Sie denken, Sie würden die Leute wählen, die über Ihr Leben bestimmen? 50 Prozent der Abgeordneten, die im Parlament sitzen, sind nie vor den Wähler getreten. Deshalb reden sie auch so, wie sie reden
Fernsehen kann tödlich sein. Ein Moment der Unachtsamkeit, irgendein Blödsinn, den man vor laufender Kamera erzählt, und man ist das Gespött der Nation. Früher, vor der Erfindung von YouTube und der ZDF- Mediathek, konnte man darauf hoffen, dass nicht alle den Fehltritt mitbekommen hatten. Das versendet sich, war ein beliebter Satz, wenn man jemanden über einen Fauxpas hinwegtrösten wollte.
Franz Josef Strauß erkennbar beschickert aus München zugeschaltet, um mit schwerer Zunge die Ergebnisse der Bundestagswahl 1987 zu deuten: Das ist tausendfach beschrieben worden. Aber wer hat es tatsächlich gesehen? Wer nicht im Moment des Geschehens dabei war, der musste es sich berichten lassen. Das war auch schön. Aber wir wissen alle, welchen Eindruck die unmittelbare Anschauung hinterlässt
Heute versendet sich nichts mehr. Alles ist für die Ewigkeit festgehalten, um gegebenenfalls in endlosen Schleifen über unzählige Kanäle so lange wiederholt zu werden, bis auch der letzte Depp Bescheid weiß.
Was war, gemessen an der Resonanz bei X, das Fernsehereignis des Monats? Der Auftritt von Ricarda Lang bei Markus Lanz. Ich habe es nicht gesehen, ich bin um die Uhrzeit schon im Bett. Aber als mich sogar der nette Mann am Gemüsestand bei Simmel, meinem Edeka-Händler, darauf ansprach, beschloss ich, mir den Clip anzuschauen.
War es so schlimm, wie alle sagen? Ja, es war so schlimm.
Das Problem an den 30 Minuten mit Ricarda Lang war nicht ihre Unkenntnis. Wer weiß schon, wie hoch die Durchschnittsrente ist? Ich hätte bei der Frage ebenfalls daneben gelegen. Gut, ich bin auch kein Sozialpolitiker, trotzdem: Da haben wir schon in ganz andere Abgründe der Unkenntnis geblickt.
Das Problem an dem Auftritt war der Auftritt an sich. Diese leicht angestrengte Nachsicht eines Menschen, der fest davon überzeugt ist, dass an seinem Weg kein Weg vorbeiführt, und der es deshalb gerne zum fünften Mal erklärt, auch wenn er eigentlich findet, dass zwei Mal gereicht hätten.
Ich habe gehört, Frau Lang soll privat sehr nett sein. Angeblich kann sie auch über sich selbst lachen. Aber ihre Talkshows sind eine Katastrophe. An welcher politischen Akademie lernt man so floskelhaft zu reden, so verschraubt und verstellt? Da ist kein Satz, der ans Herz geht – und das, obwohl ständig von den emotionalen Angeboten die Rede ist, die man machen müsse.
In der Politik schauen sie gerne auf Bayern herab. Ach, die Bayern: so derb, so laut, so ungehobelt. Mag alles stimmen. Aber dafür verstehen die Wähler wenigstens, wovon die Regierenden reden.
Waren Sie schon einmal bei einem Bierzeltauftritt dabei? Den bayerischen Teil meiner Leser klammere ich hier wohlweislich aus. 2000 bis 3000 Leute, wenn es voll ist. Alle haben etwas zu Essen auf dem Tisch, und wenn sie nichts zu essen vor sich haben, dann in jedem Fall etwas zu trinken. Das heißt: Wenn der Matador die Bühne betritt, hat er es mit einer Menschenmenge zu tun, die schon ohne ihn in Stimmung gekommen ist und jetzt keinen Stimmungsabfall erleben möchte.
Ich hab gesehen, wie das ist, wenn die Menge die Lust verliert. Das ist brutal. Der Lärm beginnt ganz hinten, wo der Redner die Zuhörer nur als Schemen ausmachen kann, und setzt sich nach vor- ne fort, immer lauter anschwellend, bis die Lärmwoge vor dem Redner- pult angelangt ist, wo die Honoratioren sitzen, die als einzige den Mund halten, weil sie der Redner von oben in den Blick nehmen kann.
Wer in Bayern in die erste Reihe aufrücken will, muss im Bierzelt bestehen. Damit ist auch ausgeschlossen, dass es Menschen ganz nach oben schaffen, die zwar im Hinterzimmer des Parteiklüngels reüssieren, vor dem großen Publikum aber durchfallen. Der Listenkandidat, der sich auf die Unterstützung des Politestablishments verlässt, ist in Bayern nahezu unbekannt.
