Bodo Ramelow gilt als Vorzeigedemokrat, der erst ans Land und dann an die Partei denkt. Dabei gibt es kaum einen Politiker, der so mit sich selbst beschäftigt ist wie der Mann aus Thüringen. Schon die leiseste Kritik führt ihn an seine Belastungsgrenze
Er sei das Bürgerlichste, was in Thüringen herumlaufe, hat der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt. Das hat mir zu denken gegeben.
Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, in der es als Stigma galt, als bürgerlich zu gelten. Heute wollen alle bürgerlich sein – die AfD, die Sozialdemokraten, die Grünen ohnehin. Jetzt also auch die Leute von der Linkspartei. Was früher ein Zeichen von Langeweile und Spießigkeit war, steht nun für Verlässlichkeit und Solidität. Bürgerlich zu sein ist die Zusicherung, dass man als Politiker keinen Quatsch macht, wenn man an die Regierung kommt. Seht her, ihr könnt mir vertrauen, lautet das Versprechen.
Wenn man sich Ramelow ansieht, muss man sagen: Bürgerlicher geht’s nicht. Er verlässt nie ohne Anzug und Krawatte das Haus. Sein Hund, ein Jack-Russell-Terrier namens „Attila“, ist fast so berühmt wie er selbst. Allerdings sieht auch Björn Höcke sehr bürgerlich aus. Auch Herr Höcke legt Wert auf eine gepflegte Erscheinung und trägt immer Anzug, wenn er vor die Tür tritt.
Der äußere Schein kann trügen, weshalb in den vergangenen Wochen verschiedentlich darauf hingewiesen wurde, dass Bürgerlichkeit vor allem eine Frage der inneren Haltung ist, die mit Selbstbeherrschung, politischer Reife und einer freundlichen Gelassenheit angesichts der Zumutungen der Welt einhergeht.
Gelassenheit ist nicht Ramelows stärkste Seite. Schon die einfachsten Fragen führen ihn an seine Grenzen. Ich spreche hier aus Erfahrung. Ramelow ist der einzige Politiker, den ich getroffen habe, der ein Interview abbrach, weil ihm die Zielrichtung nicht passte.
Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, aber während eines Gesprächs in seinem Büro beklagte er sich bei mir, dass er jahrelang vom Verfassungsschutz beobachtet worden sei, worauf ich erwiderte, dass ich vollstes Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden hätte und deshalb selbstverständlich davon ausginge, dass der Verfassungsschutz seine Gründe gehabt habe. Das reichte, um mich des Zimmers zu verweisen. Ein Kollege hat dann das Interview ohne mich zu Ende geführt.
Ramelow hat auch schon Interviews mit dem MDR oder dem Video-Blogger Tilo Jung zwischendurch abgebrochen. Vergangene Woche saß er bei Sandra Maischberger. Als sie ihn als „sozialistischen Ministerpräsidenten“ ansprach, war es fast wieder so weit, dass er aufgestanden und gegangen wäre. Gleich im ersten Satz des Parteiprogramms der Linkspartei steht, dass sie eine „sozialistische Partei“ sei. Ich kann mir den Widerspruch nur so erklären, dass Ramelow wie viele autoritär veranlagte Menschen an einem Übermaß an Ichbezug leidet. Wer alles auf sich bezieht, verliert irgendwann den Kontakt zur Realität.
Wie sehr ihn der Verlust seines Amtes getroffen hat, offenbarte er in der Sendung bei „Maischberger“, als er über die „schweren Zeiten“ sprach, die er durchlitten habe. Er habe das Massaker am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt erlebt und den Hungerstreik der Kalikumpel in Bischofferode, sagte er, „aber so was, was ich seit Mittwoch erlebe, was meine Familie erlebt, das haben wir noch nicht erlebt“.
Ich glaube gern, dass eine Wahlniederlage für einen Politiker eine traumatische Erfahrung sein kann. Demokratie ist manchmal einfach Mist. Aber so tragisch wie ein Amoklauf? Hoffen wir, dass die Überlebenden des Schulmassakers am Gutenberg-Gymnasium um 22.45 Uhr nicht mehr vor dem Fernseher sitzen. Ich denke, sie würden Herrn Ramelow sonst gern darüber aufklären, dass es sicher schlimm ist, wenn sich die eigenen Karrierepläne zerschlagen, aber das es deutlich schlimmer ist, wenn man Mitschüler im Kugelhagel verliert.
