis der Mitstreiter zählt, kann sich auf uneingeschränkte Unterstützung der Szene verlassen. Wer nicht dazugehört oder gar als Feind gilt, ist vogelfrei.

Im Januar führten die „Spiegel“-Redakteurinnen Rafaela von Bredow und Veronika Hackenbroch mit Christian Drosten ein Interview über seine Sicht auf die Pandemie. Dabei kamen sie auch auf Hendrik Streeck zu sprechen, der Drosten als Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Bonn nachgefolgt war. Streeck hätte immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert, behaupteten die Interviewer. Er hätte damit größeren Schaden angerichtet als Corona-Leugner.

Ein ehrabschneidenderer Vorwurf gegen einen Wissenschaftler lässt sich kaum denken. Genauso gut hätten die „Spiegel“-Redakteurinnen sagen können, dass Streeck für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich sei. So lautete, übersetzt in die raue Sprache der Twitter-Welt, praktischerweise der entsprechende Hashtag: #SterbenMitStreeck.

Aber in dem Fall trat keine Leopoldina auf den Plan. Es meldete sich auch keine Max-Planck-Gesellschaft, um den Virologen zu verteidigen. Eine Anfrage an die Gesellschaft für Virologie, wie sie zu der Unterstellung stehe, blieb unbeantwortet. Und Christian Drosten? Der widersprach nicht etwa der Anschuldigung, sondern antwortete nur sibyllinisch, dass er nichts davon halte, Kollegen namentlich zu kritisieren.

„Beyond_ideology“, nennt sich Maja Göpel, die den Sturm gegen die „Bild“ lostrat, auf Twitter: Jenseits der Ideologie. Lässt sich eine größere Anmaßung denken? Man kann das auch übersetzen mit: Wer mir widerspricht, ist im Unrecht. Dass sich Autoren wie die Klimaaktivistin Göpel mit besonderer Verve in die Schlacht werfen, ist kein Zufall. Nach der Pandemie steht mit dem Kampf gegen den Klimawandel die nächste Auseinandersetzung ins Haus, bei der die Politik sich anschickt, tief in das Leben von Menschen einzugreifen.

Es ist ein nahezu perfekter Zirkel. Die Wissenschaft empfiehlt Maßnahmen, für deren Folgen sie nicht verantwortlich gemacht werden kann. Die Politik folgt den Empfehlungen mit Verweis auf die Stimme der Wissenschaft. Da Kritik an Vorschlägen aus der Wissenschaft als Ausdruck von Wissenschaftsfeindlichkeit gilt, ist auch der politischen Kritik der Boden entzogen.

In der Philosophie spricht man vom „Circulus vitiosus“, zu Deutsch: Teufelskreis.

©Sören Kunz

Betr.: Das gespaltene Land

Zwölf Millionen Erwachsene sind ungeimpft, so viele, wie es Leute gibt, die bei der Wahl für Olaf Scholz und die SPD gestimmt haben. Ob es wirklich eine so gute Idee ist, sie alle als Spinner und Nazis zu beschimpfen?

Ich muss Abbitte leisten. Ich habe mich oft über Richard David Precht lustig gemacht. Ich habe ihn als Richard Clayderman der Philosophie verspottet. Ich schrieb, dass er die Türen, die er in seinen Texten eintrete, anschließend deshalb so laut hinter sich zuwerfe, weil sie bereits sperrangelweit offen stünden.

Den Witz mit den offenen Türen kann ich mir in Zukunft schenken. So wie Precht sich in der Pandemie äußert, hat er definitiv den Weg des geringsten Widerstands verlassen. Wer sich ins Fernsehen setzt und dort Verständnis für Impfgegner zeigt, ist alles mögliche, aber kein Mensch, der es sich zu einfach macht.

Hut ab, lieber Richard David Precht, möchte ich Deutschlands bekanntestem Fernsehphilosophen von dieser Stelle zurufen. Mehr Mut im Umgang mit dem Coronavirus zu fordern: Das muss man sich erst mal trauen.

Die Rache folgt in so einem Fall auf dem Fuße. Im „Spiegel“ wurde der Autor als „Wirrkopf“ abgekanzelt. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ ließ auf ihn das Verdikt herabsausen, dass er mit seiner Meinung auf jeder Querdenker-Demo mehrheitsfähig wäre. Das ist das intellektuelle Todesurteil. Schlimmer kann es danach nicht mehr kommen.

Mit jeder Woche, der wir der Impfpflicht näher rücken, wird der Ton rauer. Man sollte eigentlich das Gegenteil erwarten. Aber die Aussicht auf den Sieg stimmt die Freunde der Impfpflicht nicht milder, sondern scheint sie im Gegenteil noch anzuheizen.

Ich warte auf den Tag, an dem der erste Prominente erklärt, dass er nur noch mit Geimpften befreundet sein kann. Wenn die Berliner Gesundheitssenatorin dazu ermuntert, im Privaten ausschließlich Menschen zu treffen, die geimpft sind, weiß man, jetzt wird’s ernst.

