Schlagwort: Trump

Mehr Trump wagen

Viele Politiker haben in Wahrheit Angst vor Menschen. Abstrakt finden sie Demokratie prima. Aber wenn es konkret wird, würden sie am liebsten davonlaufen. Kein Wunder, dass das Vertrauen in die Politik ständig sinkt

Einmal war ich mit Klaus Wowereit im Wahlkampf unterwegs. Der erste Stopp: ein Einkaufszentrum in Berlin-Lichtenberg. Die Zeitungen waren wieder voll mit Nachrichten, was alles in Berlin schieflief, aber Wowereit schnappte sich kurzerhand ein Bund Rosen vom Wahlkampfstand und rannte auf ein Rentnerpärchen am Eingang des „Ring Center“ zu.

„Na“, sagte er, „wie jeht’s denn so?“

Dann guckte er der Frau in die Einkaufstasche.

„Passen Sie auf, dass Ihr Mann nicht vom Fleisch fällt. Es sei denn, Sie wollen ihn nicht mehr.“ Allgemeines Gelächter.

Nächste Station dann ein Imbiss im ersten Stock. Vor Tellern mit riesigen Hawaii-Toasts zwei junge Frauen, die offenbar ihr zweites Frühstück einnahmen. Wowereit steuerte schnurgerade auf den Tisch zu und beugte sich hinunter.

„Na, die Portion ist ja auch nicht zu klein geraten.“

Kurze Schrecksekunde bei den beiden Imbisskundinnen. Dann erneut Gelächter.

Man kann nicht behaupten, dass sich Wowereit beim Wähler angebiedert hätte. Aber natürlich hatte er am Ende die Nase vorn. Wenn er gewollt hätte, wäre er auch ein viertes Mal gewählt worden – trotz Flughafen-debakel, mieser Pisa-Ergebnisse und brennender Autos. Er hat es dann vorgezogen, sich aus der Politik zu verabschieden, bevor andere meinten, es sei Zeit zu gehen.

Ich habe auch Christian Ude im Wahlkampf beobachtet. Bevor es zu den ernsten Themen kam: erst einmal zwei Gags zum Aufwärmen. So fing bei dem Münchner Oberbürgermeister der Abend an. Man kann das furchtbar unseriös finden, aber es ist eben sehr viel unterhaltsamer als diese papierenen Reden, in denen ein Programmpunkt nach dem anderen abgearbeitet wird.

Nach seiner langen Karriere als Bürgermeister war Ude als Stand-up-Comedian auf Tour. Auch das: hochzweifelhaft. Andererseits als Politiker einen Raum voller Leute zu unterhalten, die dafür sogar bezahlt haben, wer kann das schon? Das setzt ein gerütteltes Maß an Selbstironie-fähigkeit voraus. Einer der wenigen, die in Bayern über ein ähnliches komödiantisches Talent verfügen, ist der bayerische Justizminister Georg Eisenreich. Wenn mich nicht alles täuscht, steht dem Mann eine große Karriere bevor.

Warum ich das erzähle? Weil wir uns gelegentlich daran erinnern sollten, dass es vor noch gar nicht so langer Zeit Politiker gab, bei denen man nicht sofort in Deckung ging, wenn sie auftauchten. Wir denken, Politiker müssten so sein wie Olaf Scholz oder Friedrich Merz, also wie Leute, bei denen jeder weiß, dass es furchtbar anstrengend wird, sollte man versehentlich in Rufweite geraten.

Ich habe einmal den Fehler gemacht, mich bei einem Sommerfest neben Olaf Scholz zu stellen. Erst folgte ein Vortrag über die Anfänge der SPD in Hamburg-Wandsbek, dann ein Vortrag über die SPD in Hamburg-Volksdorf. Nach 30 Minuten habe ich einen Hustenanfall vorgetäuscht, der mich dazu zwang, mich aus der Gruppe der Zuhörer zu entfernen.

Heute steht das Volkstümliche unter Verdacht. Wenn ein Politiker einen anderen schmähen will, dann wirft er ihm vor, ein Populist zu sein. Besser Populist als Langweiler, würde ich sagen. Aber mit dieser Meinung stehe ich erkennbar auf verlorenem Posten.

Alle Augen sind dieser Tage auf Kamala Harris gerichtet. „Kann sie die Welt retten?“, lautet die Frage bei „Stern“, „Zeit“ und „Süddeutscher Zeitung“ – wobei die Frage ja bereits die Antwort beinhaltet. Allenthalben wird gerätselt, wie es einem verurteilten Straftäter mit erratischem Verhalten und aus-geprägten Rachefantasien gelingen kann, in den Umfragen so weit aufzuschließen, dass ein Wahlsieg immer wahrscheinlicher wird.

