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Der Niedergang

„Sagen, was ist“, hat „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein seinen Redakteuren mit auf den Weg gegeben. Heute verfährt die Redaktion lieber nach dem Motto: „Sagen, was sein soll“. Dabei kommt es zu haarsträubenden Fehlern

Der Brief, der die Meinung der „Spiegel“-Redaktion über Friedrich Merz zusammenfasst, ist 22 Zeilen lang. Er findet sich auf den letzten Seiten des Heftes, wo die Zuschriften der Leser abgedruckt sind.

Peter Krizan aus dem bayrischen Neuötting berichtet dort von einem desaströsen Auftritt des heutigen Kanzlerkandidaten an der Universität St. Gallen. Vor 20 Jahren habe Merz eine Vorlesung als Honorarprofessor gegeben, die so blamabel verlaufen sei, dass der Auftritt von der renommierten Hochschule als Schande empfunden worden sei. Unter den Studenten sei es zu Tumulten gekommen. Die Universitätsleitung habe sich gezwungen gesehen, sich vorzeitig von Merz zu trennen, um das ramponierte Image wiederherzustellen. Quite a story, wie der Engländer sagen würde.

Leider stimmt an der Geschichte nichts. Merz war nie zu Vorlesungen in St. Gallen; er hat schon gar nicht Wirtschaftswissenschaften unterrichtet, weder in der Schweiz noch anderswo. Merz ist Jurist, wie man leicht ergoogeln kann. Der Leserbriefschreiber, ein pensionierter Verfahrenstechniker, existiert, das immerhin. Aber alles andere entspringt der Fantasie.

Wie Krizan der „Süddeutschen“ berichtete, hatte er sich erinnert, dass sein Sohn in St. Gallen studiert und von einem Auftritt des CDU-Politikers erzählt habe. Weil der Sohn gerade nicht greifbar gewesen sei, habe er ChatGPT befragt, was die KI zu dem Vorfall wisse, worauf ihm obige Geschichte präsentiert worden sei, die er wiederum als Leserbrief nach Hamburg an den „Spiegel“ geschickt habe. Naja, habe er sich gedacht, die haben ja einen Faktencheck, die werden das schon überprüfen. Umso größer dann sein Erstaunen, als der Brief unverändert im „Spiegel“ erschien.

Ich habe 30 Jahre für den „Spiegel“ gearbeitet. Ich hatte dort eine prima Zeit. Anders, als viele vermuteten, wurde ich auch nicht weggemobbt. Der damalige Chefredakteur hat mir glaubhaft versichert, dass er meinen Wechsel aufrichtig bedauere, als ich zu Burda ging. Aber wenn ich heute das Blatt lese, erkenne ich es kaum wieder.

Der Redaktion steht eine Dokumentation zur Seite, die ihresgleichen sucht. Jeder Text geht durch mehrere Hände, auch die Leserbriefe. Wie kann es also sein, dass ein Brief, der Behauptungen enthält, die jeder Plausibilität entbehren, seinen Weg ins Heft findet? Tumulte an einer Uni, weil BWL-Studenten mit der Qualität einer Vorlesung nicht einverstanden sind – und das ausgerechnet in der Schweiz? Da lachen ja die Hühner, wie man so schön sagt.

Der Quatsch fällt niemandem auf, weil er das Bild bedient, das man sich bis in die Chefredaktion von der CDU und ihrem Kandidaten gemacht hat. Hätte es sich um Robert Habeck gehandelt, wäre ein solcher Brief gleich in der Ablage Papierkorb gelandet. Aber bei Merz scheint alles möglich. Das ist wie beim Fall Relotius: Auch da versagten alle Sicherheitskontrollen, weil die Geschichten perfekt der Erwartungshaltung der Redaktion entsprachen.

„Sagen, was ist“, steht an einer Wand im Atrium des Verlagsgebäudes an der Hamburger Ericusspitze, ein Satz des Gründers Rudolf Augstein, mit der er seine Redakteure verpflichten wollte, über den politischen Gestaltungswillen die Wirklichkeit nicht zu vergessen. Tempi passati. „Sagen, wie es sein soll“, lautet das Motto, dem sich die Redaktion heute verpflichtet fühlt.

