Immer mehr Menschen fällt es schwer, in der politischen Auseinandersetzung die Beherrschung zu behalten. Selbst Leute, die im Privaten die reizendsten Personen sind, werden plötzlich zu Furien. Was wir erleben, sind die Folgen einer Strategie, die man als Strategie des Maximums bezeichnen kann
Eine Meldung aus Leipzig. Eine junge Frau, 34 Jahre alt, leitende Angestellte bei einer stadtweit bekannten Immobilienfirma, verbringt den Abend zu Hause. Es klingelt an der Tür. Sie öffnet. Zwei Männer drängen sich in die Wohnung. Sie schlagen der Frau mehrfach mit der Faust ins Gesicht, dann flüchten sie. Die Frau bleibt verletzt zurück.
Wenige Stunden nach der Tat erscheint auf einer linken Plattform ein Text mit dem Titel „Hausbesuch in Leipzig“. „Wir haben uns entschieden, die Verantwortliche für den Bau eines problematischen Projekts im Leipziger Süden da zu treffen wo es ihr auch wirklich weh tut: in ihrem Gesicht“, heißt es darin. Den Stadtteil Connewitz, in dem die Immobilienfirma den Bau von drei Wohnhäusern vorantreibt, bezeichnen die Autoren als einen „Ort des Widerstandes gegen kapitalistische Verwertung, rassistische Ausgrenzung und staatlichen Terror“. In dem Beitrag stehen der vollständige Name und die Adresse des Opfers.
Der Vorfall liegt jetzt vier Wochen zurück. Das Landeskriminalamt hat wegen gefährlicher Körperverletzung Ermittlungen aufgenommen. Es wurden 100000 Euro für Hinweise ausgelobt, die zur Ergreifung der Täter führen können, bislang ergebnislos. Ich würde die Sache nicht weiter erwähnen, wenn ich nicht in den vergangenen Tagen verschiedentlich gelesen hätte, dass linke Gewalt ein Popanz sei, den sich die andere Seite ausgedacht hätte, um von eigenen Taten abzulenken.
„Das Märchen vom linken Mob“ war ein Beitrag bei Spiegel Online überschrieben. „Rechte suchen kontinuierlich nach Beispielen angeblich linker Bedrohung, um sich als Opfer darstellen zu können“, stand in dem Text. Hoffen wir für die Prokuristin aus Leipzig, dass sie nicht zu den regelmäßigen Spiegel-Online-Lesern gehört. Ich fürchte, dass sich die Faustschläge, die sie ins Gesicht trafen, nicht sehr angeblich anfühlten. Wer den Schaden hat, braucht nicht auch noch den Spott dazu.
Man soll nicht aufrechnen, ich weiß, das gilt als schlechter Stil. Ich bin auch sofort bereit einzuräumen, dass rechte Schläger oft noch hemmungsloser vorgehen als linke. Ich glaube halt nur, dass man es mit der Unschuldsvermutung in eigener Sache übertreiben kann.
Es gibt Zahlen für jede Seite. Die Bundesregierung hat gerade Auskunft über Straftaten gegen die im Bundestag vertreten Parteien gegeben. 52-mal wurden im dritten Quartal 2019 Angriffe auf Parteibüros gemeldet. In 26 Fällen traf es die AfD, danach kommen SPD und Linkspartei (je siebenmal). Auch bei Angriffen auf Personen führt die rechte Partei die Opferstatistik an. Bei 127 von insgesamt 278 registrierten Straftaten werden AfD-Mitglieder als Geschädigte aufgeführt. Bei der CDU gab es im selben Zeitraum 72 Attacken auf Parteienvertreter, gefolgt von der SPD (36) und den Grünen (28). Die Linkspartei traf es 15-mal, FDP und CSU acht- beziehungsweise zweimal.
Man wird mir entgegenhalten, dass bei Hasskriminalität im Netz das Verhältnis ganz anders aussehe. Das mag sein, aber ich führe die Zahlen der Bundesregierung ja auch nicht an, um zu sagen, dass Linke schlimmer seien. Ich nenne sie, um deutlich zu machen, dass man es sich bei der Schuldverteilung nicht zu einfach machen sollte.