Was ist das Geheimnis von Donald Trump? Dass er sich nicht verstellt, wäre meine Vermutung. In einer Zeit, in der alles mehr oder weniger nur noch Fassade zu sein scheint, geht davon eine enorme Verführungskraft aus.

Trump ist immer ganz bei sich. Er sagt, was ihm durch den Kopf geht, egal, was die anderen dazu denken. Wenn ihn die Berater in eine Richtung zu schubsen versuchen, neigt er sich aus Prinzip in die andere. Man merkt ihm auch sofort an, wenn er sich geschmeichelt fühlt oder sich ärgert.

Vor zwei Wochen war Trump bei McDonald’s. Seine Gegenspielerin hatte behauptet, sie habe als Studentin bei McDonald’s gearbeitet. Also tauchte er in einem Drive Thru auf, zog sich eine Schürze an und ließ sich in die Bedienung der Fritteuse unterweisen. Anschließend trat er vor die Kameras und sagte, er habe jetzt mehr Zeit bei McDonald’s verbracht als Kamala Harris in ihrem ganzen Leben.

Klar, es war ein Stunt, eine Inszenierung, wie sie in ihrer Schamlosigkeit nur Trump einfällt. Aber das Bemerkenswerte war: Es war an keiner Stelle peinlich. Trump ist immer Trump. Er findet sofort einen Draht zu den Leuten, mit denen er spricht. Er verhält sich auch nie von oben herab oder anbiedernd.

Man muss sich nur für einen Moment vorstellen, Kamala Harris hätte sich an den Burger-Grill gestellt. Es hätte mit einem Vortrag über die Gefahren von Fast Food begonnen. Oder, schlimmer noch: Einem Bekenntnis, dass sie früher auch gerne mal in einen Burger gebissen habe, weil ihr plötzlich eingefallen wäre, wie wichtig es sei, ihre Verbindungen zur Arbeiterklasse zu unterstreichen. Trump hat so etwas nicht nötig. Wenn es nach ihm ginge, könnte es jeden Tag Big Mac geben.

Wer volkstümlich ist, steht im Verdacht, den intellektuellen Anforderungen des Amtes nicht gewachsen zu sein. Das muss man als Politiker aushalten können.

Ich erinnere mich an eine der ersten Pressekonferenzen mit Kurt Beck, nachdem sie ihn zum SPD-Chef bestimmt hatten. Beck konnte auf eine beeindruckende Reihe von Erfolgen verweisen, kaum ein Ministerpräsident war so beliebt wie er. Aber das nützte ihm nichts.

Schon wie er aussah, mit dem Mecki-Schnitt und dem eigenartigen Bart, gab Anlass zu Spott. Dazu die verwaschene Ausdrucksweise seiner pfälzischen Heimat. Alles an diesem Mann strömte Provinz aus. So wurde er auch behandelt, als Provinzei, das sich in die Hauptstadt verwirrt hatte, ein Missverständnis auf zwei Beinen.

Zwei Jahre ging das so, dann zog Beck sich schwer verwundet zurück. Noch Jahre später konnte er Auskunft geben, wie ihn die Verachtung und Hochmütigkeit der Berliner Blase getroffen hatte.

Meiner Beobachtung nach haben mehr Politiker Angst vor Menschen, als man meinen sollte. Sicher, abstrakt finden sie das Volk prima. Demokratie heißt schließlich, den Mehrheitswillen zu organisieren. Aber wenn es konkret wird, bekommen viele Beklemmungen.

Man sieht es an der verdrucksten Art, mit der sie sich dem Wähler nähern, so als gehe von diesem eine unbestimmte Gefahr aus. Da stehen sie dann vor dem Obststand oder der Werkbank und stellen unbeholfene Fragen, weil ihnen die Berater gesagt haben, sie müssten sich zugänglicher zeigen. Entsprechend groß ist die Erleichterung, wenn alles vorbei ist und man wieder im Wahlkampf-Bus hockt.

Vielleicht ginge es der Politik besser, wenn es weniger Berater gäbe. Jeder Politiker hat heute einen Tross von Leuten um sich, die darüber wachen, dass nichts Unvorhergesehenes passiert. Wehe, jemand durchstößt den Kokon, dann herrscht Panik.

Ich glaube, es gibt ein riesiges Bedürfnis nach Politikern, die so reden, dass man das Gefühl hat, sie meinen, was sie sagen. Die meisten von ihnen haben furchtbar Angst, etwas falsch zu machen.

Ich weiß, ich lehne mich hier weit aus dem Fenster, aber wenn ich einen Rat hätte, dann wäre der: mehr Trump wagen.

