„Beendet diesen Irrsinn endlich!“

Wir erleben eine neue Spaltung der Gesellschaft: dieses Mal nicht in Impfgegner und Impfbefürworter, sondern in Menschen, die ein Ende der Corona-Maßnahmen herbeisehnen, und andere, die sich genau davor fürchten

Es gibt ein neues politisches Kampfwort. Das Wort lautet „Durchseuchung“. Es ist ein böses, ein eisiges Wort. Man begegnet ihm auf Schritt und Tritt bei Menschen, die es unmöglich finden, dass trotz steigender Infektionszahlen alles weiter offen gehalten wird, insbesondere die Schulen und Kindergärten.

Sie könnten auch vom Lauf der Pandemie sprechen oder einfach sagen, dass das Virus gerade unter Kindern und Jugendlichen besonders grassiert. Aber das würde nicht so dramatisch klingen. Außerdem will man ja zu verstehen geben, dass die Regierung dahintersteckt.

Das ist die Idee bei dem Wort: dass es einen Plan der Mächtigen gibt, Minderjährige systematisch dem Virus auszusetzen, damit irgendwann alle infiziert sind und man zur Tagesordnung übergehen kann. Gewissermaßen die Virenchip-Theorie von links: Was dem Querdenker der Gates-Plan ist, wonach wir alle durch das Virus zu Befehlsempfängern der Wirtschaft gemacht werden sollen, das ist dem No-Covid-Anhänger die Durchseuchungsstrategie.

Sie denken, ich sauge mir das aus den Fingern? Das ist Originalton Jan Böhmermann, also Verschwörungstheorie mit ZDF-Siegel: „Die Wirtschaft verlangt, dass Eltern ihre Kinder in Schulen und Kindergärten stecken wollen. Husti, husti, auf geht’s Kids! Husti, husti.“

Meine Tochter hat im Januar das Virus aus der Kita nach Hause gebracht. Sie war einen Tag so schlapp, dass sie auf mir einschlief. Der PCR-Test fiel negativ aus. Das müsse nichts bedeuten, erklärte mir die Kinderärztin: Das Zeitfenster, in dem man das Virus bei Kindern nachweisen könne, sei eng.

Bei meiner anderen Tochter, zehn Monate alt, war dann auch der PCR-Test positiv. Sie hatte zwei Tage hohes Fieber, anschließend ging es wieder aufwärts. Beim Sohn wissen wir nicht, ob er sich angesteckt hat. Er zeigte keine Symptome. Aber ich gehe inzwischen fast davon aus, dass er die Krankheit hatte. Hat einer in der Familie Omikron, haben es in der Regel alle.

Ich will nicht so weit gehen wie Böhmermann, der Kinder mit Ratten verglich. Aber in dem Punkt hat er recht: Wer kleine Kinder hat, der entkommt dem Virus nicht. Entweder es erwischt einen über den Kindergarten oder über die Schule.

Ich beruhige mich damit, dass das Risiko, als Geimpfter ernsthaft zu erkranken, verschwindend gering ist. Bei Kindern liegt die Hospitalisierungsrate selbst ohne Impfung nahe null. Aber vielleicht nehme ich die Sache zu sehr auf die leichte Schulter.

In der „FAZ“ stand vor wenigen Tagen der Erlebnisbericht einer Mutter, die schilderte, wie sie den Glauben an Karl Lauterbach verlor. Sie habe gedacht, mit Lauterbach als Gesundheitsminister sei sie geschützt, der passe gut auf die Menschen auf. Dann steckte sich die ganze Familie mit Corona an.

„Ich sitze auf dem Rand der Badewanne und weine hemmungslos“, so begann der Bericht. Es folgte eine detaillierte Schilderung des häuslichen Elends: der Mann mit Glieder- und Halsschmerzen auf der Schlafcouch im Keller, Küche und Wohnzimmer ein einziges Chaos. Früher hätte man gesagt: Gott, wie’s halt aussieht, wenn einen die Grippe niederstreckt. Aber so darf man das nicht mehr sehen.

Dies ist ein Eintrag, den der Privatdozent Raphael Berger von der Uni Salzburg am 6. Februar im Netz hinterließ: „Wir haben jetzt mit meiner Teenagertochter den ersten Covid-Fall in der Familie. Sie hat den 2. Tag in Folge mittelstarke Halsschmerzen & ich finde, da hört sich langsam der Spaß auf. Beendet diesen Irrsinn endlich!“

Es gibt eine neue Spaltung der Gesellschaft: dieses Mal nicht in Impfgegner und Impfbefürworter, sondern in Menschen, die ein Ende der Corona-Maßnahmen herbeisehnen, und andere, die sich genau davor fürchten.

