Nach dem Turbokapitalismus kommt nun der „wache“ Kapitalismus, der auf jede politische Forderung mit einem sofortigen Kniefall reagiert. Der Opportunismus hat auch in der Wirtschaftswelt eine neue Stufe erreicht
Ein kleines Mädchen lehnt auf einem Foto lässig am Kühlergrill eines Autos. Sie trägt ein gepunktetes Sommerkleid, Jeansjacke und Sonnenbrille und isst eine Banane, während sie darauf wartet, dass jemand den Wagen aufschließt. Vielleicht muss sie zur Kita, oder es geht in den Urlaub, so genau kann man es nicht sagen. Das Bild ist eines der Motive, mit denen Audi für den RS4 wirbt, seinen neuen Turbo-Kombi. Weitere Motive der Kampagne zeigen die jungen Eltern, den Vater im T-Shirt, die Mutter in Lederweste und Leopardenhose. „Lets your heart beat faster – in every aspect“, steht über der Bildstrecke. Es ist etwas rätselhaft, warum das Kind eine Banane in der Hand hält. Andererseits, haben die Grünen nicht gerade dazu aufgerufen, dass Kinder mehr Obst essen sollen?
So weit, so unschuldig – und so dämlich, wie Werbung halt sein kann. Zu allem findet sich allerdings jemand, der sich tiefere Gedanken macht. Auch die Audi-Kampagne wurde einer genaueren Betrachtung unterzogen. Gerade kleine Kinder würden im Straßenverkehr immer häufiger übersehen, weil die Autos immer größer und immer stärker motorisiert seien, lautete darauf ein Vorwurf. Ein potenzielles Opfer als Werbefigur: wie geschmacklos! Außerdem habe das Bild so einen Lolita-Touch. „Verstörend“, kommentierte auf Twitter der Nutzer Christian Hasiewicz. „Kleines Mädchen mit Phallussymbol in der Hand. Klar, super“, meldete sich shiri@home zu Wort.
Ich würde meinen, dass bei jemandem, der bei einer Vierjährigen, die eine Banane isst, an Lolita denkt, etwas nicht stimmt. Manchmal fällt ein Vorwurf auf den zurück, der ihn äußert. Aber so gelassen kann man bei Audi in Ingolstadt die Twitter-Welt nicht sehen. Kaum hatten sich Christian Hasiewicz und shiri@home geäußert, zog Audi das Werbemotiv zurück. „Wir entschuldigen uns aufrichtig für dieses unsensible Bild und versichern, es in Zukunft nicht mehr zu nutzen“, erklärte der Konzern. Man werde unverzüglich untersuchen, wie diese Kampagne entstanden sei und welche Kontrollmechanismen versagt hätten.
Wir haben eine neue Stufe des Kapitalismus erreicht. Nach dem Raubtierkapitalismus und dem Turbokapitalismus kommt nun der woke Kapitalismus. Für alle, die nicht mit den neuesten Trends vertraut sind: Der Begriff „woke“ kommt aus der amerikanischen Studentenbewegung und bedeutet so viel wie „wach“, „achtsam“. Gemeint ist eine Geisteshaltung, die überall Ungerechtigkeit erkennt, auch dort, wo man sie nicht vermuten sollte. Die alten, linken Drugheads waren mir lieber, muss ich sagen. Die haben zumindest nicht hinter jedem Busch und jedem Kühlergrill gleich ein Moralverbrechen gewittert.
Drei spitze Schreie im Netz, und schon fallen sie in den Konzernzentralen um wie die Kegel. Gut, Standfestigkeit war noch nie eine Stärke von Wirtschaftslenkern. Rückgrat zu zeigen, ist nicht die erste Tugend, die einen in die Vorstandsetage bringt. Aber bislang war der Opportunismus auf das persönliche Fortkommen beschränkt, jetzt orientiert er sich auch an den Forderungen der Straße.
Es bleibt nicht bei Anzeigenmotiven. Wo die politische Lauterkeit zum Leitprinzip erhoben wird, kann es jeden treffen, dessen Gesinnung plötzlich als zweifelhaft gilt. Bei Google haben sie einen Programmierer gefeuert, weil er in einem internen Memo als Grund für den geringen Frauenanteil bei Google auf Theorien verwiesen hatte, wonach sich Frauen mehr für Menschen als für Dinge interessieren. Die Argumente, die er ins Feld führte, werden von einer Reihe von Wissenschaftlern unterstützt. Dennoch galt seine Meinung als so beleidigend, dass der Vorstandschef von Google seinen Urlaub unterbrach, um dem Mann persönlich zu kündigen.