Überall kann man jetzt lesen, dass die Linkspartei eine Partei wie alle andern sei (ausgenommen die AfD selbstverständlich, mit der will niemand verglichen werden). Die Digital-Intellektuelle Marina Weisband brachte diese Einschätzung vorbildhaft auf den Punkt, als sie zum Vergleich von AfD und Linkspartei schrieb, dass man Faschismus und kostenlose Kitaplätze nicht gleichsetzen könne.
Ich vermute, dass vielen Menschen bei SED mehr einfällt als kostenlose Kitaplätze, korrigieren Sie mich, wenn ich falschliegen sollte. Außerdem kann eine Partei trotz sozialer Wohltaten ein Verein sein, den man besser nicht wählt. Was den Ausbau des Sozialstaats angeht, kann man auch den Nationalsozialisten keinen Vorwurf machen. Eine Reihe von sozialen Errungenschaften, auf die wir bis heute stolz sind, verdanken wir dem „Führer“, angefangen beim Kindergeld oder dem Mieterschutz.
Jede Partei hat ihren Narrensaum, bei der Linken ist der Saum allerdings besonders reich verziert. Zwei Namen: Die Vizechefin der Fraktion der Linken im Bundestag, Heike Hänsel, ist ein so glühender Fan des venezolanischen Diktators Maduro, dass der „Spiegel“ sie neulich als „Vertreterin einer verrückten Sekte“ einstufte. Über die stellvertretende Parteivorsitzende Janine Wissler kann man auf ihrer Wikipedia-Seite lesen: „Janine Wissler lehnt den Kapitalismus als ‚unmenschliches, grausames System‘ ab. Das Einführen einer ‚klassenlosen Gesellschaft’ könne nicht durch ‚Parlamente und Regierungen‘ geschehen.“
Mag sein, dass Leute wie Hänsel oder Wissler in der Linkspartei nicht viel zu sagen haben. Ich will trotzdem nicht von Politikern regiert werden, die auf Pilgerfahrt nach Caracas gehen oder darüber nachsinnen, wie man das parlamentarische System aushebeln könne. Nennen Sie mich altmodisch: Ich habe es einfach lieber, wenn an der Regierung Parteien beteiligt sind, die kein Fall für den Verfassungsschutz sind.
Eine gewisse Doppelbödigkeit gehört zum politischen Geschäft. Aber wer die Toten von Buchenwald exhumiert, um sich gegenüber dem politischen Gegner in Szene zu setzen, muss sich strengere Maßstäbe an moralische Konsistenz gefallen lassen. Ausgerechnet bei der Vergangenheitsbewältigung nimmt es die Linkspartei selbst nicht so genau. Die DDR ein Unrechtsstaat? Das könne man so nicht sagen, findet Ramelow. Schießbefehl an der Grenze? Nicht wirklich bewiesen, sagt er. Wer weiß, vielleicht lernen wir demnächst, dass die Mauer eigentlich gar keine Mauer war.
Ich habe für solche Verrenkungen sogar Verständnis. Wer viele Ehemalige in den eigenen Reihen hat, tut gut daran, sie nicht zu verärgern. Das war bei der CDU bis in die siebziger Jahre nicht anders, weshalb man auch dort verlässlich die schützende Hand über die alten Kameraden hielt. Nur sollte man sich dann vielleicht nicht zu sehr ins Zeug legen, wenn es um die Verfehlungen bei anderen geht.
Im Netz machte über das Wochenende ein kurzer Videoclip Karriere, in dem zu sehen ist, wie Ramelows Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff wenige Tage vor der Ministerpräsidentenwahl erklärte, weshalb es kein Beinbruch sei, wenn eine rot-grüne Minderheitsregierung ihre Gesetze mithilfe von Stimmen aus der AfD durchbringe. Zwei Wochen später gilt jede Unterstützung durch die AfD als unentschuldbarer Tabubruch.
Ich glaube, dass Ramelow in China ein sehr glücklicher Mensch wäre. In China gibt es weder freche Journalisten noch eine Öffentlichkeit, die einen mit alten Äußerungen oder Ankündigungen in Verlegenheit bringen könnte.