© Michael Szyszka

Der Journalist als Fan

Wenn der Wunsch die Wirklichkeitsbetrachtung ersetzt, triumphiert am Ende selten der Wunsch. Das war bei der medialen Befassung mit Trump so, das war bei Biden so. Wird es sich bei Kamala Harris wiederholen?

Haben Sie gesehen, wie die Obamas Kamala Harris gratuliert haben? Tagelang hatte sie auf die Unterstützung des demokratischen Powercouples gewartet. Warum wartet Obama mit dem Endorsement, das war die Frage, die ganz Washington beschäftigte. Hat er Vorbehalte? Wartet er nur auf den richtigen Augenblick?

Und dann klingelt das Telefon. Barack und Michelle sind sogar beide dran, um zu sagen, wie stolz sie auf ihr „Mädchen“ sind und wie toll sie es finden, dass sie nun die Demokraten in den Kampf ums Weiße Haus führen werde. Schnitt auf das Gesicht der Kandidatin, die gefasst, aber glücklich die frohe Kunde vernimmt.

Gänsehautmoment!

Woher wir so genau im Bilde sind? Weil es ein Video gibt, in dem der Anruf festgehalten ist. Zufälligerweise war gerade ein Berater zur Stelle, der ans Handy ging, als Obama durchklingelte. Doppelglück dann, dass jemand eine Kamera in der Hand hielt, um die Szene einzufangen. Und natürlich war auch gleich der Ton perfekt, sodass wir die tiefe Stimme Barack Obamas von der ersten Sekunde an in voller Lautstärke hören können, gefolgt vom warmen Timbre Michelles.

„Kamala!!“ „Hello? Hi!!“ „Hey there!“ „Aw… Hi, you’re both together!“ So schön, so menschlich kann Politik sein.

Ach so, alles nur inszeniert? Kein Wort wahr? Nein, nein, genauso habe sich der Anruf zugetragen, hat die Sprecherin von Kamala Harris der „New York Times“ gegenüber beteuert. Nichts sei gestellt, jedes Wort sei dem Augenblick abgelauscht.

Es gibt im Englischen ein Wort für diesen Moment, wenn man sich am liebsten vor Schmerz krümmen würde, weil das, was man zu sehen bekommt, so schrecklich ist. Die Engländer nennen das „cringe“. Das Wort hat sich auch im Deutschen eingebürgert, weil es viel anschaulicher ist als das deutsche „Fremdscham“.

Das Obama-Harris-Telefonat ist Cringe im Quadrat. Ich kenne Leute, die konnten den Clip nicht zu Ende schauen, weil sie die Mischung aus gespielter Aufgeregtheit und falscher mädchenhafter Bescheidenheit nicht ertrugen.

Ein Vorwurf gegen Trump lautete immer, er würde Fake News verbreiten. Aber kann man sich mehr Fakehaftigkeit vorstellen, als den Leuten vorzumachen, sie wären mit am Telefon dabei, wenn Obama anruft? Doch eigenartig: In den Medien, die ich konsumiere, keine Zeile dazu.

Alles an Kamala Harris löst Begeisterung aus: wie sie lacht, wie sie kocht, wie sie spricht. Dazu natürlich der Hintergrund. Keine Geschichte kommt ohne den Hinweis aus, dass mit ihr nicht nur die erste Frau ins Oval Office einziehen würde, sondern die erste schwarze Frau. Ja mehr noch: die erste schwarze Frau, die auch noch über asiatische Wurzeln verfügt. Das wird so lange durchdekliniert, bis auch der letzte weiß, welche historische Wahl bevorsteht.

Ich habe mir Mühe gegeben, Kamala Harris toll zu finden, wirklich. Ich habe versucht, alles zu vergessen, was ich vorher über sie gelesen hatte: die Abgehobenheit und Aufgesetztheit, die viele ihre Auftritte durchzieht; die Unfähigkeit, sich in Menschen hineinzuversetzen, die andere Sorgen haben als die Frage, ob es einer Millionärin gelingt, die „gläserne Decke“ zu durchbrechen; der rüde Umgangston, mit dem sie mehrere ihrer Büroteams in die Flucht getrieben hat. All das konnte man lesen – bevor sie zur Frau aufstieg, die Amerika rettet.

Ich bin mit „Thelma & Louise“ aufgewachsen, dem ersten feministischen Rachefilm. Ich bewundere es, wenn eine Frau die Pumpgun rausholt und den Kerl wegpustet, statt sich lange über schlechte Behandlung auszulassen. Wie Kamala Harris gleich in ihrer ersten Rede Trump einen verpasste, indem sie ihn als Trickbetrüger und Frauengrapscher bezeichnete: à la bonne heure. Aber dann bekam ich dieses vermaledeite Video in die Timeline gespült und die Zweifel waren wieder da.