Die meisten Menschen denken, sie würden die Politiker wählen, die dann über sie und ihr Leben bestimmen, aber das ist nur zur Hälfte wahr. 50 Prozent der Abgeordneten, die im Parlament sitzen, sind nie vor den Wähler getreten. Sie verdanken ihren Sitz allein der Großmut der Partei, die sie aufgestellt hat.
Es gibt Spitzenpolitiker, die in ihrem Leben nicht eine Wahl gewonnen haben. Ich habe mir vor Jahren einmal den Werdegang von Ursula von der Leyen angesehen. Wo immer sie vor die Leute trat, endete das im Debakel. Auch Frank-Walter Steinmeier war als Wahlkämpfer eine Riesenenttäuschung. So sehr er sich anstrengte, es wollte einfach nicht mit der Mehrheit klappen. Am Ende haben sie sich seiner erbarmt und ihm einen Wahlkreis in Brandenburg verschafft, wo man praktisch nicht verlieren konnte.
Der Wahlkämpfer macht sein Fortkommen von der Zustimmung des Bürgers abhängig, was voraussetzt, dass er von diesem verstanden und auch gemocht wird. Der Parteiarbeiter hingegen verlässt sich beim Aufstieg ganz auf die Gremien, die über die Verteilung von Posten bestimmen. In den Gremien zählt vor allem, wie zuverlässig einer der Sache gedient hat, aus welchem Landesverband er kommt oder welchem politischen Flügel er angehört.
Wer zu viel in Gremien hockt, verliert den Blick für die Realität. Das ist der Nachteil. Der Bundespräsident hat jetzt die Regierung aufgefordert, ihre Politik besser zu erklären. Ich halte das für die ultimative Form der Wählerverachtung. Wenn die Leute maulen, liegt es nicht daran, dass ihnen die Politik nicht passt. Nein, sie haben einfach noch nicht verstanden, wie gut die Politik ist, die sie ablehnen!
Das Ulkige ist, dass gerade die SPD immer mit Politikern gesegnet war, die nah bei die Leut waren, wie man so schön sagt. Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel, Klaus Wowereit, Kurt Beck. Unvergessen, wie Beck einem Arbeitslosen, der ihn bedrängte, entgegenhielt: „Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann haben Sie in drei Wochen einen Job.“ Die umstehenden Journalisten waren natürlich indigniert. Aber Beck sagte nur: „S’Lebbe iss doch wie’s iss.“
Warum viele Bürger eine solche Distanz zur Politik verspüren? Das hängt auch mit den Repräsentanten zusammen, die heute das Sagen haben. Warum ist jemand wie Wolfgang Bosbach nach wie vor ausgebucht? Er hat kein Amt mehr
und kein Mandat. Das letzte Mal, dass er für die CDU im Bundestag saß, liegt sechs Jahre zurück. Dennoch könnte er jeden Abend einen Wahlkampfauftritt bestreiten, wenn er wollte. Die Anrufe von Parteifreunden, die ihn gerne als Zugpferd in ihrem Wahlkreis hätten, reißen nicht ab.
Weshalb? Ganz einfach, die Leute hören ihm gerne zu. Er behumst sie nicht, er packt sie nicht in Watte, er überzieht sie aber auch nicht mit einer Suada, warum Deutschland dem Untergang geweiht sei. Bosbach verfügt über eine Mischung aus Frohsinn, Hemdsärmeligkeit und Aufrichtigkeit, die Menschen dazu bringt, ihre Stimme der CDU zu geben.
Man sollte meinen, dass sie in den Parteizentralen darüber nachdenken, wie sie wieder mehr Menschen aufstellen, die so reden, dass man ihnen freiwillig zuhört. Heißt es nicht gerade wieder, wir müssten ganz dringend unsere Demokratie stärken? Aber tatsächlich geht es genau in die andere Richtung.
Im März hat die Regierung eine große Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht, um endlich das Wachstum des Bundestags zu begrenzen. Das ist das erklärte Ziel. Aber daneben gibt es noch ein unausgesprochenes Ziel, und das ist, die Erststimme zu entwerten, der die direkt gewählten Abgeordneten ihren Sitz verdanken.
In Zukunft wird die alles entscheidende Stimme die Zweitstimme sein, also die Stimme für die jeweilige Partei. Wenn jemand seinen Wahlkreis gewinnt, seine Partei aber nicht so doll abgeschnitten ab, geht er, wenn er Pech hat, leer aus und muss den Platz für einen Listenabgeordneten räumen. Die Wahlrechtsreform ist die Rache der Liste an den Direktkandidaten.
Wir werden in Zukunft eher mehr von Politiker wie Ricarda Lang sehen als weniger.
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