Woran erkennt man einen Nazi?

Die Zahl der Nazis wächst mit Abstand zum Dritten Reich. Inzwischen gilt schon als Faschist, wer seiner Tochter Zöpfe flicht und den Sohn zur Leibesertüchtigung anhält. Kein Wunder, dass wir immer neue Programme gegen rechts brauchen

Die Vorsitzende der Linkspartei in Thüringen, Susanne Hennig-Wellsow, hat in der Fernsehsendung „Markus Lanz“ erklärt, woran man Nazis erkennen kann. Eine Methode von Faschisten sei, dass sie im Fahrstuhl dicht mit dem Gesicht an einen heranrückten und dann die ganze Zeit grinsten. Es gebe aber auch das extreme Gegenbeispiel: Nazis würden einen auf ein Getränk einladen oder ihre Hilfe in Alltagssituationen anbieten. „Gehen Sie doch mit uns Kaffee trinken“, würden sie sagen, „sollen wir Sie nicht da- und dorthin mitnehmen“, solche Sachen. Auch das sei eine Methode der Nazis, erklärte Frau Hennig-Wellsow: übertriebene Freundlichkeit.

Vielleicht bin ich zu naiv, aber ich hatte mir Nazis immer anders vorgestellt. Eher so wie den Rapper Fler, der auf Frauen, die seine Texte frauenverachtend finden, ein Kopfgeld aussetzt, damit sie nicht mehr sagen, er sei frauenverachtend. Andererseits soll ja auch Adolf Hitler im persönlichen Kontakt sehr umgänglich gewesen sein. Es gibt Berichte von Zeitzeugen, die sich erstaunt äußerten, wie normal Hitler im Gespräch gewirkt habe, gar nicht wie der Schreihals aus den Parteiveranstaltungen.

Die Frage, woran man einen Nazi erkennt, ist spätestens seit Thüringen wieder aktuell. Manchmal tarnt er sich und bringt die Vertreter der demokratischen Parteien durch seine Hinterlistigkeit in Bedrängnis, wenn man den Berichten glauben darf.

Ich habe vergangene Woche einen Test gemacht. Nachdem ich bei Twitter auf einen Beitrag gestoßen war, in dem ein Journalistenkollege unter der Überschrift „Nazis raus“ eine kurze Filmsequenz von Friedrich Merz beim Biertrinken gepostet hatte, habe ich meine Leser gefragt, was ihnen zu dem Thema Nazi einfällt. Ich bekam folgende Antworten, in ungeordneter Reihenfolge: Zöpfe. Seitenscheitel. Dass man seinen Teller aufisst und beim Essen gerade sitzt. Pünktlichkeit. Doppelhaushälfte. Beim Chinesen Nasigoreng bestellen. Morgens immer Orangensaft trinken. Im Wanderverein sein.

Das mit den Zöpfen ist nicht so weit hergeholt. Die Amadeu Antonio Stiftung in Berlin hat vor Monaten eine Broschüre herausgegeben, in der sie Erziehern und Erzieherinnen Tipps gibt, wie sie sich besser gegen rechte Gesinnung im Kindergarten wehren können. Da nicht immer unmittelbar ersichtlich ist, dass ein Kind aus einem völkischen Elternhaus kommt, braucht es Spürsinn.

Ein rechtes Kind erkenne man zum Beispiel daran, dass es im Morgenkreis schweigsam und passiv sei, da rechte Eltern viel Wert auf Gehorsam legten, heißt es in der Broschüre. Außerdem seien „traditionelle Geschlechterrollen“ im Erziehungsstil erkennbar: Die Mädchen trügen Zöpfe und Kleider, die Jungs hingegen würden „stark körperlich gefordert“. Meine Tochter ist blond und heißt Greta. Sie singt glücklicherweise laut im Morgenkreis und hasst Zöpfe und Kleider.

Der Punkt ist, es gibt nach wie vor echte Nazis, also Leute, die finden, dass der Nationalsozialismus seine guten Seiten hatte und Hitler alles in allem ein famoser Politiker war. Der Verfassungsschutzbericht schätzt die rechtsextreme Anhängerschaft auf 24000 Personen. Selbst wenn man die Leute hinzurechnet, die ihre Hitler-Liebe still ausleben und deshalb nicht im Verfassungsschutzbericht auftauchen, kommen die wirklichen Nazis in Deutschland kaum über den Promillebereich hinaus.