Damit man mich nicht missversteht: Es gibt wunderbare Kollegen beim „Spiegel“. Immer wieder findet man auch Geschichten, die es in dieser Qualität nur dort gibt. Aber es ist ein Glücksspiel geworden, ob sich der Kauf des Heftes lohnt. Oft herrscht nur gähnende Ödnis.

„Es ist bitter zu sehen, wie die ‚Zeit‘ jetzt regelmäßig den ‚Spiegel‘ abkocht“, schrieb ich neulich einem Kollegen, der wie ich inzwischen woanders arbeitet. „Mir liegt das Blatt immer noch am Herzen, und ich leide wirklich mit, dass es jetzt oft so abgehängt wirkt“, schrieb er zurück.

Früher hat man sich beim „Spiegel“ lustig gemacht, dass die „Zeit“ am Donnerstag die Geschichten kommentierte, die zuvor im „Spiegel“ gestanden hatten. Heute ist es genau umgekehrt. Wie die FDP den Ampel-Bruch vorbereitete oder die Grünen einen der ihren mit erfundenen Me-Too-Vorwürfen erledigten, liest man zuerst in der „Zeit“. Im „Spiegel“ folgt dann die Nachbereitung in der „Lage am Morgen“ – oder eine „Analyse“ der Vorgänge aus der Feder der stellvertretenden Berliner Büroleiterin Maria Fiedler.

Nichts gegen gepfefferte Kommentare. Aber selbst die wirken heute oft seltsam blutleer, weil kaum noch jemand aus der Reihe tanzt. Natürlich sind die Grünen, bei allen Fehlern, die Partei der Wahl. Selbstverständlich ist Trump verachtenswert und Musk noch verachtenswerter und die Sorge um die Demokratie und den liberalen Westen das, was uns alle bewegen muss.

Weil das auf Dauer kein abendfüllendes Programm ist, verlegt sich die Redaktion darauf, dieselben Gegner einfach noch einmal zu vermöbeln. Wenn ich mich nicht verzählt habe, gab es nach der Abstimmung über die Migrationspläne der CDU allein sechs Kommentare, weshalb Merz einen desaströsen Fehler begangen habe. Dass mitunter die Korrekturhinweise unter den Kommentaren fast so lang sind wie der Kommentar selbst, weil sich die Kommentatoren in ihrem Eifer über alle möglichen Fakten hinweggesetzt haben? Geschenkt. Es geht ja gegen die Richtigen.

Ginge es nur um den „Spiegel“, könnte man sagen: Nun ja, der „Spiegel“ halt. Aber ich sehe hier einen Trend. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es mit der Selbstabschottung eines journalistischen Milieus zu tun, das alles, was der eigenen Meinung widerspricht, einfach ausblendet – oder zum Werk von Feinden erklärt, denen man aus höheren Gründen trotzen müsse.

Wie sich die Dinge verschoben haben, sieht man bei dem, was für preiswürdig gehalten wird – und was nicht. Man kann aus der journalistischen Jurypraxis geradezu ein Gesetz ableiten: Wenn sich Teile der Berichterstattung als fragwürdig oder unwahr herausstellen, erhöht das eher die Chance auf eine Auszeichnung.

Wer erhielt den renommierten „Stern“-Preis für die „Geschichte des Jahres 2022“? Der „Spiegel“ für seinen Artikel „Warum Julian Reichelt gehen musste“ – und dabei blieb es auch, als sich wesentliche Vorwürfe der Hauptbelastungszeugin als frei erfunden erwiesen. Wer bekam die Auszeichnung für die „Geschichte des Jahres 2024“? Die „Süddeutsche“ für den Ursprungstext über den Fall Aiwanger, von dem selbst der „SZ“-Chefredakteur in einer Redaktionskonferenz gesagt hatte, das man das so im Nachhinein nicht hätte machen sollen.