Woher kommt das Bedürfnis vieler Journalisten, sich selbst zum Fan zu machen? In dem Fall ist das doppelt kurios, da niemand in Deutschland bei der US-Wahl eine Stimme hat. Dennoch wird Kamala Harris angefeuert, als könnte sie der Wind der Zustimmung ins Weiße Haus tragen. Gut, wenn man an die Kraft des Gebets glaubt, dann mag es funktionieren. Dass auch in Presseorganen, in denen man sich ansonsten bei jeder Gelegenheit über den Glauben lustig macht, nun lauter Kerzlein ins Fenster stellt, entbehrt so gesehen nicht einer gewissen Komik.

Eine Nebenwirkung des Fantums ist, dass man regelmäßig auf dem falschen Fuß erwischt wird. Wenn der Wunsch die Wirklichkeitsbetrachtung ersetzt, triumphiert selten der Wunsch. Das war schon bei Trump so, das hat sich bei Biden wiederholt. Man sollte meinen, dass dem einen oder anderen Korrespondenten aufgefallen sein sollte, wie altersschwach der Präsident ist, dafür sind sie ja als Korrespondenten vor Ort. Aber am Ende waren sie von seiner Hinfälligkeit genauso überrascht wie ihre Leser.

Der „Politico“-Redakteur Jack Shafer ist neulich in einem Essay der Frage nachgegangen, wann der Journalismus seine Coolness verloren habe. When Journalism lost his swagger, lautete die These im Original. Ich würde sagen, der Zeitpunkt fällt ziemlich genau mit dem Auftauchen einer neuen Form des Journalismus zusammen, der Einfühlsamkeit an die Stelle des Runterschreibens setzt und Rücksichtnahme an die Stelle der Boshaftigkeit.

Die goldenen Jahre des Journalismus sind nicht von ungefähr auch die Wirkungszeit großer Spötter: Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Alfred Kerr. Es waren übrigens alles auch große Beleidiger und Niedermacher, weshalb man sie bis heute liest. Eines meiner Vorbilder ist der Autor Anton Kuh, von dem das Motto stammt: „Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht“. Leider hat sich die Auffassung durchgesetzt, man dürfe nicht zu persönlich werden.

Vor einiger Zeit stand im „Spiegel“ ein Porträt des ehemaligen Wirtschaftsministers Peter Altmaier. Es war ein außergewöhnlicher Text, auch außergewöhnlich boshaft. Der Autor, zum Zeitpunkt der Niederschrift noch Journalistenschüler, hatte den Ex-Politiker wochenlang begleitet und alles aufgeschrieben, was der ihm anvertraut hatte, darunter auch manches, von dem sich Altmaier im Nachhinein sicher gewünscht hat, er hätte es nicht gesagt.

War die Redaktion stolz auf den Text? Nein! Es setzte im Gegenteil eine längliche Diskussion ein, ob man den Artikel in dieser Form überhaupt hätte drucken dürfen. Jemanden so vorzuführen, der doch eigentlich immer ein netter Kerl gewesen sei, das sei in hohem Maße unfair. Es fiel das Wort „menschenverachtend“.

War der Text unfair? Er war streckenweise sogar hundsgemein. Aber eben deshalb auch sehr unterhaltsam. Außerdem erfuhr man ziemlich viel darüber, wie einsam Politik diejenigen macht, die ihr verfallen sind.

Es gibt auch den umgekehrten Fall, also das freundliche Porträt über eine Person, die in Ungnade gefallen ist. Alexander Osang ist ein Meister dieser Spielart. Seine Arbeit hat ihm mehrere Kisch-Preise eingetragen, die dann Nannen-Preise hießen, bis man fand, dass auch Nannen nicht mehr ginge, weil politisch zu belastet. Der Preis heißt jetzt Stern-Preis, was über den Niedergang der Branche einiges verrät.

Die meisten Journalisten wählen heute leider die ungünstigste Variante: brav über Leute schreiben, die alle gut finden. Der einzige, über den man noch in herabsetzender Form schreiben kann, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt, ist vermutlich Björn Höcke. Wobei, selbst da bin ich mir nicht sicher.

Jedes Porträt stellt ja Nähe zu dem Porträtierten her, in dem es ihm auf den Leib rückt. Die bevorzugte Methode ist die Nahaufnahme, nicht die Fernbeobachtung. Also würde es heißen: Muss es wirklich sein, dass wir Höcke auch von seiner privaten Seite sehen? Verlieren wir damit nicht die Distanz, verharmlosen wir so nicht die AfD?