Selbst Leute, die ansonsten noch für jede Minderheit Verständnis haben, schalten auf Krawall. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in einem erzprotestantischen Blatt wie der „Zeit“ Überlegungen lesen würde, warum der Gesellschaft mehr Spaltung guttäte. Auch Vergleiche, die normalerweise jede Anti-Hate-Speech-Beauftragte auf den Plan rufen würden, sind nicht länger tabu. In der Mediathek des ZDF ist seit einer Woche eine Folge des Comedy-Formats „Bosetti will reden“ abrufbar, in der Umgeimpfte als Blinddarm bezeichnet werden, auf den man getrost verzichten könne.

Erst hatten wir Appelle. Dann Belohnungen und Schika-nen. Jetzt sind wir auf der Ebene der Beschimpfung an-gekommen. Wenn es gegen den Impfgegner geht, ist alles erlaubt, da darf sogar die politisch vorbildliche ZDF-Komödiantin die Sau rauslassen.

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte die allermeisten Argumente, die gegen die Impfung vorgebracht werden, für Unsinn. Ich habe auch nichts gegen eine allgemeine Impfpflicht. Wahrscheinlich hätte man sie schon viel früher einführen sollen. Den Kreis der Hardcore-Gegner wird man nicht umstimmen. Die lassen sich lieber in Handschellen abführen, als dass sie sich die Spritze setzen lassen. Aber die Ungeimpften, die bislang zu bequem oder zu träge waren, sich in die Impfschlange einzureihen, wird man damit möglicherweise erreichen.

Was mich stört, ist der Ton der Verachtung, mit dem über alle gesprochen wird, die abweichender Meinung sind. Es mag an meiner Sozialisation in einem sozialdemokratischen Haushalt liegen: Immer, wenn sich eine Mehrheit gegen eine Minderheit zusammentut, werde ich unruhig.

Es geht längst nicht mehr darum, die Uneinsichtigen zu überzeugen. Darüber sind wir hinaus. Jeder Psychologe kann einem sagen, dass es wenig bringt, wenn man andere anschreit. In der Regel erreicht man das Gegenteil von dem, was man bezweckt, weil die Angeschrienen mit Trotz statt mit Einsicht reagieren. Es geht in Wahrheit darum, recht zu behalten. Den Befürwortern der Impfpflicht reicht es nicht, dass sie ihren Willen durchsetzen, sie wollen die Gegner am Boden sehen. Sie sollen sich am besten auch nicht mehr äußern dürfen.

Es gibt einen neuen Begriff, um unerwünschte Meinungen aus dem öffentlichen Raum fernzuhalten. Man spricht jetzt von „false balance“. Gemeint ist, wenn ein Fernsehsender in eine Talkshow auch Leute einlädt, die eine Außenseiterposition vertreten. Vor der Pandemie war dies das normale Geschäft, um eine Sendung lebendig zu machen. Heute gilt das als gemeingefährlich, weil es dem Publikum angeblich suggeriert, dass die Außenseitermeinung und die Konsensmeinung gleichwertig seien. So würden extreme Ansichten aufgewertet und die Zuschauer verwirrt, heißt es.

Im Grunde fällt schon einer wie Precht unter „false balance“. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ stand, er streue mit raffinierter Beiläufigkeit über berechtigter Kritik hinaus grundsätzliche Zweifel an staatlichen Institutionen und beschädige so den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Ich dachte immer, es sei die Aufgabe von Intellektuellen, die Dinge prinzipiell in- frage zu stellen. Ich bin kein Philosoph, aber mich plagen ebenfalls grundsätzlich Zweifel an den staatlichen Institutionen. Bis heute erscheint mir das Corona-Management merkwürdig konfus.

Wer prüft zu Hause ernsthaft seine Besucher auf einen Impfausweis, wie es jetzt verlangt wird? Vielleicht Menschen wie Bettina Schausten, die von sich selbst auch sagt, sie würde 100 Euro zahlen, wenn sie bei Freunden übernachtet. Bei so jemandem kommt man vermutlich nur mit nachgewiesener Drittimpfung über die Schwelle. Aber alle anderen?

Ich habe bis heute auch nicht verstanden, warum Weihnachtsmärkte schließen müssen oder es wieder ein Böllerverbot zu Silvester gibt. Statt die Leute dazu zu ermuntern, sich im Freien aufzuhalten, animiert man sie lieber dazu, drinnen mit anderen die Köpfe zusammenzustecken? Dabei ist das Risiko, sich draußen anzustecken, im Gegensatz zu Innenräumen minimal.

Ich glaube, es handelt sich bei der Beschimpfung der Impfgegner um eine Ersatzhandlung. Statt das Naheliegende zu tun, nämlich erst einmal diejenigen zu impfen, die in der Kälte Schlange stehen, redet man über diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen. Täglich lese ich Meldungen, wo überall Impfstoff fehlt und Leute, die sich boostern lassen wollten, wieder nach Haus geschickt werden.

