Wir befinden uns an der Schwelle zu einer Dauerrezession, schon im nächsten Jahr könnte Deutschland ohne amerikanischen Atomschild dastehen: Und was macht Olaf Scholz? Er lacht. Was stimmt mit dem Mann nicht?
In der Urlaubsunterkunft bin ich auf ein Buch des New Yorker Wissenschaftsautors Malcolm Gladwell gestoßen. Das Buch handelt davon, wie man scheinbar unvermeidliche Niederlagen in Siege verwandelt. Es beginnt mit der Geschichte von David und Goliath.
Der Zweikampf zwischen dem Hirtenjungen David und dem Riesen Goliath gehört zu den bekanntesten Geschichten der Welt. Schmächtiger Junge aus einfachen Verhältnissen trifft auf übermächtigen Gegner und erledigt ihn zur Überraschung aller mit einem Wurf aus seiner Steinschleuder: Wer hätte davon nicht gehört? Aber bei Gladwell habe ich eine Geschichte gelesen, die ich so noch nicht kannte.
So wie Gladwell die Begegnung im Tal von Elah erzählt, ist es eine Parabel darüber, was passiert, wenn man sich zu sicher fühlt. Wir halten die Steinschleuder für eine Art Kinderspielzeug, dabei war sie eine gefürchtete Waffe. Ein erfahrener Schütze konnte damit aus zweihundert Metern Entfernung einen Menschen verletzen oder töten. Einige Schleuderer sollen in der Lage gewesen sein, jede Münze, die sie sehen konnten, zu treffen.
Goliaths Stärke war der Nahkampf, bei dem sich der Gegner durch Körperkraft überwältigen lässt. Entsprechend lautete auch die Aufforderung des Riesen an seinen Herausforderer: „Komm nur her zu mir. Ich werde Dein Fleisch den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren zum Fraß geben.“ Es ist der Satz eines Mannes, der meint, die Spielregeln diktieren zu können, weil er gewohnt ist, dass alle in seiner Umgebung auf ihn hören. Wer zu lange das Sagen hat, dessen Vorstellungsvermögen schrumpft. Am Ende fällt Goliath über seine eigene Arroganz und Aufgeblasenheit.
Ballistiker haben errechnet, dass ein Stein, wie ihn Goliath an der Stirn traf, aus 35 Metern Entfernung abgefeuert eine Geschwindigkeit von 120 Kilometer erreicht haben wird. Die Wucht des Aufpralls wird der Kugel aus einer modernen Handfeuerwaffe entsprochen haben. „Mit seinem Schwert hatte Goliath ungefähr genauso gute Chancen gegen David wie gegen einen Gegner mit einer automatischen Pistole“, zitiert Gladwell einen Militärhistoriker.
„Komm nur her zu mir“: Overconfidence nennt man das Phänomen im Englischen. „Übersteigertes Selbstvertrauen“ wäre wohl die beste Übersetzung.
Ein anderes Opfer der Overconfidence ist unser Bundeskanzler. Seit zwei Jahren regiert Olaf Scholz das Land. Das Schiff schlingert mächtig, Krise reiht sich an Krise, nichts will gelingen. Aber jedes Mal, wenn der Kanzler vor ein Mikrofon tritt, hört man ihn sagen, dass sich die Menschen keine Sorgen zu machen bräuchten, weil er ja jetzt im Kanzleramt säße.
Die Berichte in den Zeitungen? Miesepetereien notorischer Schlechtredner. Die verheerenden Umfragewerte? Demoskopen-Hokuspokus, das nicht die wahre Stimmung im Land spiegelt. Die deprimierenden ökonomischen Daten? Augenblicksaufnahmen, die schon morgen überholt sein werden.
Die seltsame Ruhe ist nicht vorgetäuscht, Scholz denkt wirklich so. Das gilt auch für seine Entourage. Ich bin in Sommer seinem Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt begegnet. Ich habe selten einen entspannteren Kanzleramtschef erlebt. Schon im Sommer war die Lage nicht gut. Am Ende des Abends fragte ich mich, welche Happy Pills sie im Kanzleramt einwerfen. Egal, was man ihm entgegenhielt: Schmidt antwortet mit der geduldigen Nachsicht eines Menschen, der sich im Besitz einer Wahrheit weiß, die den Umstehenden leider noch verschlossen ist.
Im Prinzip finde ich es gut, wenn sich die politisch Verantwortlichen nicht zu sehr von den Aufregungen des Tages leiten lassen. Eine gewisse Wirklichkeitsabgewandtheit muss an der Spitze sein, anders lässt sich das Land nicht regieren. Wenn Sie als Kanzler zu sehr der Presselage folgen, finden Sie aus der Depression nicht mehr heraus. Aber es gibt einen Punkt, an dem das Selbstvertrauen in Fahrlässigkeit umschlägt. Dann droht der Goliath-Moment.