Auch von Donald Trump gab es dieser Tage neue Videos. In einem Clip sitzt er neben dem Profigolfer Bryson DeChambeau und zeigt seine Playlist vor, während die beiden von Loch zu Loch gurken. Trump ist so, wie er immer ist: einfach er selbst. Das reicht völlig aus, um die Anhänger zu begeistern und die Gegner in den Wahnsinn zu treiben. Ganz ohne cringe.

© Sören Kunz

Ich sehe Dich

Im Grunde halten viele Politiker den Wähler für käuflich: Man muss nur genug Sozialversprechen ins Schaufenster legen und schon fliegen einem die Herzen zu. Denkste! Wäre es so, hätten die Rechten keine Chance

Warum wählen Wähler das, was sie wählen? Die Frage scheint so selbstverständlich, dabei wird sie in Wahrheit selten gestellt, am wenigsten von Politikern. Man sollte meinen, dass sich Menschen, deren Karriere vom Wohlwollen der Bürger abhängt, mit nichts anderem beschäftigen. Aber weit gefehlt.

Das ist wie in vielen Redaktionen, wo die Frage, was die Leser interessiert, auch so gut wie nie vorkommt. Stattdessen kreisen die Gespräche meist um die Frage, was die Redakteure wichtig und richtig finden und wie man das dem Leser nahebringen könnte.

Wenn man Politiker fragt, was ihrer Meinung nach zählt, verweisen sie auf das Parteiprogramm. Oder sie sagen, es seien die Leute an der Spitze, auf die es ankommt.

Dass dies so einfach nicht sein kann, zeigt schon der Wahl-O-Mat, der regelmäßig vor Wahlen angeboten wird und eine Übersicht der wichtigsten Programmpunkte bietet. Der Reiz besteht dabei aus der Kluft zwischen der eigenen Parteipräferenz und der Empfehlung des Programms, nachdem man angekreuzt hat, was einem wichtig ist. Tatsächlich ist die Überraschung immer wieder groß, wie weit beides auseinanderliegen kann.

Viele verfolgen den Wahlkampf in den USA mit einer Intensität, als wären auch wir Deutsche im November zur Wahl aufgerufen. Den meisten gilt Donald Trump als elender Rassist und Sexist, der Amerika in eine faschistische Diktatur umbauen will – daran hat auch das Attentat auf ihn nichts geändert.

Mag sein, dass Trump ein unverbesserlicher Rassist ist. Dann wäre er im Erfolgsfall allerdings der erste Rassist, der seinen Wahlsieg unter anderem der Zustimmung unter Schwarzen und Latinos verdankt. Dass Trump gerade bei diesen Gruppen ungemein populär ist, findet wenig Beachtung, dabei liegt hier ein Schlüssel für seinen Erfolg.

Schon bei der letzten Wahl hat er unter Minoritäten so viele Anhänger hinzugewonnen wie seit langem kein republikanischer Kandidat mehr. Und der Trend hält an: Zum ersten Mal liegen die Republikaner in der Gunst nicht-weißer Wähler fast gleichauf mit den Demokraten.

Hat Trump mexikanische Einwanderer nicht als „Tiere“ bezeichnet? Ja, hat er. Hat er nicht immer wieder die Aufregung über rechtsradikale Aufmärsche für überzogen erklärt? Auch das. Aber erstens beziehen das seine Anhänger erkennbar nicht auf sich. Und zweitens scheinen ihnen andere Dinge wichtiger zu sein. Viele schwarze Wähler schauen auf Trump und sehen nicht den weißen Rassisten, sondern einen Politiker, der ihnen deutlich näher steht als der freundliche Großvater im Weißen Haus oder die Westküsten-Juristin Kamala Harris in ihren cremefarbenen Hosenanzügen.

Alles, was die linke Oberschicht verachtet – das Fake-Gold, die Liebe zu osteuropäischen Schönheitsköniginnen, der ganze Talmi-Bombast, der Trumps öffentliche Auftritte wie Swarovski-Kristall durchzieht – ruft bei ihnen nicht Spott, sondern Bewunderung bevor. Die Insignien von Macht und Reichtum sind Codes, die sie mühelos entziffern können. Auch die Sprache, die eher an einen Rapsong als an eine politische Rede erinnert, ist ihnen vertraut. Trump mag gnadenlos ichbezogen sein, autoritär, rachsüchtig, kindisch. Aber er schaut nicht auf die Leute herab, die ihn wählen, das ist sein großer Trumpf.

Dass die Wähler weniger kalkulierbar sind als in der politischen Theorie vorgesehen, ist ein altes Bekümmernis der Linken. Seit ich denken kann, herrscht ungläubiges Kopfschütteln, weshalb die sogenannten kleinen Leute für konservative Parteien stimmen, obwohl die doch ihre Interessen verraten würden. Wie Arbeiter einen Mann wie Helmut Kohl wählen konnten, vermochten schon meine Eltern nicht zu verstehen.