Zu einer respektablen Größe bringen sie es erst, weil ihnen der Einfachheit halber auch alle Menschen zugeschlagen werden, die im Verdacht stehen, etwas gegen Fremde, Schwule oder die Gleichberechtigung von Frauen zu haben. Wenn von Nazis die Rede ist, sind in der Regel Rassisten und Sexisten gemeint beziehungsweise diejenigen, die man dafür hält.

Das Problem, das ich bei dieser Art von Nazi-Hochrechnerei sehe, ist, dass man die Zahl der Nazis damit groß macht, ohne dass die Nazis etwas tun müssen. Wäre ich Nazi, wäre es mir ganz recht, dass man mich überschätzt.

Interessanterweise schwankt man auch bei der versammelten Antifa, was die Gefährlichkeit des Faschismus angeht. Einerseits lebt man in ständiger Furcht, dass die braunen Horden morgen wieder durchs Brandenburger Tor ziehen. Jede Äußerung eines AfD-Politikers gilt als Beleg, dass es demnächst wieder so weit ist. Andererseits möchte man dem Gegner auch nicht zu viel an Bedeutung zugestehen. Als der „Spiegel“ vor vier Wochen den AfD-Führer Björn Höcke als „Dämokrat“ auf den Titel hob, regte sich sofort Protest. Man dürfe Höcke nicht so groß machen, hieß es. In Wirklichkeit sei er doch eine lächerliche Figur, bestenfalls ein Führerlein.

Ich bin ein praktisch veranlagter Mensch. Wenn Leute neben ihren Namen „Nazis raus“ schreiben, frage ich mich, was daraus folgen soll. Ich bin sehr für ein nazifreies Deutschland. Auf Leute, die Andersdenkenden am liebsten den Schädel einschlagen würden, kann ich gerne verzichten. Da in einer Demokratie Zwangsmaßnahmen wie die Verschickung in Strafkolonien ausscheiden, bleibt es allerdings meist beim frommen Wunsch. Wie man sieht, ist es ja noch nicht einmal möglich, Leute wie Björn Höcke daran zu hindern, mit ihrer Stimme die Wahl eines Ministerpräsidenten zum Spektakel zu machen.

Tatsächlich beschränken sich die Vorschläge gegen rechts im Wesentlichen auf die Forderung nach Auftrittsverboten im Fernsehen. Sie werden von mir nur Gutes über die Bedeutung von Talkshows hören, aber dass die AfD nun verschwindet, weil man sie nicht mehr zu „Anne Will“ einlädt, daran mag ich nicht glauben.

Das andere, was helfen soll, sind neue Anti-Extremismus-Programme. Grüne und SPD fordern ein „Demokratiefördergesetz“, das noch einmal knapp 100 Millionen Euro bereitstellen soll, zusätzlich zu den 115 Millionen Euro, die das Familienministerium schon jetzt jedes Jahr für den Kampf gegen rechts ausgibt. Auch da habe ich Zweifel, was die Wirksamkeit angeht.

Ich halte die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unter beschäftigungslosen Politologen für ein gesellschaftlich wichtiges Anliegen. Ich fürchte nur, es wird nicht helfen, Fanatiker vom Fanatismus abzuhalten. Oder meint jemand ernsthaft, dass sich der Attentäter von Halle besonnen hätte, wenn ihm der „Verein Neue deutsche Medienmacher*innen“ beizeiten erklärt hätte, wie man Menschen mit Migrationshintergrund angemessen anredet?

Deutschland hatte schon einmal ein Problem mit Nazis, 70 Jahre zurück. Damals waren die echten Nazis noch so zahlreich vertreten, dass man über eine breit angelegte Entnazifizierung nachdenken musste. Das Programm, das man auflegte, funktionierte im Grunde nach dem Prinzip „Nazis rein“: Statt die Leute an den Rand zu drängen, eröffnete man ihnen die Möglichkeit zur Rückkehr ins normale Leben. Wer bereit war, sich als guter Demokrat zu erweisen, bei dem sah man über sein Vorleben hinweg. An der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik gemessen, war es wahrscheinlich das erfolgreichste Anti-Extremismus-Programm der Welt, und das ganz ohne Geld des Familienministeriums.

Heute gehen wir den anderen Weg. Selbst die FDP gilt nach Thüringen als quasiextremistische Partei. Die FDP sei nicht mehr Teil der politischen Mitte, hat der Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, vergangene Woche bei einer Diskussion auf „Bild TV“ verkündet. Der chinesische Künstler Ai Weiwei, so etwas wie der Lars Klingbeil der Kunstwelt, hat in einem Interview die Deutschen jetzt insgesamt zu Nazis erklärt. Das ist, wenn man so will, die Maximalposition.

Wenn alle Nazis sind, dann ist es irgendwann keiner mehr.

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