Ich hatte mir fest vorgenommen, zum Jahreswechsel Zuversicht und Frohsinn zu verbreiten. Aber man muss der Lage als Kolumnist ins Auge sehen. Die wirtschaftliche Malaise ist keine Wachstumsschwäche, die schon im nächsten Quartal behoben sein wird, sondern Vorbote eines anhaltenden Niedergangs, wie es aussieht. Selbst die Italiener, auf deren Staatskünste wir Deutsche gerne herabsehen, sind uns enteilt.
Und das sind nur die innerdeutschen Aussichten. Noch düsterer sind die internationalen. Mein Kollege René Pfister hat vor Weihnachten John Bolton getroffen. Bolton war unter Trump ein Jahr oberster Sicherheitsberater, bis er rausflog, weil er es als seine wichtigste Aufgabe ansah, Trump dessen Lieblingsideen wie die eines Nato-Austritts auszureden.
Dem nächsten Kabinett wird Bolton mit Sicherheit nicht mehr angehören und auch niemand, der so denkt wie er. Bei Trump zwei werden nur noch True Believer an Bord sein, also Leute, die Trumps Vorstellungen zu hundert Prozent teilen – oder, wenn sie unsicher sind, was seine Vorstellungen sind, zu 150 Prozent.
Wie sieht nun Bolton auf Deutschland und Europa? Nun ja, sagt er, soweit er sich erinnern könne, sei die europäische Verteidigungspolitik immer nur in Sonntagsreden stark gewesen. „Long on rhetoric and short on substance“, wie Bolton sich ausdrückt. Als ihm Pfister entgegenhielt, sein Argument laufe darauf hinaus, dass die Europäer im Falle einer Wiederwahl Trumps verloren seien, sagte Bolton: „Basically that’s right“.
Ich will, wie gesagt, zum Anfang des Jahres keine schlechte Laune verbreiten. Aber eine zweite Amtszeit Trumps wird mit jeder Woche wahrscheinlicher. Joe Biden ist bei den amerikanischen Wählern rasend unbeliebt. Wobei „unbeliebt“ das falsche Wort ist. Die Leute haben eher Mitleid mit ihm, was fast noch schlimmer ist. Wenn sie sehen, wie sich Biden durch seine öffentlichen Auftritte quält, denken sie: Gott, ja, mit 81 Jahren war mein Dad auch nicht mehr ganz bei sich.
Was machen wir, wenn Trump die Mitgliedschaft in der Nato aufkündigt? Man sollte meinen, im Kanzleramt würden sie Tag und Nacht über diese Frage nachdenken. Aber weit gefehlt. Auch in dieser Hinsicht herrscht diese unerklärliche Gelassenheit, mit der man dort seit zwei Jahren jeder Krise begegnet. Die Suppe wird nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. I cross the bridge, when I reach it. Regierungskunst als Glückskeks-Weisheit.
Ich glaube mittlerweile, die richtige Mischung aus Gelassenheit und Gefahrenbewusstsein ist eine Frage der Intelligenz. An Angela Merkel lässt sich viel aussetzen, doch sie verstand immer, um was es ging. Sie hat dann oft die Dinge auf die lange Bank geschoben. Aber auch das ist eine Intelligenzleistung. Man muss wissen, was sich durch Zuwarten erledigt, jedenfalls solange man noch selbst im Amt ist – und was so schnell anbrennt, dass man besser tätig wird, wenn man am Ende nicht der Gelackmeierte sein will.
Scholz bewundert Merkel bis heute. Leider hat er aus der Beobachtung seiner Vorgängerin die falschen Schlüsse gezogen. Er denkt, dass die Wähler es honorieren, wenn man sie nicht mit Erklärungen behelligt. Das ist richtig. Aber dafür erwarten sie im Gegenzug auch, dass ihr Kanzler die Dinge im Griff hat. Das Gefühl haben außerhalb des Kanzleramts nicht einmal die Treuesten der Treuen.
Im „Spiegel“ war neulich das Porträt eines Mannes zu lesen, der sich intellektuell für so überlegen hält, dass er meint, ihm könne nichts mehr gefährlich werden. Wenn es ein Geräusch gebe, das ihn charakterisiere, dann sei es dieses meckernde Lachen: höhöhö. Das Geräusch erklinge, wenn Scholz glaube, seinen Zuhörern eine Erkenntnis präsentiert zu haben, die sie bislang übersehen hatten. Wenn er einen Plan skizziere, den er für besonders listig halte. Oder wenn er erkläre, warum er am Ende recht behalten werde und nicht die Opposition und nicht die Medien. Höhöhö.
Wirklichkeitsverlust aus dem Gefühl der Einzigartigkeit: Das ist Overconfidence am Limit.
© Sören Kunz
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