Wer sind die „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2024“?: Das Team des Recherchenetzwerks „Correctiv“, dessen aufsehenerregende Reportage über die Remigrationspläne der AfD vor den Gerichten so zerpflückt wurde, dass man die Redaktion gerichtsfest der Unwahrheit bezichtigen darf. Funfact: Am Tag, als das „Medium Magazin“ die „Correctiv“-Mannschaft als Vorbild für die Branche auszeichnete, erklärte das Landgericht Berlin II die Bezeichnung „dreckige Lüge“ für den von ihr publizierten „Geheimplan“ als zulässig.

Wird sich etwas ändern? Ich habe wenig Hoffnung. Am Montag entschuldigte sich der „Spiegel“ bei seinen Lesern für den Abdruck des fehlerhaften Leserbriefs. Man habe ihn „depubliziert“. Das ist das Wort, auf das man sich redaktionsintern geeinigt hat. Es klingt nicht nur ungleich vornehmer als „gelöscht“ oder „entfernt“. In ihm schwingt auch die Suggestion mit, bei der Löschung handele es sich um eine souveräne Entscheidung der Redaktion.

Selbstverständlich saß die stellvertretende Chefredakteurin Melanie Amann, die am Wochenende die Depublizierung verfügt hatte, am Sonntag schon wieder bei „Caren Miosga“ – als „die einzig Unparteiische hier an diesem Tisch“, wie die Talkshow-Moderatorin die „Spiegel“-Frau vorstellte. Unparteiisch? Da muss nicht nur der „Spiegel“-Abonnent herzhaft lachen. Anderseits gilt bei Miosga jeder als unparteiisch, der sein Kreuz links der Mitte macht. Parteiisch sind immer die andern. So schließt sich der Kreis.

Weil nichts Konsequenzen hat, auch die haarsträubendsten Fehler nicht, gibt es auch keine Veranlassung, etwas zu ändern. Das Vertrauen der Leser erodiert, aber das ist ein anderes Thema. Damit beschäftigt man sich dann auf Podien, in denen man das sinkende Vertrauen in die Demokratie beklagt.

© Sören Kunz

Aus Trotz ein Steak. Im Flieger

Erinnern wir uns, wofür die Linken einmal angetreten waren: gegen das Moralinsaure, gegen die Prüderie, gegen das Bigotte in den Verhältnissen. Wenn nicht alles täuscht, ist es damit vorbei.

Diese Kolumne ist ein Nachruf. Sie ist ein Nachruf auf eine bekannte Journalistin. Und sie ist der Nachruf auf eine politische Bewegung, mit der es zu Ende geht, weil das, wofür sie stand, als überholt oder als gefährlich gilt.

Die Journalistin Bettina Gaus ist gestorben. Am 21. Oktober erschien ihre letzte Kolumne. Sie trug den Titel „Die Entmündigung der Frau“ und ging der Frage nach, warum in Beziehungen mit männlichen Vorgesetzten die Frau immer als Opfer gesehen wird, auch dann, wenn sie eine solche Beziehung wünscht. In ihrer Redaktion stieß das nicht nur auf Zustimmung, wie man sich denken kann.

Es war ein klassischer Gaus-Text: quer zur gewünschten Linie, geschrieben in tätigem Angedenken an das, wofür die Linken einmal angetreten waren – gegen das Moralinsaure, gegen die Prüderie, gegen das Bigotte in den persönlichen und politischen Verhältnissen.

Bevor sie sich an den nächsten Text machen konnte, wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie am nächsten Tag verstarb. Wollte man pathetisch sein, würde man sagen: Der Tod hat ihr den Stift aus der Hand genommen. Natürlich war sie auch eine starke Raucherin, was sonst? Die E-Zigarette war noch nicht erfunden, als sie zu schreiben begann. Das korrekte Leben war ohnehin nicht so ihre Sache.

Man kann von Bettina Gaus manches lernen. Man kann zum Beispiel lernen, was Schreibdisziplin bedeutet. Die meisten Leute würden, wenn sie die Diagnose erhielten, sie hätten nicht mehr lange zu leben, alles stehen und liegen lassen. Aber so ist das bei Journalisten, für die das Schreiben mehr als ein Brotberuf ist: Sie machen einfach weiter. Der große Konservative William F. Buckley wurde einmal gefragt, warum er so viel schreibe. Weil er Angst habe, dass die andere Seite mehr schreibe, war seine Antwort.