Es gibt 23 Millionen Ungeimpfte in Deutschland. Rechnet man alle unter 18 Jahren heraus, bleiben zwölf Millionen Erwachsene, die sich bislang gegen eine Impfung entschieden haben. Das sind so viele Menschen, wie es Leute gibt, die bei der Bundestagswahl die SPD mit Olaf Scholz gewählt haben.

Unter den Impfgegnern finden sich Verschwörungstheoretiker, Okkultisten, Spinner, Nazis und Schwachköpfe jeder Couleur. Aber alle zwölf Millionen zu Spinnern und Nazis zu erklären? Ich weiß nicht, ob das so schlau ist. Dann sind wir wirklich auf dem Weg in ein gespaltenes Land. Und die Spaltung verläuft in dem Fall nicht rechts unten in Höhe des Blinddarms, wie sich die ZDF-Komikerin Sarah Bosetti das vorstellt, sondern eher auf Höhe von Leber und Niere.

Ich war vergangene Woche mit einem Bekannten, dem Journalisten und Bestsellerautor Hasnain Kazim, in Berlin zur Aufzeichnung einer Fernsehshow. Auf der Rückfahrt zum Flughafen berichtete er mir, dass ihm sein Steuerberater in einem Brief mitgeteilt habe, dass er ihn nicht länger vertreten könne. Kazim hat vor ein paar Wochen in der „Zeit“ einen Text pro Impfen veröffentlicht. Das reichte, um das Mandat zu beenden. Ein freundlicher, um- gänglicher Mann, so schilderte Kazim seinen Steuerberater. Es gab nie Ärger oder Probleme.

Ich weiß, ich klinge jetzt wie der Bundespräsident, aber vielleicht sollten wir es mit der Spaltung nicht übertreiben. Es gibt Risse, die kann man nachher kaum noch kitten. Es wäre doch schade, wenn uns als Gesellschaft am Ende nicht nur der Blinddarm fehlen würde, sondern ein lebenswichtigeres Organ.

©Michael Szyszka

Der grüne Impfgegner

Die hohe Zahl an Impfgegnern ist auch ein Erfolg grüner Politik. Wenn man den Leuten ständig einredet, dass Gentechnik des Teufels sei, muss man sich nicht wundern, wenn sie dem Genzeug misstrauen

Ein Freund berichtete bei einem Abendessen von einer Anhängerin der Klangschalentherapie, die einen Arzt in Brandenburg aufgetan hat, der Freunde der Esoterik mit falschen Impfausweisen versorgt. Wer sich in der Praxis einfindet, wird gebeten, seinen Oberarm frei zu machen. Dann nimmt der Arzt eine Spritze, holt den Impfstoff, schüttet ihn in einen Eimer und setzt die Spritzennadel in den Arm.

Warum er sich überhaupt die Mühe macht, den Impfstoff aus dem Kühlschrank zu nehmen, ist nicht ganz ersichtlich. Vielleicht soll die kleine Scharade den Betrug realistischer machen. Oder sie ist gedacht, im Entdeckungsfall vor Strafe zu schützen. In jedem Fall ziehen die Luft-Geimpften mit einer regulären Impfbescheinigung von dannen, um sich dann wieder der Heilung mittels Planetentönen und Sphärenklängen zu widmen.

Verschiedentlich wurde in den vergangenen Tagen die Frage gestellt, warum in Deutschland die Impfquote so niedrig ist. Was die Zahl der Impfgegner angeht, liegen die deutschsprachigen Länder in Westeuropa an der Spitze. Eine Erklärung stellt auf die Geografie ab. In Ländern mit Gebirgsregionen sei die Zahl der Dickschädel, die dem Staat misstrauten, höher als in Küstenländern.

Aber ist das überzeugend? Erstens verfügen auch Impfvorbilder wie Frankreich und Spanien über ordentliche Gebirge, wie jeder weiß, der mal die Pyrenäen oder die französischen Alpen durchquert hat. Und dass der Gehorsam gegenüber staatlichen Autoritäten in Mittelmeerstaaten besonders ausgeprägt sei, darf mit Blick auf die Steuermoral getrost bezweifelt werden.

Ich hätte eine andere Erklärung anzubieten. Wir haben die geringste Impfquote, weil nirgendwo in Europa das esoterisch veranlangte Milieu so groß ist wie bei uns. Dass alles, was aus dem Genlabor kommt, eine Gefahr für die Gesundheit darstelle, ist ein Glaube, der sich in Deutschland breiter Zustimmung erfreut. Wir haben sogar eine Regierungspartei, die sich den Kampf gegen das Unnatürliche auf die Fahnen geschrieben hat.

Es ist ganz simpel, würde ich sagen: Wenn man den Leuten ständig einredet, dass Gentechnik des Teufels sei, muss man sich nicht wundern, wenn sie dem Genzeug misstrauen. Das gilt erst recht, wenn man es ihnen intramuskulär verabreichen will. Eine Pille schlucken ist schlimm genug. Aber sich die unheimliche Substanz auch noch spritzen lassen? Um Gottes willen!

