Erinnern wir uns, wofür die Linken einmal angetreten waren: gegen das Moralinsaure, gegen die Prüderie, gegen das Bigotte in den Verhältnissen. Wenn nicht alles täuscht, ist es damit vorbei.
Diese Kolumne ist ein Nachruf. Sie ist ein Nachruf auf eine bekannte Journalistin. Und sie ist der Nachruf auf eine politische Bewegung, mit der es zu Ende geht, weil das, wofür sie stand, als überholt oder als gefährlich gilt.
Die Journalistin Bettina Gaus ist gestorben. Am 21. Oktober erschien ihre letzte Kolumne. Sie trug den Titel „Die Entmündigung der Frau“ und ging der Frage nach, warum in Beziehungen mit männlichen Vorgesetzten die Frau immer als Opfer gesehen wird, auch dann, wenn sie eine solche Beziehung wünscht. In ihrer Redaktion stieß das nicht nur auf Zustimmung, wie man sich denken kann.
Es war ein klassischer Gaus-Text: quer zur gewünschten Linie, geschrieben in tätigem Angedenken an das, wofür die Linken einmal angetreten waren – gegen das Moralinsaure, gegen die Prüderie, gegen das Bigotte in den persönlichen und politischen Verhältnissen.
Bevor sie sich an den nächsten Text machen konnte, wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie am nächsten Tag verstarb. Wollte man pathetisch sein, würde man sagen: Der Tod hat ihr den Stift aus der Hand genommen. Natürlich war sie auch eine starke Raucherin, was sonst? Die E-Zigarette war noch nicht erfunden, als sie zu schreiben begann. Das korrekte Leben war ohnehin nicht so ihre Sache.
Man kann von Bettina Gaus manches lernen. Man kann zum Beispiel lernen, was Schreibdisziplin bedeutet. Die meisten Leute würden, wenn sie die Diagnose erhielten, sie hätten nicht mehr lange zu leben, alles stehen und liegen lassen. Aber so ist das bei Journalisten, für die das Schreiben mehr als ein Brotberuf ist: Sie machen einfach weiter. Der große Konservative William F. Buckley wurde einmal gefragt, warum er so viel schreibe. Weil er Angst habe, dass die andere Seite mehr schreibe, war seine Antwort.
Gaus entstammte einer Welt, die bürgerliche Bildung und linke Grundhaltung noch mühelos verband. Auch daran lohnt es zu erinnern, weil es so selten geworden ist. Ich kenne das Milieu aus eigener Anschauung. Es ist eine Welt, in der man Thomas Mann las und Bach hörte und gleichzeitig den Sandinisten in Nicaragua die Daumen drückte und für den Freiheitskampf des angolanischen Volkes die Sammelbüchse herumreichte.
Natürlich sah man sich auf der richtigen Seite der Geschichte. Aber da man sich einen Sinn für die Unübersichtlichkeit und die Widersprüche des Lebens bewahrt hatte, war es einem möglich, weiterhin mit Menschen zu verkehren, die eine ganz andere politische Auffassung vertraten als man selbst.
Ich habe Bettina Gaus ein paarmal getroffen, meist auf Podien oder bei Diskussionsrunden, wo wir zusammen eingeladen waren. Sie war streitlustig, auch bissig, wenn es sein musste, aber eben nie beckmesserisch oder verklemmt oder verbiestert wie so viele, die sich heute der Linken zurechnen. „Aus Trotz ein Steak. Im Flieger“: So eine Überschrift würde sich die Belegschaft des politisch wachen Journalismus, die jetzt den Ton angibt, nicht mal im Scherz trauen.
Die Linke, mit der ich groß wurde, war eine Bewegung gegen falsche Autoritäten. Gegen das Miefige und Spießige, das einen aus den Überresten der 50er Jahre anwehte. Es gab auf der Linken immer schon den pietistischen Flügel, der streng darauf achtete, dass niemand aus der Reihe tanzte. Der Strichlisten führte, wer als Abweichler oder Konterrevolutionär aufgefallen war. Aber daneben gab es eben auch die Sponti-Fraktion, die sich einen Jux daraus machte, alles einzureißen, was die Genossen vorne an ideologischen Pappwänden aufgebaut hatten.
Diese Linke zeichnete eine gewisse Furcht- und Respektlosigkeit aus, eine fast anarchische Lust an der Regelverletzung. Die Vertreter der neuen Linken hingegen bilden sich ein, sie wären schon wahnsinnig mutig und umstürzlerisch, wenn sie ihre Malaisen und Zurückweisungen zur Schau stellen. Dabei sind die meisten Malaisen nur eingebildet, und die größte Heldengeschichte ist am Ende die Absage einer Buchlesung.