Gaus entstammte einer Welt, die bürgerliche Bildung und linke Grundhaltung noch mühelos verband. Auch daran lohnt es zu erinnern, weil es so selten geworden ist. Ich kenne das Milieu aus eigener Anschauung. Es ist eine Welt, in der man Thomas Mann las und Bach hörte und gleichzeitig den Sandinisten in Nicaragua die Daumen drückte und für den Freiheitskampf des angolanischen Volkes die Sammelbüchse herumreichte.

Natürlich sah man sich auf der richtigen Seite der Geschichte. Aber da man sich einen Sinn für die Unübersichtlichkeit und die Widersprüche des Lebens bewahrt hatte, war es einem möglich, weiterhin mit Menschen zu verkehren, die eine ganz andere politische Auffassung vertraten als man selbst.

Ich habe Bettina Gaus ein paarmal getroffen, meist auf Podien oder bei Diskussionsrunden, wo wir zusammen eingeladen waren. Sie war streitlustig, auch bissig, wenn es sein musste, aber eben nie beckmesserisch oder verklemmt oder verbiestert wie so viele, die sich heute der Linken zurechnen. „Aus Trotz ein Steak. Im Flieger“: So eine Überschrift würde sich die Belegschaft des politisch wachen Journalismus, die jetzt den Ton angibt, nicht mal im Scherz trauen.

Die Linke, mit der ich groß wurde, war eine Bewegung gegen falsche Autoritäten. Gegen das Miefige und Spießige, das einen aus den Überresten der 50er Jahre anwehte. Es gab auf der Linken immer schon den pietistischen Flügel, der streng darauf achtete, dass niemand aus der Reihe tanzte. Der Strichlisten führte, wer als Abweichler oder Konterrevolutionär aufgefallen war. Aber daneben gab es eben auch die Sponti-Fraktion, die sich einen Jux daraus machte, alles einzureißen, was die Genossen vorne an ideologischen Pappwänden aufgebaut hatten.

Diese Linke zeichnete eine gewisse Furcht- und Respektlosigkeit aus, eine fast anarchische Lust an der Regelverletzung. Die Vertreter der neuen Linken hingegen bilden sich ein, sie wären schon wahnsinnig mutig und umstürzlerisch, wenn sie ihre Malaisen und Zurückweisungen zur Schau stellen. Dabei sind die meisten Malaisen nur eingebildet, und die größte Heldengeschichte ist am Ende die Absage einer Buchlesung.

Gaus hatte für all das noch ein Gespür, deshalb wurde es auch einsam um sie. Im März verließ sie die „taz“, für die sie 30 Jahre geschrieben hatte – erst als Afrika-Korrespondentin, dann als Leiterin des Parlamentsbüros. Der Streit über einen Text, in dem Polizisten zu Abfall erklärt wurden, hat sie über Nacht heimatlos gemacht.

Die Autorin, eine dieser queerfeministischen Stimmen, die in der Medienwelt auf Händen getragen werden, weil sie die aufregende Exotik des Fremden verkörpern, hatte in einer Kolumne Polizisten auf den Müllhaufen gewünscht, zu ihresgleichen, wie es in dem Text hieß. Gaus erkannte das als das, was es ist: einen eklatanten Bruch mit den Grundsätzen, für die sie angetreten war. Entsprechend harsch fiel ihre Replik aus.

Man hatte sie in der „taz“ gedruckt. Aber im darauf einsetzenden Sturm fühlte sie sich unzureichend geschützt, auch vor dem Mob in den eigenen Reihen, der sie als Feindin markierte und dann wie eine Feindin behandelte. Man unterschätzt leicht, wie verletzlich auch Frauen sein können, die beim Wettbewerb, wer am meisten Hass aushalten muss, nicht die Hautfarbe oder Gesinnung der Saison haben. Fortan schrieb sie beim „Spiegel“.

Die Trennlinie verläuft durch viele Redaktionen, die einmal für ein progressives Deutschland stritten: auf der einen Seite die alten Linken, die noch an so altertümliche Dinge wie Menschenwürde und die Kraft des Arguments glauben – und auf der anderen die Truppen, die aus Modefächern wie den Postcolonial Studies hereingeschwemmt kommen und den Mangel an Sprachwitz und Schlagfertigkeit durch besondere Gesinnungstreue wettmachen. Was ihnen an Bildung fehlt, ersetzen sie durch Lautstärke. An die Stelle der Neugier ist die Wachsamkeit getreten, an die Stelle des Arguments das Twitter-Gekreisch.