Die grüne Technikfeindlichkeit ist der blinde Fleck der Impfdebatte. Es wird vornehm darüber hinweggesehen, aber der Kampf gegen die Gentechnik ist für die Ökobewegung mindestens so identitätsstiftend wie der Kampf gegen die Atomkraft. Es ist halt sehr viel einfacher, sich über den Impfgegner im Erzgebirge zu empören, der vom gentechnischen Menschenexperiment schwafelt, als über die Grünenanhängerin mit dem VHS-Diplom in Edelsteinkunde, die auf Globuli gegen Corona schwört.

Ich folge auf Twitter seit Längerem dem Wissenschaftsautor Ludger Weß. Weß hat als Molekularbiologie gearbeitet, bevor er via Greenpeace zum Journalismus stieß. Wenn es eine Autorität für die Ober- und Untertöne des grünen Hokuspokus gibt, dann ist er das.

Bei Weß wird man daran erinnert, dass es noch nicht so lange her ist, dass sich das Land Nordrhein-Westfalen unter rot-grüner Führung zur „gentechnikfreien Region“ erklärte. Oder dass die grüne Umweltministerin aus Rheinland-Pfalz die Entscheidung von BASF, ihre Gentechnik-Forschung ins Ausland zu verlegen, mit den Worten kommentierte, der Abzug aus Deutschland beweise „den mangelnden Erfolg von Gentechnikprodukten“. Gentechnik sei nun einmal keine Zukunftstechnologie. Ihre Nachfolgerin hielt das selbstredend nicht davon ab, sich unter die ersten Gratulanten zu drängeln, als es darum ging, die Entwicklung des Wunderimpfstoffs aus den Mainzer Genlabors von Biontech zu feiern.

Dass die Wurzeln der grünen Bewegung tief in die Esoterik-Szene reichen, ist bekannt. Die Soziologen Oliver Nachtwey und Nadine Frei von der Universität Basel haben gerade in einer Studie die Überschneidungen zwischen dem linksalternativen Anthroposophenmilieu und der Querdenkerbewegung herausgearbeitet. Als vor drei Wochen in Freiburg eine Waldorfschule als Corona-Hotspot auffiel, ergab eine Überprüfung, dass sich viele Eltern gefälschte Maskenattests besorgt hatten, weil in dieser Welt schon das Tragen einer Maske die Spiritualität beschädigt.

Einen Narrensaum hat jede Partei, lässt sich einwenden, der bei den Grünen ist eben ein wenig größer. Dummerweise macht das Du und Du mit dem Hokuspokus auch vor dem Spitzenpersonal nicht halt.

Nehmen wir Renate Künast. Vier Jahre stand Frau Künast dem Verbraucherministerium vor, dann bewarb sie sich für das Amt des Bürgermeisters in Berlin. Man sollte meinen, so jemand sei gegen Spökenkiekerei gefeit. Aber wenn man ihre Social-Media-Accounts durchblättert, stößt man auf Bilder, die sie Arm in Arm mit der indischen Anti-Gentechnik-Aktivistin Vandana Shiva zeigen, einer Frau, die aus sicherer Quelle zu erfahren haben meint, dass der Ursprung der neuen Coronaviren im Gen-Soja liege. Nicht der Tiermarkt in Wuhan oder das Fledermauslabor sind der Herkunftsort: Nein, die Verfütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen an Kühe, das ist der Hort des Bösen!

Gern gesehener Gast auf grünen Veranstaltungen ist auch Robert F. Kennedy jr., der Neffe des ermordeten amerikanischen Präsidenten. Kennedy ist nicht nur ein willkommener Kronzeuge gegen Glyphosat, eine weitere Heimsuchung aus dem Genlabor, er ist, man ahnt es, außerdem ein entschiedener Feind der Impfung.

Ich habe bei der Recherche folgendes Zitat gefunden, es ist für jeden Grünen leicht zu googeln: „Sie bekommen die Spritze, in der Nacht haben sie 39 Grad Fieber, sie gehen schlafen, und drei Monate später ist ihr Gehirn weg. Das ist ein Holocaust, was sie unserem Land antun.“ Unter Holocaust macht es einer wie Kennedy jr. nicht.

Braucht es weitere Beispiele? Anfang Mai veranstaltete der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments eine Experten-Anhörung zur Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen. Erster Sachverständiger war auf Initiative der Grünen ein Professor, der in gleich zwei Vereinen aktiv ist, die sich seit Beginn der Pandemie neben dem Kampf gegen Gentechnik auch dem Kampf gegen die Corona-Impfung verschrieben haben.

Der eine Klub, ein Verein namens Criigen, hat in Frankreich mit einem Gutachten für Aufsehen gesorgt, in dem die Behauptung aufgestellt wurde, die in der Pandemie verwendeten mRNA-Impfstoffe könnten, falls die geimpfte Person schon mit anderen Viren infiziert sei, zu neuen Viren rekombinieren und dadurch Krebs auslösen. Der andere Verein, ein Thinktank namens Ensser, hat es sich zum Ziel gesetzt, die „offiziellen Theorien“ zu Covid-19 sowie der Schutzwirkung der Impfstoffe „kritisch“ zu hinterfragen.