Im Grunde halten viele Politiker den Wähler für käuflich. So wie sie es sehen, muss man nur genug Sozialversprechen ins Schaufenster legen und schon fliegen einem die Herzen zu. Also versprechen sie mehr Rente, mehr Kindergeld, mehr BAföG, mehr Bürgergeld. Dass die ganze Sache ein bisschen wie ein Enkeltrick funktioniert, weil die Beschenkten die Geschenke über höhere Steuern am Ende selbst zahlen müssen, lässt man gnädigerweise unter den Tisch fallen.

Wie es aussieht, sind die Bürger sehr viel weniger bestechlich, als man in den Parteien annimmt. Wenn es aber nicht so sehr materielle Interessen sind, die den Wähler an die Wahlurne bringen, was dann? Ich würde sagen, es geht in erster Linie um Anerkennung. Wenn es einen Satz gibt, der im Wahlkampf geradezu magische Wirkung entfaltet, dann ist es der Satz: „Ich sehe Dich“. Das ist das größte Versprechen, das ein Politiker machen kann: Wertschätzung für die Lebenswelt derer, die er vertritt.

Die Leute sind nicht einfältig. Sie wissen, dass Politik nicht von heute auf morgen ihre Lebensumstände verbessern kann. Wenn sie an den Wahlplakaten vorbei fahren, in denen Kitaplätze oder bezahlbare Mieten für alle versprochen werden, denken sie sich ihren Teil. Vielen reicht es schon, wenn die Politik ihnen das Leben nicht noch schwerer macht, als es ohnehin ist. Das ist weniger selbstverständlich, als es klingt. Nicht von ungefähr haben viele Menschen den Eindruck, dass über ihre Köpfe hinweg geredet und gehandelt wird.

Die Achillesferse der Linken war immer ihre Volksverachtung. Abstrakt gesehen sind gerade Linke Riesenfans des einfachen Volkes. Aber wenn es konkret wird, bekommen sie Beklemmungen. Unvergessen ist bis heute die Bemerkung des heiligen Barack Obama, wonach sich die Leute in der Provinz in ihrer Verbitterung an Waffen und Glauben klammern würden. Auf hiesige Verhältnisse übertragen wären das Gasgrill, Pappbecher und Verbrenner.

Warum sind bei der Europawahl ein Drittel der Arbeiter zur AfD übergelaufen? Weil ihnen die AfD höheren Mindestlohn und mehr Bürgergeld verspricht? Sicher nicht. Im Zweifel gibt es bei der AfD von allem weniger. Was den ökonomischen Teil angeht, ist die AfD in weiten Teilen eine neoliberale Partei. Dennoch hat sie gerade in der Arbeiterschicht so stark zugelegt wie bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe.

In der SPD kann man sich den Wählerschwund nur damit erklären, dass die Leute nicht wissen, was sie tun. In einer gefeierten Kampagne ließ sie fiktive AfD-Wähler darüber klagen, wie sie nach einem AfD-Wahlsieg feststellen, was ihnen alles weggenommen wurde. In Werberkreisen galt das als geniale Aktion. Ich dachte nur: Wenn man den Leuten vor Augen führen will, dass man sie für blöd hält, macht man solche Plakate.

Die „Zeit“ hat neulich eine Reporterin losgeschickt, um sich bei Migranten umzuhören, weshalb sie AfD wählen. Eine noch größere Provokation als AfD-freundliche Arbeiter sind Deutsch-Türken, die rechts wählen. Ausgerechnet Menschen, von denen es heißt, sie seien so marginalisiert, dass sich ein Dutzend Antidiskriminierungsstellen um sie kümmern müssen, wählen eine Frau wie Alice Weidel? Antwort in der „Zeit”: Aber sicher. Wir haben die Faxen dicke, dass immer mehr Leute nach Deutschland kommen. Und dass Einwanderer mit Bürgergeld zugeschüttet werden, wo wir uns den Buckel krumm arbeiten mussten, stinkt uns auch.

In den Medien dominiert die junge, weibliche und unendlich woke Migrantin, die sich nicht nur als post-binär, sondern auch als post-familiär definiert. Aber das ist eine überschaubare Minderheit. Die meisten Migranten sind erstaunlich konservativ. Man kann ihnen tausendmal erklären, dass sie bei den Grünen viel besser aufgehoben seien – sie sehen das grüne Pfarrhaus und sagen sich: Das ist nichts für uns.