Vor allem ist die moderne Linke grausam humorlos. Nichts fürchtet der Eiferer so sehr wie die Ironie. Das Lachen ist das Erste, was im Königreich des Himmels verboten wird. Das verbindet die Adepten des neuen Denkens übrigens mit ihren Feinden. Auch in der AfD wird nicht gelacht. Oder wenn sie dort lachen, kommt ein merkwürdiges Aufstampfen heraus.

Elke Heidenreich hat recht, die meisten Vertreter der neuen Linken lesen nichts mehr. Das ist das Paradoxe: Keine Generation ist so obsessiv mit Sprache beschäftigt wie die Generation Gender. Ein falsches Wort kann hier ausreichen, um bleibenden Schaden zu hinterlassen. Gleichzeitig ist sie merkwürdig desinteressiert an Wohlklang und Schönheit der Sprache. Auch das ist ja ein Signet der neuen Bewegung, dass sie zu einer nennenswerten Theoriebildung nicht mehr in der Lage ist.

Alles, was die Anhänger im Angebot haben, ist neben ein paar traurigen MeToo-Texten und den modischen Umdeutungen des Holocaust zu einem zweitrangigen Ereignis das gebetsmühlenhaft vorgetragene Bekenntnis, dass die Wurzel allen Übels der Rassismus sei. Wenn man mit ihnen über Heine oder George Sand oder die Liebesbriefe von Kafka reden wollte, blickte man in tote Augen.

Der Text, mit dem sich Bettina Gaus von der „taz“ verabschiedete, hieß: „Abschließende Gedanken über ‚Macht‘“. Darin findet sich der Satz: „Die Frage ist natürlich, wer eigentlich die Ohnmächtigen sind – und ob es immer diejenigen sind, die sich dafür halten.“

Die Leute, die anderen gerne vorhalten, sie sollten ihre Privilegien überprüfen, sind ja in der Regel nicht das, was man unterprivilegiert nennt. Sie sind mehrheitlich besser ausgebildet als andere in der Gesellschaft. Sie sind besser vernetzt, besser gestellt und besser angesehen ohnehin.

Philister ist das alte Wort für den Kleingeist, dem die Prinzipientreue über alles geht. Ich habe neulich einen schönen Satz des Dramatikers Friedrich Hebbel gefunden: „Der Philister hat oft in der Sache recht, nie in den Gründen.“ Ich bin sicher, der Satz hätte Bettina Gaus gefallen.

©Sören Kunz

Grenzen des Erlaubten

Reicht eine Büroaffäre, um die Karriere zu ruinieren? Oder braucht es dazu mehrere? Und was macht der „Spiegel“ mit einem Herausgeber, der zum Vorstellungsgespräch im Bademantel empfing? Fragen der Woche

Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns, sammelt weibliche Akte. Über die Jahre hat er eine Auswahl an Bildern nackter Frauen zusammengetragen, die ihresgleichen sucht. Ich habe die Sammlung nie in Augenschein genommen, aber dem Vernehmen nach befinden sich in ihr auch einige explizite Darstellungen des weiblichen Geschlechtsorgans. Ein Besucher berichtete mir von einer Party im Hause des Verlegers, bei der ein Blick auf die Bilder bei einer Reihe älterer Damen deutliches Erröten hervorgerufen habe.

Ziemt sich eine solche Sammlung für den Vorsitzenden eines der größten Medienkonzerne der Welt? Das ist eine ernste, auch ernst gemeinte Frage. Man kann ihr nach diesen Tagen, in denen die Standards der Sexualmoral im Mediengewerbe neu justiert werden, nicht mehr ausweichen.