Auch Ängste lassen sich geografisch zuordnen. Die Asiaten plagt die Angst vor Ansteckung. Schon vor Corona fielen japanische Touristen bei Stadtbesichtigungen durch Mundschutz auf, als hätten sie gerade eine Intensivstation verlassen. In den deutschsprachigen Ländern fürchten wir uns vor unsichtbaren Giftstoffen, die in der Nahrung lauern, und natürlich allem, was mit Strahlen verbunden ist, weshalb in guten linken Haushalten schon die Einführung einer Mikrowelle lange Zeit ein umstrittenes Thema war. Die Angst vor der genveränderten Substanz verbindet die beiden Motive Mutation und Vergiftung.

Bislang habe ich mich über die Gen-Angst immer lustig gemacht. Aber wenn schon der Frischkäse damit wirbt, garantiert „ohne Gentechnik“ zu sein, dann weiß man, dass die Sache die Globulisten-Szene verlassen und den Mainstream erreicht hat.

Eigentlich erstaunlich, dass sich 71 Prozent der Deutschen haben impfen lassen. Machen sie sich gar keine Sorgen?

©Sören Kunz

Mehr Mut wagen

Die Angst vor dem Virus hält er für übertrieben, er vertraut auf seinen Körper: Der Impfgegner verkörpert den heroischen Menschen. Sollte man ihn nicht beim Wort nehmen und auch mehr Heroismus bei einer Erkrankung verlangen?

Ich bewundere jeden Impfgegner. Ich hätte nicht die Nerven, das durchzuziehen.

Ich bin, was Ansteckungsgefahr angeht, ein Schisshase. Die beste Errungenschaft der Corona- Krise ist aus meiner Sicht, dass man sich nicht mehr die Hand geben muss. Wenn es nach mir ginge, könnte es für immer beim Faust- oder Ellbogengruß bleiben.

Noch besser finde ich die asiatische Begrüßung: Beide Handflächen aneinanderlegen, dann die gefalteten Hände vors Gesicht führen und sich leicht verbeugen. Die Asiaten wissen, warum sie aufs Händeschütteln verzichten. Sie haben dort Erfahrung mit Viren, von denen wir nur träumen können.

Ich will auch sofort die Booster-Impfung. Ich habe Stunden mit der Recherche zugebracht, wie man an den dritten Schuss kommt. Beim Surfen im Netz habe ich ein Schaubild entdeckt, wie lange der Impfschutz anhält. Bei Biontech sinkt er nach vier bis sechs Monaten auf rund 50 Prozent ab. Die Stiko empfiehlt, mit der Nachimpfung sechs Monate zu warten. Das sieht mir nach einem gefährlichen Spiel mit dem Erstickungstod aus.

Den Impfgegner scheint das alles nicht zu bekümmern. Der Impfgegner lebt nach der Devise: Sterben müssen wir eh. Wenn es nicht Corona ist, das uns dahinrafft, dann der Krebs oder ein Leberschaden. Viele halten die Gefahr durch das Virus für übertrieben. Oder sie vertrauen darauf, dass ihr Körper stärker ist. Ich mache lieber nicht die Probe aufs Exempel. Was, wenn ich mich geirrt habe und mein Immunsystem doch nicht so vorbildlich ist, wie ich mir einbilde?

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat nach den Anschlägen von Paris einen Essay über das Heroische verfasst. Unsere Gesellschaft habe verlernt, der Gefahr ins Auge zu sehen, schrieb er. Als Verteidiger der postheroischen Gesellschaft müsste man wieder Heldenmut lernen.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, einem Terrorangriff zum Opfer zu fallen? Es sterben mehr Menschen an einer verschluckten Büroklammer als an einem islamistischen Anschlag. Das kann man von Covid-19 nun wirklich nicht sagen. Corona ist Bataclan, dreimal am Tag. Da zu sagen: Sei’s drum, die Spritze will ich trotzdem nicht, zeugt wirklich von Heroismus.

Interessanterweise scheint die Todesverachtung an die politische Überzeugung gekoppelt zu sein. Vergangene Woche wurde eine Forsa-Umfrage bekannt, wonach 50 Prozent der AfD-Wähler die Impfung ablehnen. Ich hatte ohnehin den Verdacht, dass sie bei der AfD ständig im Keller Stalingrad-Filme sehen. Selbst Masketragen gilt in diesen Kreisen als Zeichen von Schwäche. Im Bundestag streitet die AfD unverdrossen für das Recht, sich ohne Mundschutz frei bewegen zu dürfen.

Sicher, es gibt Verräter, bis in die Führungsspitze. Parteichef Chrupalla ist bis heute einer Antwort ausgewichen, ob er geimpft ist oder nicht. Für mich klingt das so, als ob er sich heimlich den Schuss hat setzen lassen, das aber nicht zugeben will. Auch Alexander Gauland und Jörg Meuthen haben die Impfung bekommen.

