Generation Spießer

Viel ist heute von Angst die Rede. Der Angst vor dem Klimawandel. Der Angst vor dem Virus. Der Angst vor dem Ende der Welt. Aber die größte Angst der Generation Millennial ist die Angst anzuecken

Mein Journalistenschullehrer Wolf Schneider war schon politisch inkorrekt, als es noch nicht mal ein Wort dafür gab. Er nannte Burkina Faso weiter Obervolta, weil er nicht bei jedem zweitklassigen Militärputsch die anstehende Staatsumbenennung mitmachen wollte, wie er leichthin erklärte. Er sprach unbekümmert von Elite als Elite, ganz ohne Anführungsstriche und Gewissensbisse.

Wenn ihm ein Text nicht gefiel, schrieb er an den Rand „Bäh!“ oder malte kleine Galgen. Ob er damit die Gefühle seiner Schüler verletzte, war ihm herzlich egal. Kurzum: Er war eine Zumutung für mich und meine Kommilitonen an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Wir haben von ihm enorm profitiert.

Ich habe neulich wieder an Wolf Schneider denken müssen.

Ich hatte in einer Kolumne über einen Besuch an meiner alten Schule geschrieben, worauf mir der jetzige Schulleiter vorwarf, ich hätte mich nicht an die Regeln gehalten.

Ich hätte die Vertraulichkeit verletzt, dafür müsste ich mich bei den Schülern entschuldigen.

In der Kolumne hatte ich berichtet, wie mir bei einer Diskussion über mein Lieblingsthema, der Konformismus in Kultur und Medien, entgegengehalten wurde, ich würde Unsinn reden. Der neue Schulleiter hatte mir vorher gesagt, ich könnte frei sprechen, nichts werde nach außen dringen. Das hätte es gar nicht gebraucht, ich spreche immer frei. Ich wusste auch nicht, dass man die Vertraulichkeit gegen sich selbst brechen kann. Aber so ist das heute: Ein Gag, und sei es auf eigene Kosten, und schon steht jemand neben einem und sagt: War das auch abgesprochen? Viel ist derzeit von Angst die Rede. Der Angst vor dem Klimawandel.

Der Angst vor dem Virus. Der Angst vor dem Ende der Welt. Aber die größte Angst, die ich bei der Generation X und Y sehe, ist die Angst anzuecken.

Ich hielt es immer für ein Privileg der Jugend, aufmüpfig und unangepasst zu sein. Hätte ich etwas bei der Ausbildung nachfolgender Jahrgänge zu sagen, dann würde ich dazu ermuntern, sich frei zu machen von der Erwartung anderer. Geht raus, würde ich sagen: Schaut euch in der Welt um, und falls ihr Journalisten werden wollt, schreibt auf, was ihr seht. Wenn ihr dabei ein paar Leuten auf die Füße tretet, umso besser.

Aber mit dieser Freiheit scheint es vorbei zu sein. Viele Ausbildungsorte gleichen heute geschützten Werkstätten, in denen man eingebimst bekommt, auf wen und auf was man Rücksicht nehmen sollte und wo die Grenzen des „Sagbaren“ liegen, wie die Tabuzonen heißen. Das Verrückteste dabei ist: Die meisten Schüler finden das auch noch gut. Sie sehen den Schulleiter nicht als Antipoden, sondern als Verbündeten im Kampf gegen das Inkorrekte.

Je älter ich werde, desto mehr Abbitte leiste ich innerlich bei den Achtundsechzigern. Ich habe mich oft über die Veteranen dieser Erlebnisgeneration lustig gemacht: ihren Hang zur Selbstglorifizierung, die haarsträubende Eitelkeit, mit der sie erklärten, dass Deutschland ihnen die eigentliche Befreiung vom Nationalsozialismus verdanke.

Aber eines muss ich anerkennen: Als die Achtundsechziger antraten, die Welt in ihrem Sinne zu verändern, waren sie nicht Establishment, sondern revolutionäre Kraft. Als sie auf die Straße gingen, stand niemand von den Eltern oder der politischen Elite am Rand und klatschte Beifall.

Sie waren auch ziemlich angstfrei. Sie schielten bei dem, was sie taten, nicht ständig darauf, wie es ankommen würde. Im Zweifel gaben sie dem Regelbruch den Vorzug.

Das verlieh ihrem Auftritt Frische und Elan.

„Immer radikal, niemals konsequent“, hat der Autor Walter Benjamin als Wahlspruch ausgegeben.

Bei den sogenannten Millennials ist es genau umgekehrt. Deshalb ist jemand wie Luisa Neubauer auch ein gern gesehener Gast auf Panels und Podien, wo man dann mit Autobossen oder Finanzvorständen über die Abwicklung der deutschen In dustrie diskutiert. Wenn die „Fridays for Future“-Anführerin vom Systemwandel spricht, fährt höchstens ein paar konservativen Recken der Schrecken in die Glieder.