In Wirklichkeit ist die migrantische Kultur von allen Versuchen, sie zu domestizieren, weitgehend unberührt geblieben. Wer hier gendert, leidet an einem Sprachfehler. Bei toxischer Männlichkeit denken die meisten im Viertel an den letzten Hangover nach einem wilden Abend mit den Kumpeln. Man muss nur einen Nachmittag am Ku’damm verbracht haben, wo junge, akkurat frisierte Männer in weißen Trainingsanzügen lässig an ihren tiefergelegten Mercedes-AMG lehnen und man ahnt: Hier wird Ricarda Lang nie eine Stimme einsammeln.

Ich weiß, der junge migrantische Mann gilt unter Konservativen nicht als Hoffnungsträger. Aber vielleicht sollte man hier, auch mit Blick auf die USA, umdenken.

© Michael Szyszka

Brauchen wir die Bombe?

Ein Blick in die Zukunft: Putin greift nach Europa, aber im Weißen Haus sitzt wieder Donald Trump, und in Frankreich hat Marine Le Pen gewonnen. Muss Deutschland aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen?

Mein Kollege René Pfister hat vor zwei Wochen in einem Leitartikel im „Spiegel“ ein Gedankenexperiment angestellt. Es geht wie folgt: Es ist Winter 2025. Wladimir Putin hat sein Ziel verfehlt, die ganze Ukraine zu besetzen. Aber es ist ihm gelungen, einen Zwangsfrieden zu erpressen – Aufgabe des Donbas und der Krim gegen den Abzug der russischen Truppen aus dem Westen des Landes.

Die Mehrheit der Russen steht weiter hinter dem Präsidenten. Eine zögerliche Palastrevolte ist gescheitert. Zwei Generäle wurden vergiftet in ihrer Wohnung aufgefunden, damit war auch dieses Abenteuer entschieden.

Nun steht Putin mit 150000 Soldaten an der Grenze zu Lettland. Es sieht wie eine Wiederholung des Ukraine-Krieges aus, mit einem Unterschied: Im Weißen Haus sitzt nicht mehr Joe Biden, sondern wieder Donald Trump, der sich eine zweite Amtszeit gesichert hat. Und Trump hat erklärt, was er von der Nato hält. „Ich wurde nicht gewählt, damit über Manhattan eine Atombombe explodiert“, antwortete er bei einem Staatsbesuch in Moskau auf die Frage eines Reporters, wie er zum Bündnis stehe. Danach rollten die Panzer Richtung Baltikum.

Wären wir auf den Ernstfall vorbereitet? Das ist die Frage. Und sie ist nicht so theoretisch, wie sie klingen mag. Wenn die vergangenen Wochen eines gelehrt haben, dann, dass alles, was eben noch selbstverständlich schien, sich schon morgen als Illusion herausstellen kann.

Der Bundeskanzler hat seine Regierungskoalition in einem Überraschungscoup darauf verpflichtet, die Bundeswehr wieder so weit aufzurüsten, dass sie wehrfähig ist. Alles soll es nun geben: Kampfflugzeuge, die fliegen; Panzer, die rollen; Waffen, die schießen. Damit es nicht bei der Ankündigung bleibt, hat Scholz die Entscheidung über die Vergabe des Geldes ins Kanzleramt gezogen. Er weiß, was er von seiner Verteidigungsministerin zu halten hat. Da hat er lieber selber einen Blick auf die Wiederbewaffnung.

Aber reicht das? Sind 100 Milliarden Euro genug, um uns vor Putin und seinen Eroberungsplänen zu schützen?

Nur weil Trump gerade abgemeldet scheint, heißt das nicht, dass er erledigt ist. Schon in der ersten Amtszeit konnte der republikanische Wüterich nur mit Mühe davon abgehalten werden, aus dem Bündnis auszutreten. Beim zweiten Anlauf wäre keiner mehr da, der ihm in den Arm fallen könnte.

Die Wahrheit ist: Deutschland verdankt seine Sicherheit dem Atomschirm, den die USA über uns aufgespannt haben – nicht seinen nichtexistenten Divisionen oder unserer vorbildlichen pazifistischen Gesinnung. Das war für 75 Jahre der Deal: Wir verlassen uns stillschweigend darauf, dass die Amerikaner für die Abschreckung sorgen – dafür dürfen wir so tun, als könnte man auch ohne Waffen Frieden schaffen.

Es war ein vorteilhaftes Arrangement. Klappe aufreißen, ohne selbst zahlen zu müssen – wer sagt da Nein? Anders als Biden, der aus der Zeit des Kalten Krieges kommt, sieht Trump die Welt allerdings als Geschäftsbeziehung: „Was habe ich davon, wenn ich die schütze?“, ist die erste Frage, die sich ihm stellt. Alles, was auf Zusagen beruht, ist für ihn eine Quantité negligeable. Da denkt er wie Putin.