Gaus hatte für all das noch ein Gespür, deshalb wurde es auch einsam um sie. Im März verließ sie die „taz“, für die sie 30 Jahre geschrieben hatte – erst als Afrika-Korrespondentin, dann als Leiterin des Parlamentsbüros. Der Streit über einen Text, in dem Polizisten zu Abfall erklärt wurden, hat sie über Nacht heimatlos gemacht.
Die Autorin, eine dieser queerfeministischen Stimmen, die in der Medienwelt auf Händen getragen werden, weil sie die aufregende Exotik des Fremden verkörpern, hatte in einer Kolumne Polizisten auf den Müllhaufen gewünscht, zu ihresgleichen, wie es in dem Text hieß. Gaus erkannte das als das, was es ist: einen eklatanten Bruch mit den Grundsätzen, für die sie angetreten war. Entsprechend harsch fiel ihre Replik aus.
Man hatte sie in der „taz“ gedruckt. Aber im darauf einsetzenden Sturm fühlte sie sich unzureichend geschützt, auch vor dem Mob in den eigenen Reihen, der sie als Feindin markierte und dann wie eine Feindin behandelte. Man unterschätzt leicht, wie verletzlich auch Frauen sein können, die beim Wettbewerb, wer am meisten Hass aushalten muss, nicht die Hautfarbe oder Gesinnung der Saison haben. Fortan schrieb sie beim „Spiegel“.
Die Trennlinie verläuft durch viele Redaktionen, die einmal für ein progressives Deutschland stritten: auf der einen Seite die alten Linken, die noch an so altertümliche Dinge wie Menschenwürde und die Kraft des Arguments glauben – und auf der anderen die Truppen, die aus Modefächern wie den Postcolonial Studies hereingeschwemmt kommen und den Mangel an Sprachwitz und Schlagfertigkeit durch besondere Gesinnungstreue wettmachen. Was ihnen an Bildung fehlt, ersetzen sie durch Lautstärke. An die Stelle der Neugier ist die Wachsamkeit getreten, an die Stelle des Arguments das Twitter-Gekreisch.
Vor allem ist die moderne Linke grausam humorlos. Nichts fürchtet der Eiferer so sehr wie die Ironie. Das Lachen ist das Erste, was im Königreich des Himmels verboten wird. Das verbindet die Adepten des neuen Denkens übrigens mit ihren Feinden. Auch in der AfD wird nicht gelacht. Oder wenn sie dort lachen, kommt ein merkwürdiges Aufstampfen heraus.
Elke Heidenreich hat recht, die meisten Vertreter der neuen Linken lesen nichts mehr. Das ist das Paradoxe: Keine Generation ist so obsessiv mit Sprache beschäftigt wie die Generation Gender. Ein falsches Wort kann hier ausreichen, um bleibenden Schaden zu hinterlassen. Gleichzeitig ist sie merkwürdig desinteressiert an Wohlklang und Schönheit der Sprache. Auch das ist ja ein Signet der neuen Bewegung, dass sie zu einer nennenswerten Theoriebildung nicht mehr in der Lage ist.
Alles, was die Anhänger im Angebot haben, ist neben ein paar traurigen MeToo-Texten und den modischen Umdeutungen des Holocaust zu einem zweitrangigen Ereignis das gebetsmühlenhaft vorgetragene Bekenntnis, dass die Wurzel allen Übels der Rassismus sei. Wenn man mit ihnen über Heine oder George Sand oder die Liebesbriefe von Kafka reden wollte, blickte man in tote Augen.
Der Text, mit dem sich Bettina Gaus von der „taz“ verabschiedete, hieß: „Abschließende Gedanken über ‚Macht‘“. Darin findet sich der Satz: „Die Frage ist natürlich, wer eigentlich die Ohnmächtigen sind – und ob es immer diejenigen sind, die sich dafür halten.“
Die Leute, die anderen gerne vorhalten, sie sollten ihre Privilegien überprüfen, sind ja in der Regel nicht das, was man unterprivilegiert nennt. Sie sind mehrheitlich besser ausgebildet als andere in der Gesellschaft. Sie sind besser vernetzt, besser gestellt und besser angesehen ohnehin.
Philister ist das alte Wort für den Kleingeist, dem die Prinzipientreue über alles geht. Ich habe neulich einen schönen Satz des Dramatikers Friedrich Hebbel gefunden: „Der Philister hat oft in der Sache recht, nie in den Gründen.“ Ich bin sicher, der Satz hätte Bettina Gaus gefallen.
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