Dass gerade das Silicon Valley ein besonders frauenfeindlicher Platz ist, das ist allgemein bekannt. Facebook begann als Seite zur Bewertung von Studentinnen, wer „hot“ sei und wer eher nicht so „hot“. Statt die Leute zur Rechenschaft zu ziehen, die es versäumt haben, mehr Frauen einzustellen, werden lieber diejenigen entfernt, die Vermutungen darüber anstellen, warum Frauen in der Belegschaft unterrepräsentiert sind. Auch das ist der neue woke Kapitalismus.
Was eben noch als Zeichen für fortschrittliche Gesinnung galt, kann morgen schon von einem neuen, noch fortschrittlicheren Standard überholt sein. Bei Adidas erwischte es vor sechs Wochen die Personalchefin Karen Parkin. Dass Parkin die einzige Frau im ansonsten rein weißen, rein männlichen Vorstand war? Egal. Ein paar Mitarbeiter hatten sich beklagt, weil sie bei einer internen Sitzung gesagt haben soll, sie halte die Klage über Rassismus bei Adidas für „Noise“, also ein Geräusch, das man nicht ernst nehmen müsse. Das reichte, um ihr den Stuhl vor die Tür zu setzen.
Ich habe mir im Netz Fotos von Vorstandschef Kasper Rorsted angesehen. Mir ist dabei eine bemerkenswerte Verwandlung aufgefallen. Auf den aktuellen Bildern trägt Rorsted Kapuzenjacke und Sneaker. Abgesehen davon, dass ich es ohnehin zweifelhaft finde, wenn Männer über 50 im Büro in Sportkleidung auflaufen: Nur zwei Mausklicks weiter findet man Bilder, die ihn brav im Anzug zeigen. Die Fotos stammen aus seiner Zeit beim Waschmittelhersteller Henkel. Die Metamorphose lässt sich nur so erklären, dass Rorsted sogar seine Kleidung danach aussucht, was er gerade für opportun hält.
Zur Erinnerung: Adidas war auch das Unternehmen, das verkündete, es werde künftig seine Miete schuldig bleiben, nachdem die Regierung die Mietstundung gesetzlich verankert hatte, um in Bedrängnis geratenen Kleinunternehmern zu helfen. Als die Sache dann breit in den Zeitungen stand, ruderte man schleunigst zurück, wobei man es nicht bei einer normalen Entschuldigung beließ: Die Entschuldigung musste selbstverständlich in gendergerechter Sprache abgefasst werden.
„Liebe Leser_innen, die Entscheidung, von Vermieter_ innen unserer Läden die Stundung der Miete für April zu verlangen, wurde von vielen von Ihnen als unsolidarisch empfunden“, begann das Schreiben. Was immer Adidas in Zukunft über seine Anzeigen schreiben mag, wenn ich jemanden mit den drei Streifen sehe, denke ich: Wendehals.
Man darf sich nicht täuschen. So schnell, wie es in die eine Richtung geht, so schnell geht es auch in die andere. Netflix hat die Produktion einer Serie in der Türkei gestoppt, weil die türkische Regierung Anstoß daran nahm, dass einer der Charaktere offen schwul sein sollte. Würde die chinesische Regierung Apple bitten, jede App zu entfernen, die chinesische Nutzer auf den Gedanken bringt, es könnte eine Welt außerhalb Chinas geben, würde Apple noch heute seinen App Store entsprechend umrüsten.
Das ist das Problem mit dem Kapitalismus, der bereitwillig der politischen Wetterlage folgt: Wenn sich der Wind dreht, ändert sich die Entscheidungsgrundlage. Ich verspreche Ihnen: Wenn in Deutschland in zehn Jahren die AfD regieren sollte, können wir gar nicht so schnell hinsehen, wie in Herzogenaurach die Genderflagge eingeholt und gegen eine himmelblaue Fahne ausgetauscht wird.
Auch für die Unternehmen ist diese Form der Wetterfühligkeit nicht ungefährlich, das nur nebenbei. Wer sich bei jedem Windhauch auf den Boden wirft, kommt irgendwann nicht mehr hoch. Die Kräfte der woken Welt geben nie Ruhe, man kann si e immer nur für kur ze Zeit besänftigen. Irgendwann wird es heißen: Darf man überhaupt noch für Autos werben? Ist nicht das Auto an sich ein verstörendes Symbol für Rücksichtslosigkeit?
Wenn ich darüber nachdenke: Werbung an sich ist doch hochproblematisch. Heißt Werbung nicht, den Leuten etwas unterzujubeln, was sie vielleicht gar nicht wollen? Das ist schlicht Manipulation! Wo bleibt da der Respekt vor dem Verbraucher! Der Tag ist nicht mehr fern, und wir diskutieren über ein grundsätzliches Werbeverbot. Oder über Werbung nur noch mit Warnhinweisen, wie wir es von Tabakpackungen kennen: Vorsicht, der Kauf dieses Produkts kann Ihnen und der Umwelt erheblichen Schaden zufügen! Bei Audi wären sie dann die Letzten, die sich beklagen dürften.