Selbstgerechtigkeit ist eine menschliche Disposition, sie begleitet uns, seit unsere Vorfahren erstmals ums Höhlenfeuer saßen. Der Prozess der Zivilisation hat dafür gesorgt, dass der Mensch lernte, von der eigenen Befindlichkeit abzusehen und andere Perspektiven einzubeziehen. Angeblich sind wir die Spitze der Zivilisation, aber ich ertappe ich mich immer öfter bei dem Gedanken, dass der dauernde Blick aufs Handy den zivilisatorischen Prozess umzukehren droht.
Ich bin seit zehn Jahren auf Twitter. Ich versuche auch dort, andere weder zu beschimpfen noch mit haltlosen Verdächtigungen zu überziehen. Manchmal hilft es durchzuatmen, bevor man einen Kommentar ins Netz schießt. Außerdem halte ich mich an eine Regel, die lautet: Don’t drink and twitter. Ich habe mir dadurch schon viel Ärger erspart.
Mein Eindruck ist, dass es immer mehr Menschen schwerfällt, die Contenance zu wahren. Man kann in Echtzeit dabei zusehen, wie sie die Nerven verlieren. Selbst Leute, die im privaten Umgang die reizendsten Personen sind, werden plötzlich zu Furien. Manchmal frage ich mich, ob wir es mit einer neuen Form von BSE zu tun haben. Vielleicht ist Beyond Meat doch nicht so gesund, wie alle behaupten?
Eine Kollegin, die eben noch für ihre „frechen, aber nie verletzenden“ Texte ausgezeichnet wurde, empfiehlt der Chefredakteurin einer ihr verhassten Zeitung, sie solle sich um die „Scheiße“ in ihrem Blatt kümmern, statt darüber zu jammern, dass sie angefeindet werde. Eine Journalistin, die darüber Klage führt, wie sehr Hate Speech überhandnehme, bezeichnet im selben Atemzug alle libertär denkenden Menschen als „Abfall“. Ein freier Mitarbeiter des ZDF schreibt: „Adolf Hitler, für mich der Dieter Nuhr unter den Faschisten.“
Was wir erleben, sind die Folgen einer Strategie, die man als Strategie des Maximums bezeichnen könnte. Dem Gegenüber wird stets das Schlimmste unterstellt, die finstersten Absichten, die verabscheuungswürdigsten Pläne.
Ein Blogger der „Welt“ antwortet einer Frau, die er nicht leiden kann, sie werde irgendwann schon die Quittung für ihr Verhalten bekommen. Die Quittung bekommen? Ein Mordaufruf, ganz klar! Ich würde sagen, die Formulierung lässt alle möglichen Deutungen zu. Dies als Todesdrohung zu lesen wäre das Letzte, was mir in den Sinn käme, aber genau so wird es verstanden.
Dass man jemanden, der Auslöschungsfantasien hegt, nicht ungestraft davonkommen lassen darf, versteht sich von selbst. Also wird an die Vorgesetzten appelliert, den Mann aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn die Vorgesetzten der Aufforderung nicht folgen, wird erst gegen die Zeitung Stimmung gemacht, die sich uneinsichtig zeigt, dann gegen den Verlag, in dem sie erscheint. Am Ende ist man gegen alle, die ein gutes Wort einlegen oder zur Mäßigung aufrufen.
Jeder drückt sich hin und wieder ungeschickt aus. Manchmal treten wir anderen unabsichtlich zu nahe oder sagen Dinge, die sie als verletzend empfinden. Kommunikation ist eine einzige Grauzone, deshalb kommt es ja auch laufend zu Missverständnissen. Wer wüsste aus dem eigenen Erleben nicht Beispiele zu nennen, in denen er anders verstanden wurde, als es gemeint war? Aber im Twitter-Krieg sind alle Graustufen getilgt, es existieren nur noch Schwarz und Weiß.
Das hat Folgen, die über das Medium hinausgehen. Wenn man dem anderen unterstellt, er wolle einen kleinmachen, beleidigen, diskriminieren, wird der Raum für Verständigung sehr eng. Mit einem vorsätzlichen Beleidiger und Diskriminierer kann es keine Verständigung geben. Jedes Gespräch wäre ein Verrat oder, schlimmer noch, eine Kapitulation. Hass ist keine Meinung, wie es so schön heißt.
Unsere Vorfahren haben die Keule in die Hand genommen, wenn sie die Höhle verließen. Ich fürchte, uns trennt weniger von ihnen, als wir denken.
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