Bei Meuthen überrascht das nicht, der war immer ein unsicherer Kantonist. Alice Weidel hingegen scheint tapfer durchgehalten zu haben. Jetzt liegt sie mit Covid danieder. Beste Genesungswünsche an dieser Stelle. Wenn ich bei der AfD wäre, würde ich eine Tapferkeitsmedaille einführen, für Unerschrockenheit an der Virenfront. Frau Weidel hätte sich klar für die Ehrenspange mit Ritterkreuz am Bande qualifiziert.

Der Impfgegner ist der Feind unserer Zeit. Das Verhalten sei grob asozial und gesellschaftsschädlich, geht die Klage. Von einer „Tyrannei der Ungeimpften“ hat der Ärztefunktionär Frank Ulrich Montgomery bei „Anne Will“ gesprochen. Von der „Geiselname der Mehrheit durch eine Minderheit Uneinsichtiger“ schreibt die „Süddeutsche Zeitung“.

Mir erscheint das nicht ganz logisch. Das Argument für die Impfung ist doch, dass sie einen vor schweren Nebenwirkungen schützt. Deshalb versuchen Politiker ja auch alles, die Impfquote nach oben zu drücken. Wenn der Impfgegner jemandem schadet, dann also in erster Linie sich selbst. Wo liegt da die Tyrannei?

Ich wünsche mir im Gegenteil mehr Konsequenz. Ich hätte erwartet, dass der Impfgegner auch das Krankenhaus meidet. Wer sagt, dass die Medikamente, die sie ihm dort verabreichen, nicht noch schlimmer als die Spritze sind? Ein britischer Arzt hat vor ein paar Tagen ein Foto mit den Präparaten hochgeladen, die sie ei- nem Covid-Patienten geben, der auf der Intensivstation landet. 50 verschiedene Arzneimittelpackungen und Beutel waren darauf zu sehen.

Als Impfgegner würde ich sofort Reißaus nehmen, wenn sich mir jemand im weißen Kittel nähert. Wer weiß, was sie da an einem austesten, um ihre Statistiken aufzubessern! Außerdem schmälert es enorm den Heldenmut, wenn man sich beim ersten Anzeichen von Covid in ärztliche Obhut begibt. Sich über die Corona-Hysterie lustig machen und dann bei Atemproblemen zum Doktor rennen? Das passt irgendwie nicht zusammen.

Alles läuft jetzt auf die Frage zu, wer Anrecht auf ein Krankenhausbett hat. Das ist der Flaschenhals. Wenn die Zahl der Infektionen weiter so steigt, gibt es nicht mehr genug Platz für alle. Noch ist der Punkt nicht erreicht, wo man Patienten abweisen muss, aber so fürchterlich weit sind wir davon nicht mehr entfernt.

Die juristische Lage ist vertrackt. Ich saß vergangene Woche mit einem Mitglied der bayrischen Staatsregierung zum Mittagessen zusammen. Wir sind die Möglichkeiten durchgegangen, die der Politik bleiben, um den Kollaps abzuwenden.

Impfpflicht für alle? Das bekommen wir nicht hin, sagte mein Gesprächspartner. 15 Millionen Deutsche gegen ihren Willen impfen lassen, wie soll das gehen? Wer sich bislang nicht hat impfen lassen, der will nicht. Der Anteil der Leute, die zu beschäftigt oder zu verpeilt waren, beizeiten das Impfzentrum aufzusuchen, ist gering.

Lockdown für alle? Da steigen einem die 70 Prozent Geimpfte aufs Dach. Warum haben wir uns impfen lassen, wenn alles wieder von vorne losgeht, würden sie sich zu Recht fragen. Bleibt die Zuteilung der Krankenhausbetten nach Härtegrad. Weil „Triage“ so hässlich klingt, spricht man lieber von „Auslastungsoptimierung“: Wer das Intensivbett nicht unbedingt braucht, wird auf eine andere Station verlegt. Nur, welche Kriterien sollen dabei gelten?

Mein Gesprächspartner verwies darauf, dass es unter Juristen die Schadensminderungspflicht gebe. Das war das Wort, das er benutzte. Wer darauf setzt, dass die Gesellschaft für ihn einsteht, von dem darf man erwarten, dass er seinen Teil dazu beiträgt, vermeidbare Risiken, nun ja, eben zu vermeiden. Mir erschien das plausibel.

Ein Freund, mit dem ich darüber diskutierte, verwies auf Raucher oder Trinker. Man würde ja auch keinem Raucher die Behandlung seines Lungenkarzinoms verweigern, weil er alle Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen missachtet habe, wandte er ein. Aber das Argument überzeugte mich nicht ganz.

Niemand käme auf die Idee, wegen fortgesetzten Rauchens den Katastrophen-fall auszurufen. Beziehungsweise: Wenn wegen der Raucher eine nationale Notlage einträte, würden wir dann nicht verlangen, dass sie sofort mit dem Rauchen aufhörten und andernfalls die Folgen ihres Handelns trügen, statt sie auf die Allgemeinheit abzuwälzen?