Springer hat sich wegen ungebührlichen Verhaltens vom Chefredakteur der „Bild“ getrennt. Unter Medienleuten ist der Abgang beherrschendes Thema. Da nicht alle Menschen an Branchengeschichten einen solchen Anteil nehmen wie die Angehörigen der Branche selbst, erwähne ich es hier lieber noch einmal. Es gibt mehr Leser, die nicht wissen, wer Mathias Döpfner oder Julian Reichelt ist, als viele in meinem Gewerbe sich das vorstellen können.

Ich habe alle Geschichten zur Entlassung von Julian Reichelt, dem „Bild“-Chefredakteur, gelesen. Wie in solchen Fällen üblich, gehen die Darstellungen auseinander. Folgendes scheint unstreitig: Reichelt hatte über die Jahre eine Reihe wechselnder Beziehungen, darunter zu Volontärinnen und Redakteurinnen des von ihm geleiteten Blattes. Die Frauen waren jünger als er. Sie standen zumeist am Beginn ihrer Karriere, und sie befanden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis, das heißt, Reichelt konnte über ihr Fortkommen entscheiden und tat das auch.

Keine der Frauen wirft ihm vor, sie bedrängt oder genötigt zu haben, das unterscheidet den Fall von den bekannten MeToo-Geschichten. Die Mitarbeiterinnen, die anlässlich einer internen Untersuchung befragt wurden, bestätigten, dass der Sex einvernehmlich war. Die junge Frau, die in der Berichterstattung als Hauptbelastungszeugin fungiert, spricht davon, dass sie sich in Reichelt verknallt habe, weil sie ihn charmant und vertrauenswürdig fand.

Jede Geschichte über moralische Verfehlungen dient dazu, die Grenzen des Erlaubten neu zu verhandeln, wie das so schön heißt. Das Wort ist nicht von ungefähr aus der Gerichtssprache entlehnt. Alle Berichte fußen auf der Annahme, dass es sich nicht gehöre, mit Untergebenen sexuelle Beziehungen einzugehen. Reichelt selbst hat angeblich zu einer Kollegin, mit der er eine Affäre hatte, gesagt, sie würden beide „großen Ärger“ bekommen, wenn herauskäme, dass sie zusammen seien.

Ist das so? Reicht eine Büroaffäre, um eine Karriere zu ruinieren? Das wäre wichtig zu wissen. Dann müssten viele Leute in Deutschland um ihren Job bangen, auch beim „Spiegel“, der die Vorgänge in den Chefetagen bei Springer mit besonderer Obsession verfolgt. Oder ist man erst in Schwierigkeiten, wenn man Affären in Serie eingeht und sich damit der „Zügellosigkeit“ schuldig macht, wie der Vorwurf der Sittenwächter aus dem Norden lautet.

Ich will Reichelt nicht verteidigen. Damit käme ich ohnehin zu spät. Wie man hört, sind die Emissäre aus der Springer-Zentrale mit Geldkoffern unterwegs, um einen Rechtsstreit abzuwenden. Ich bin allerdings stets dafür, klar zu benennen, was man jemandem vorwirft, den man für untragbar hält.

Je unbestimmter die Vorhaltungen, desto misstrauischer werde ich. „Kultur der Angst“ oder „schmierige Unternehmenskultur“ sind Tatbestände des Innuendos, die den Vorteil haben, dass man sie nicht widerlegen kann, deshalb sind sie ja auch schnell hingeschrieben. Bei jedem regulären Arbeitsgerichtsprozess flögen sie allerdings zum Fenster raus.

Wer die medialen Anklageschriften liest, muss den Eindruck gewinnen, dass die politischen Verfehlungen als mindestens so gravierend empfunden werden wie die persönlichen. Seitenweise wird dort aufgelistet, welchem falschen Weltbild die leitenden Herren bei Springer anhängen (Zitat aus den Vorhaltungen: „…schrieb Fans der Grünenpolitikerin Annalena Baerbock nieder“, „…wettert in Kommentaren gegen die Linke“).

Es wäre interessant zu erfahren, wie man sich zum Beispiel beim „Spiegel“ die ideale „Bild“ vorstellt. Auf Seite eins: „Was wir Europa zu verdanken haben“. Auf Seite zwei dann das große Plädoyer, warum Robert Habeck unbedingt Finanzminister werden muss. Und im Sportteil die endgültige Abrechnung mit Impfskeptiker Joshua Kimmich und weshalb er uns alle betrogen hat. Vermutlich so.