Auch das ist ein Vorteil, wenn man die siebziger Jahre hinter sich hat: Die Vergemeinschaftung ist schneller gefordert als in der Praxis umgesetzt. Gesellschaften sind zähe Gebilde, wie jeder Soziologe weiß. Daher funktionieren Revolutionen nur mit vorgehaltener Waffe, dazu wiederum ist die grüne Jugend zu pazifiziert. Der Terrorismus der Generation Angst drückt sich im Privaten aus. „Wo kommt der Plastikbecher her, Igor? Wir waren uns doch einig, dass wir nur noch mit Mehrwegbecher aus dem Haus gehen. Und was ist das überhaupt für Kaffee? Ist der wirklich Fair Trade?“

Die Welt der Zukunft ist eine des Verzichts. Statt Überschwang und Aufbruch herrscht das protestantische Ethos, also „Dekarbonisierung“, „Deplatforming“, „Degrowth“. Die Flucht ins Englische hilft ein wenig über die Tristesse hinweg. Klar, vieles mag angesichts steigender CO2-Werte vernünftig sein, aber das Ganze wirkt immer so, als ob jemand überall Häkeldeckchen verteilt hätte.

Die kosmopolitische, hedonistische Linke war mir lieber, muss ich sagen. Die Linken der siebziger Jahre waren auch schnell mit ihrem Latein am Ende, wenn sie sagen sollten, wie denn das sozialistische Paradies aussehe, von dem ständig die Rede war.

Utopien haben es so an sich, dass die konkrete Beschreibung hinter den Erwartungen zurückbleibt.

Aber wenigstens versprachen die Hippies eine Welt, in der es für alle mehr gab: mehr Sex, mehr Erleuchtung, mehr Hasch. Wenn man Luisa Neubauer fragt, was ihr Traum von Glück sei, dann antwortet sie: dass jeder zweite sein Auto abgibt. Das Idealbild ist die Stadt, in der nichts mehr raucht und qualmt und in der alles auf die Lautstärke von Fahrradklingeln gedämpft ist.

So bleibt ein Leben auf kleiner Flamme, wo man jeden Sommer an die Ostsee fährt und im Herbst zum Wandern auf den Brocken. Viel weiter kommt man ja auch nicht mit Fahrrad oder Bahn. Im Grunde erfüllt sich bei Fridays for Future der AfD-Traum von der Wende ins Heimelige: noch die schönsten Wochen des Jahres auf der heimischen Scholle mit dem Rücken zur Welt. Dafür kann man bei jeder Karotte, die man sich einverleibt, sagen, wo sie angebaut wurde.

Sie denken, das sei ein Witz? Vor Jahren war ich mit Freunden in einem Berliner Szenelokal, das damit wirbt, dass jede Zutat aus der Region kommt. Es gibt dort zum Beispiel keinen Pfeffer, weil in Berlin kein Pfeffer wächst.

Bei der Möhre wusste der Keller nicht nur, wo sie großgezogen wurde, er kannte auch den Namen des Bauern, der sie geerntet hatte.

Kein fremdes Gemüse auf dem Teller? Nur Einkauf bei Leuten, die man beim Vornamen kennt? Alle sitzen um einen Herd und essen deutsch? Mir kam das bekannt vor.

Als wir beim Sauerampfersalat angelangt waren, musste ich mich kurz vergewissern, dass ich an einem der Nebentische nicht Beatrix von Storch übersehen hatte.

Zu allem Unglück beschränkt sich die neue Sittsamkeit nicht auf CO2-Werte. Auch im Gespräch wird auf Vermeidung unerwünschter Emissionen geachtet. Niemand ist mehr gemein oder zu vulgär. Selbstverständlich wird nur im Ton des höchsten Respekts über jeden und jede gesprochen, der sich der guten Sache verpflichtet fühlt. Sich lustig machen über fremde Volksgruppen? Undenkbar. Witze auf Kosten von Minderheiten? Um Gottes willen! Meine Hoffnung ruht jetzt auf der Generation Z. Wie ich einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ entnommen habe, sind das Feindbild der 16- bis 20-Jährigen nicht mehr die Babyboomer, also Leute in meinem Alter, sondern die Millennials, das heißt, die zwischen 1980 und 1999 Geborenen. Das Urteil der Z-ler über die Vorgängergeneration: zu uncool, zu streberhaft, zu borniert.

Das ist das Verhängnisvolle am Alter: Aus Sicht eines 18-Jährigen ist eine 24-Jährige schon brutal alt. Und ein 35-Jähriger nahe an der Pensionsgrenze. Da helfen auch alle Verrenkungen, sich möglichst zeitgeistig zu gebärden, nichts. Der alte weiße Mann ist einem immer näher, als man denkt.

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