Vielleicht ist das der Weg: Impfpflicht für alle, aber man kann sich davon befreien lassen. Wer sich nicht impfen lassen will, muss vorher unterschreiben, dass er die Konsequenzen trägt. Im Netz kursiert eine entsprechende Patientenverfügung, die man sich herunterladen kann. Nennen Sie mich kaltherzig, aber ich finde in dem Fall: Wer A sagt, sollte auch B sagen.

©Sören Kunz

Eine Frage der Herkunft

Eine Studie sagt, dass Ungeimpfte eher weiblich sind, eher Kinder sowie ausländische Wurzeln haben. Auch wenn es tabu ist: Wer die Impf- bereitschaft steigern will, kommt nicht umhin, nach dem Migrationshintergrund zu fragen.

Warum lassen sich so viele Menschen nicht impfen? Mich beschäftigt die Frage. Viele Argumente sprechen fürs Impfen. Die Zahl der Infektionen steigt wieder, auch die Krankenstationen füllen sich. Auf den Intensivstationen liegen jetzt 1500 Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind. Über 90 Prozent der Patienten sind ungeimpft. Die Impfung verhindert eine Ansteckung nicht vollständig. Aber dass man so erkrankt, dass man beatmet werden muss, ist extrem unwahrscheinlich.

Ich gehöre zu den Menschen, denen es schon Anfang des Jahres nicht schnell genug gehen konnte. Kaum hatte in Bayern das erste Impfzentrum eröffnet, stand ich auf der Warteliste. Mein Impfpass hat keine freie Seite mehr. Tetanus, Typhus, Tollwut, Gelbfieber, japanische Enzephalitis – bei mir ist alles abgedeckt. Wenn mir der Arzt sagt, er würde eine Impfung empfehlen, rolle ich schon den Ärmel hoch.

Vielleicht bin ich zu sorglos. Ich komme aus einer Generation, die noch die Schluckimpfung kannte. Von einem Kind in der Nachbarschaft hieß es, es sitze seit der Polio-Prophylaxe im Rollstuhl. Ein sogenannter Impfschaden. Immer wenn der Junge an uns vorbeifuhr, schlugen wir ein Kreuz, dass dieses Schicksal an uns vorbeigegangen war. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, dass jemals davon die Rede gewesen wäre, dass man Impfungen misstrauen müsse. Wenn es in den siebziger Jahren schon Impfgegner gab, dann kann ihre Zahl nicht größer gewesen sein als die der Zeugen Jehovas.

Letzte Woche kam ich vor der Kita mit einem Vater ins Gespräch, der gerade aus dem Frankreichurlaub zurückgekehrt war. Wir unterhielten uns über die Quarantäne-Bestimmungen. Wie sich herausstellte, hat er sich bis heute nicht impfen lassen. Ich glaube, es ist der Widerwille, bei einer Sache Anordnungen Folge zu leisten, von der er findet, dass sie Privatsache sei. Eigentlich ist mir die Haltung sympathisch. Ich mag es auch nicht, wenn man mich bedrängt. Andererseits: Lieber einen Stich in den Arm als künstlich beatmet, denke ich mir.

Ab Oktober muss er jetzt jeden Test selbst bezahlen. Es wird ein Ringen. Je schwerer es ihm die Regierung macht, desto größer sein Widerwille. Ich vermute, dass er am Ende nachgeben wird, weil er es leid ist, jedes Mal einen Test zu machen, wenn er zum Friseur oder ins Restaurant will. Aber sicher bin ich mir nicht. Bayern können sehr stur sein.

Ich glaube, die Zahl der echten Impfgegner wird überschätzt. Die meisten denken wie der Vater aus meiner Kita. Oder sie sind sich unsicher, was die Nebenwirkungen angeht. Interessanterweise scheint die Zahl der Impfskep-tiker unter Krankenschwestern besonders hoch zu sein. Hier hat sich hier das Gerücht verbreitet, die Impfung mache unfruchtbar. Schwer zu sagen, wer das aufgebracht hat, aber es ist unter den Pflegekräften wie ein Lauffeuer herumgegangen.

Es gibt offenbar auch eine Menge Leute, die einfach die Dringlichkeit nicht sehen. Ich habe dazu ein aufschlussreiches Interview mit einem Lungenarzt gelesen, auf dessen Station viele Covid-Fälle liegen. Wenn er die Patienten bei der Aufnahme fragt, warum sie sich nicht rechtzeitig haben impfen lassen, sagen viele, sie seien organisatorisch noch nicht dazu gekommen. Oder: Sie hätten gedacht, mit einem guten Immunsystem sei man geschützt. Der Arzt spricht es nicht direkt aus, aber die Impfbereitschaft scheint auch eine Frage des sozialen Hintergrunds zu sein. Zu dem gleichen Schluss kommt auch eine diese Woche veröffentlichte Studie der Uni Erfurt, wonach Ungeimpfte eher weiblich sind, eher Kinder großziehen sowie öfter einen niedrigen Bildungsstand und ausländische Wurzeln haben.