Mich stimmt es auch skeptisch, wenn der Zeigefinger pfeilgerade in eine Richtung zeigt, ohne dass bedacht wird, dass drei Finger auf einen zurückweisen. Ich will hier nicht ins Detail gehen, Indiskretion im Privaten ist meine Sache nicht. Aber der Ressortleiter, der Sekretärinnen ins Hotel einlädt? Der Korrespondent, der der Assistentin nachstellt? Der Chefredakteur, der sich in eine Redakteurin verliebt? Der „zügellose Boys Club“, um bei der Formulierung zu bleiben, kennt mehr als eine Heimat.

Treue „Spiegel“-Leser werden sich die Augen reiben, wenn ab kommenden Samstag das Impressum um den Namen Rudolf Augstein bereinigt ist, aber daran führt jetzt wohl kein Weg mehr vorbei. Ein Mann, der zum Vorstellungsgespräch im Bademantel empfing? Der die Bewerberin fragte, ob sie nicht auch ficken wolle, ficken mit langem i gesprochen? Außerdem war Augstein nach den heutigen Maßstäben ein schlimmer Nationalist. Das allein müsste reichen, den Namen des Herausgebers aus der ersten Zeile des Impressums zu tilgen.

Zu Augsteins Verteidigung muss man sagen: Wenn die Bewerberin ablehnte, machte er den Bademantel wieder zu. Aber, bitt’ schön, wir haben schon aus geringerem Anlass Statuen geköpft, Universitäten umbenannt und Seminare gesprengt: Und da soll sich ein fortschrittlich gesinntes Magazin wie der „Spiegel“ nicht von einem Herausgeber trennen können, der für alles steht, was man heute verachtet? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Auch für die Gegenwart ergeben sich Fragen. Was machen wir mit dem Chefredakteur, der eine Affäre mit einer Kollegin aus dem Auslandsressort hat? Sehen wir darüber hinweg? Muss er seinen Posten niederlegen? Im Fall des Chefredakteurs, den ich vor Augen habe, mündete das ganze in einer Ehe. Vielleicht ist das die Lösung: Wer eine Büroaffäre beginnt, muss heiraten. Damit hätten wir den Kreis zu den 50er Jahren endgültig geschlossen.

In den USA sind sie schon weiter. Da werden ja auch vor Ausstellungen, die die Besucher verstören könnten, Warnhinweise verteilt. Der Redakteur der „New York Times“, der den Stein bei Springer ins Rollen brachte, empfiehlt die Versetzung eines der beiden Partner, sobald einer dem anderen vorgesetzt ist. Das klingt vernünftig. Aber je höher jemand aufgestiegen ist, desto schwerer wird es, sich an den Grundsatz zu halten. Im Zweifel muss dann einer der beiden die Firma verlassen. Im Zweifel ist es die Frau.

Wollen wir amerikanische Verhältnisse? Das sollten wir uns fragen. Der Chef von McDonald’s erhielt die Kündigung, als herauskam, dass er sich in eine Mitarbeiterin verliebt hatte. Mit der Beziehung habe er ein „schlechtes Urteilsvermögen“ an den Tag gelegt und gegen Vorschriften der Firma verstoßen, erklärte der Aufsichtsrat. Eine Liebesbeziehung als Verstoß gegen den Verhaltenskodex: Der Weg der Moral ist abschüssig. Man rutscht auf ihm schneller aus, als mancher denkt.

Die Kolumnistin Bettina Gaus hat vergangene Woche daran erinnert, dass es noch nicht so lange her ist, dass man es als unzulässige Einmischung des Arbeitgebers empfunden hätte, wenn der einen gefragt hätte, mit wem man was angefangen habe. Gaus war viele Jahre bei der „taz“, bevor sie im April zum „Spiegel“ wechselte. Sie gehört einer Generation an, die gegen den Muff der 50er Jahre kämpfte. Diese Generation hätte, im Gegensatz zu den Vertretern der neuen Sexualmoral, auch nichts gegen Aktbilder an der Wand einzuwenden gehabt.

©Michael Szyszka