Was ist Abschreckung ohne Atomwaffen wert? Nicht viel, würde ich sagen. Das Prinzip der Abschreckung beruht darauf, dass man einer Drohung mit einer Gegendrohung begegnen kann. Und dass der Mann im Kreml jede Schwäche, die sich ihm zeigt, ausnutzt, das hat er zur Genüge bewiesen.

Es gibt immer noch die Force de Frappe, also die französischen Atom-U-Boote, das ist wahr. Aber soll sich Deutschland wirklich darauf verlassen, dass die Franzosen uns schon beistehen werden, wenn es hart auf hart kommt? So weit geht die Nachbarschaftsliebe dann möglicherweise doch nicht. Und da haben wir noch nicht über Marine Le Pen geredet, die in den Umfragen zur Präsidentschaftswahl zu Macron aufgeschlossen hat. Trump im Weißen Haus und Le Pen im Élysée-Palast – dann sind wir sehr auf uns allein gestellt.

Also, Alternative: Wir sorgen selbst für die Bombe. Die Diskussion gab es schon einmal, Ende der fünfziger Jahre war das. Der Verteidigungsminister hieß Franz Josef Strauß. Es war eines der großen politischen Gefechte der Nachkriegszeit, das dann zuungunsten von Strauß ausging, mit tatkräftiger Unterstützung des „Spiegel“. Es spricht für die heutige Chefredaktion, dass sie den Vorschlag einer atomaren Aufrüstung in einem Leitartikel erörtern lässt, ohne diesen gleich zu verwerfen.

Eine Anschaffung wäre nicht einfach, keine Frage. Deutschland müsste aus dem Zwei-plus-vier-Vertrag sowie dem Atomwaffensperrvertrag austreten. Andererseits: Was sind diese Verträge noch wert, wenn eine der Vertragsparteien sie ohnehin für nichtig erklärt hat? Souveränität heißt für Putin, souverän darüber zu entscheiden, an welche Unterschriften er sich gebunden fühlt und an welche nicht. Damit ist aber die ganze Sicherheitsarchitektur obsolet, in die man Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingebunden hatte.

Eine ganz andere Frage ist, ob die deutsche Öffentlichkeit reif für die Bombe wäre. Bis heute klammert man sich auf der Linken an die Vorstellung, dass der einzige Frieden, der zähle, der Frieden ohne Waffen sei. Daran hat auch der Überfall auf die Ukraine nicht grundsätzlich etwas geändert.

Müssen es wirklich 100 Milliarden für die Bundeswehr sein, fragen jetzt die Ersten. „Nein zum Krieg! Demokratie und Sozialstaat bewahren – keine Hochrüstung ins Grundgesetz!“, ist ein Appell von 600 mehr oder weniger Prominenten aus Politik, Kirche und Kultur überschrieben. Bei der Grünen Jugend denken sie daran, einen Teil der Milliarden, die der Kanzler der Bundeswehr in Aussicht gestellt hat, in die politische Bildung zu stecken. Dass mit jedem, der eine Waffe in die Hand nimmt, etwas nicht stimmen kann, davon ist man links der Mitte nach wie vor überzeugt.

Mir hat das pazifistische Argument nie richtig eingeleuchtet. Dass Waffen die Welt nicht sicherer machen, mag als abstrakte Weisheit stimmen. Im Konkreten ist schnell das Gegenteil bewiesen.

Mich erinnert vieles an die Gewissensprüfung, der ich mich als Wehrdienstverweigerer unterziehen musste. Wer Anfang der achtziger Jahre nicht zur Bundeswehr wollte, wurde noch auf die Ernsthaftigkeit seiner pazifistischen Überzeugung abgeklopft. Typische Frage: „Sie sind in einem Krankenhaus. In Ihrer Obhut befinden sich Frauen und Kinder. Neben Ihnen liegt ein Maschinengewehr. Der Feind nähert sich. Was tun Sie?“ Schon damals erschien mir die Antwort, die einem den Wehrdienst ersparte, nämlich dass man die Waffe selbstverständlich liegen lasse, absurd.

Ich glaube, es geht in Wahrheit darum, sich rauszuhalten. Das klingt natürlich nicht so sympathisch. Gaffer und Wegseher haben keinen guten Leumund. Also führt man höhere Ziele an: das Gewissen, das einem die Anwendung von Gewalt verbiete, die Sorge um den Weltfrieden. Was so treuherzig klingt, hat in Wahrheit etwas ziemlich Sinistres.

Es gab auch schon mal einen SPD-Kanzler, der eine Aufrüstungsdebatte durchstehen musste. Der Kanzler hieß Helmut Schmidt. Am Ende hatte er seine Parteifreunde verloren, aber die Aufrüstung kam. Mal sehen, wie es dieses Mal ausgeht.

©Silke Werzinger