Ich fühlte mich an ein Gespräch erinnert, das ich auf dem Höhepunkt der dritten Welle mit einem Bekannten hatte, der ein großes Klinikum in Deutschland leitet und der erzählte, dass eine erstaunlich hohe Zahl von Menschen auf der Intensivstation über einen Migrationshintergrund verfügten. Es sei in der Ärzteschaft ein offenes Geheimnis, dass die Zahl der Patienten mit ausländischen Wurzeln viel höher sei, als das ihrem Anteil an der Bevölkerung entspreche. Sollte man darüber nicht berichten, fragte ich. Wird schwierig, sagte mein Bekannter. Wenn du offiziell bei der Klinik anfragst, werden sie dir sagen, dass man keine Daten zu sozialer Herkunft oder ethnischem Hintergrund erhebt.

Herkunft ist ein Tabu, weshalb man ja auch nicht mehr sagen soll, ob der Handtaschenräuber aus Deutschland oder Rumänien stammt. Ich halte das für einen Fehler. Die Leute machen sich auch ohne Hilfestellung der Medien ihren Reim auf die Dinge. Wenn von einer Großhochzeit die Rede ist, die außer Kontrolle geraten sei, gehen die meisten stillschweigend davon aus, dass es sich nicht um eine typisch deutsche Festgemeinschaft gehandelt haben wird.

Es macht es auch schwerer gegenzusteuern. Wenn man wüsste, dass die Zahl von Menschen, die noch nicht geimpft sind, in migrantischen Vierteln besonders hoch ist, könnte man gezielt dort hingehen und für die Impfung werben. In Berlin boten sie Impfwilligen diese Woche einen Döner dazu an. Ich habe sonst wenig Vertrauen in die politischen Künste des Berliner Senats, aber das halte ich ausnahmsweise für eine gute Idee. Man kann sich darüber lustig machen, dass man Menschen mit Gutscheinen zum Impfen lockt. Aber wenn es hilft, Schwankende zu überzeugen, warum nicht?

Wir neigen dazu, von uns auf andere zu schließen. Das lässt sich durch die ganze Pandemie beobachten. Wenn die Politik den Bürgern Homeschooling empfiehlt, scheitern nicht wenige Bürger schon am Wort. Jetzt hat die Regierung eine Impfwoche ausgerufen. Dass es Menschen gibt, die keinen Hausarzt haben, weil ihnen ihre Gesundheit mehr oder weniger egal ist, können sich viele Politiker schlechterdings nicht vorstellen. So wie sie sich ja auch nicht vorstellen können, dass es Leute gibt, die sich morgens nicht einmal in der Lage sehen, ihren Kindern die Zähne zu putzen, geschweige denn ihnen ein vernünftiges Frühstück zuzubereiten.

Wir haben uns abgewöhnt, genauer hinzusehen, weil es nicht als opportun gilt. Wenn vom Leben am anderen Ende der Gesellschaft die Rede ist, dann in merkwürdiger verklärter Form. Wo jemand scheitert, sind immer die Verhältnisse schuld oder das System oder irgendeine höhere Macht, die man verantwortlich machen kann. Deshalb gibt es ja heute im Prinzip auch keine soziale Frage mehr, die sich nicht mit finanziellen Zuwendungen oder gutem Zureden lösen ließe.

In der „New York Times“ fand sich neulich ein langes Stück über die geringe Impfquote unter Schwarzen. Normalerweise lässt die „Times“ kein gutes Haar an den Hillbillys auf dem Lande, die auf Maske und Impfen pfeifen. In dem Fall war die Redaktion voller Verständnis. Die lange Geschichte der Diskriminierung lasse Schwarze skeptisch auf das Gesundheitssystem blicken, lautete der Tenor. Dass sich viele nicht impfen lassen wollen, sei so gesehen eine Bestätigung des latenten Rassismus der Gesellschaft.

Ich warte auf den Tag, wo auch in Deutschland jemand behauptet, dass die geringe Impfquote unter Migranten auf ihre Stigmatisierung zurückzuführen sei. Da ist mir der normale Impfgegner lieber, muss ich sagen. Der glaubt vielleicht an Quark. Aber er macht wenigstens andere nicht für seinen Quark verantwortlich.

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich bin auch in der Frage des Impfens ganz liberal eingestellt. Wenn sich jemand nicht impfen lassen will, sollte man ihn nicht dazu zwingen. Zu einer freiheitlichen Gesellschaft gehört das Recht, Risiken einzugehen, die Leute wie ich unbedingt vermeiden wollen. Ich sehe auch nicht, dass die Gefahr, dass Kinder ernsthaft erkranken, so groß ist, dass sie einen Impfzwang rechtfertigen würde.

Es sollte nur niemand erwarten können, dass wir alles noch einmal abschließen, wenn die Krankenhäuser wieder überlaufen. Wer dann keinen Platz auf der Intensivstation bekommt, weil das Immunsystem doch nicht stärker als das Virus war, hat Pech gehabt. Bislang drücken sich Politiker um eine klare Aussage herum, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass sie sich auch hier deutlich äußern.

©Michael Szyszka (mit Christianie Biniek)