Die Spaltung lässt sich auch soziodemografisch beschreiben. Die alleinerziehende Mutter oder die prekär Beschäftigte mit Migrationsgeschichte sind im Kreis der No-Covid-Befürworter, die gerne wieder alle nach Hause schicken würden, nur selten anzutreffen. Dafür findet man dort überdurchschnittlich viele Menschen mit Hochschulabschluss und Mittelschichtshintergrund.

Die „New York Times“ widmete vor zwei Wochen eine ganze Ausgabe ihres Podcasts „The Daily“ der Frage, wie die Leute heute zur Pandemie stehen. Ergebnis: Die Virusangst verhält sich umgekehrt proportional zum Ansteckungsrisiko. Am meisten fürchten sich diejenigen, die objektiv am besten geschützt sind, weil sie alle Impfungen haben und sich bei Bedarf ins Homeoffice zurückziehen können.

Vielleicht ist die Angst vor dem Virus eine Frage der Bildung und damit des Medienkonsums. Wer mehr liest, der liest auch mehr, wovor er sich fürchten kann. Wenn es nicht mehr das Virus selbst ist, weil es seinen tödlichen Stachel verloren hat, dann sind es die Spätfolgen einer Erkrankung.

Long Covid heißt das neue Schreckgespenst. Für die ganz Kleinen kommt PIMS hinzu, eine seltene, aber hochgefährliche Autoimmunerkrankung. Kaum ein Artikel kommt ohne Hinweis auf mögliche Folgen aus. Ich will um Himmels willen nicht die Gefährlichkeit bestreiten. Meine Schwägerin leidet seit Jahren unter einem chronischen Erschöpfungssyndrom. Ich weiß aus erster Hand, welche Einschränkungen ein Leben mit dieser Krankheit bedeutet. Aber wie wahrscheinlich ist es, an Long Covid zu erkranken?

40 Prozent der Infizierten würden an Langzeitfolgen leiden, stand im Dezember in den Zeitungen mit Bezug auf eine Studie der Uni Mainz. Das würde bedeuten, dass Millionen Deutsche Symptome entwickeln werden. Eine bemerkenswerte Sache scheint dabei zu sein: Man bekommt Long Covid auch, wenn man nie an Corona erkrankt ist. So stand es im Kleingedruckten der Studie, worauf mich ein Freund hinwies.

Auffällig sei, dass auch Personen, die keine Sars-CoV-2- Infektion durchgemacht hätten, über ähnliche Symptome berichteten, las man dort. Wir können also festhalten: Wir haben es mit einer Erkrankung zu tun, die völlig unabhängig vom Virus auftritt. Das ist so bestürzend wie erleichternd. Dann spielt es auch keine Rolle mehr, ob man sich schützt oder nicht.

Meine Kinderärztin berichtete von zwei Gruppen von Kindern, die nach zwei Jahren schwere Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Die eine Gruppe, die es schwer getroffen hat, sind die Kinder von Impfgegnern. Manche Leute gehen offenbar so weit, dass sie auch jeden Test ablehnen. So sitzen die Kinder dann in der Schule, ungetestet und ungeimpft, Außenseiter par excellence, weil die Eltern beschlossen haben, dass man den Kleinen nicht mal mit einem Wattestäbchen zu nahe kommen dürfe.

Die andere Gruppe, die nach Aussage der Ärztin schlimm dran ist, sind die Kinder von Eltern, die in panischer Angst vor Ansteckung leben. Daran hat auch die Impfung nichts ändern können. Man mache sich keine Vorstellung, sagte sie, was es für ein Kind bedeute, wenn ihm von morgens bis abends eingebleut werde, dass draußen ein tödliches Virus lauere.

Wie sieht die Zukunft aus? Es gibt ja immer eine neue Variante, vor der man sich ängstigen muss, und damit eine neue Welle. Wenn man auf Abstandsregeln, Impfung und Maske nicht vertrauen kann, dann bleibt nur die dauerhafte Selbstabschließung der Gesellschaft.

Das exakt ist das, was empfohlen wird: zu Hause im Bett bleiben. So wie die Kolumnistin Margarete Stokowski, die nach überstandener Omikron-Erkrankung jetzt schrieb, dass das „Projekt Durchseuchung“ zeige, wie vielen Menschen der „faschistische Gedanke“ gefalle, dass man auf die Schwächsten gut und gerne verzichten könne.

Ich fand bislang, dass die Entscheidung, die Kinder nicht wieder zu Hause einzusperren, für die Politik spricht. Aber was verstehe ich schon von Faschismus.

©Michael Szyszka

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